Einen Sommer lang, von Kerstin Maria Pöhler
Spannende Lebensfragen
Endlich ein Buch, das zum Wesentlichen vordringt und nicht an der Oberfläche
bleibt! Leonhard, Unternehmer im Ruhestand, steht vor den Trümmern seiner
Vergangenheit und macht sich auf die Suche nach einem erfüllten Leben, nach dem
Lebensglück in einer Welt, die von Wandel und Zerfall alter Strukturen bedroht
ist. Doch er hat nicht unbegrenzt Zeit: Er ist neunundsechzig Jahre,
statistisch gesehen bleiben ihm noch fünfzehn Jahre, wenig Zeit für
Experimente. Zunächst sucht er eine Antwort in der Philosophie: Die Stoa und
Epikur sollen ihm die Wege zum guten Leben aufzeigen, doch bald stößt er an die
Grenzen seines Philosophierens: Ist die abstrakte Auseinandersetzung nicht eine
Flucht vor seiner konkreten Lebenswirklichkeit? Was hindert ihn immer wieder
daran, das als richtig Erkannte umzusetzen? Leonhard hat Glück, er begegnet
Isabel, die ihn auf seinem Weg begleitet. Die gemeinsame Auseinandersetzung
lässt ihn zu sich selbst kommen. Es ist sein letztes Lebensjahr. Das
Faszinierende: Die aufgeworfenen Fragen regen zum Nachdenken über das eigene
Leben an.
Raffinierte Erzählstruktur
Einfühlsam beschreibt die Autorin die Weltsicht eines alternden Mannes mit
einer Sprache, die durch Rhythmus und Bildhaftigkeit sofort gefangen nimmt.
Nichts bleibt so, wie es einmal war - Leonhards Leben bricht auseinander in ein
Heute und ein Damals. Frappierend ist die Erzählstruktur: Die Diskontinuität im
Erleben des Gegenwärtigen und Vergangenen spiegelt sich in den zwei
unterschiedlichen Erzählperspektiven wider. Der Icherzähler blickt kurz vor
seinem Tod auf das vergangene Lebensjahr zurück und reflektiert in Einwürfen
die zurückliegenden Geschehnisse, die aus einer auktorialen Perspektive erzählt
werden. Die Vergangenheit und die Gegenwart, das Erinnerte und das
Vergegenwärtigte stehen in einem Spannungsverhältnis.
Ein Buch, das Hoffnung gibt
Die Hauptfigur Leonhard gehört einer Generation an, die den Krieg noch erlebt
hat und dazu erzogen wurde, keine Gefühle zu zeigen, für die es
selbstverständlich war, das Private dem Öffentlichen unterzuordnen. Geredet
wurde wenig, schon gar nicht über Zwischenmenschliches, es zählten Arbeit und
Erfolg. Darüber vergaßen sie sich selbst, Ehen scheiterten, Familien brachen
auseinander. Nun stehen sie der globalisierten Welt ihrer Kinder gegenüber, die
ihren Mittelpunkt verloren hat. Aber Leonhard stellt sich der Situation, er
zieht sich nicht in Resignation und Verbitterung zurück, sondern verkörpert in
seiner Vielschichtigkeit und Individualität einen Mann, der zwar Kind seiner
Zeit ist, aber das Potential zur Veränderung und lebenslanger Entwicklung in
sich trägt. Ihm geht es darum, sein Leben neu zu begreifen, um ihm einen Sinn
zu geben. Dabei geht er das Risiko ein, zu scheitern. Die Erzählerin nähert
sich von vielen Seiten der Hauptfigur und der Ambivalenz seines Wesens an.
Brüche gibt es im Leben eines jeden Menschen, die ihn, unabhängig vom Alter,
immer mit denselben beiden Fragen konfrontieren. Bleibe ich stehen oder gehe
ich weiter? Der Stillstand bedeutet Kapitulation und führt im schlimmsten Fall
in den Tod, Bewegung bedeutet Veränderung und führt im besten Fall zu einem
erfüllten Leben. Insofern ist dieser Roman optimistisch, auch wenn die
Hauptfigur am Ende stirbt. Leonhard war auf einem guten Weg. Fazit: Ein
spannendes, tiefgründiges Buch - Lektüre dringend empfohlen!
Dr. Gerd Leidig