Agnes Hammer - Nacht, komm!

  • Milieu-Studie


    Im Laufe des letzten Jahres habe ich Leserunden für mich entdeckt. Mir gefällt das gemeinsame Lesen und Diskutieren. Mein Lieblingsbücherforum veranstaltet Solche regelmäßig, oft sogar mit Autorenbegleitung. So treffe ich oft auf Neuerscheinungen, die ich im Buchhandel wahrscheinlich übersehen hätte, wie wahrscheinlich auch „Nacht komm!“ von


    Agnes Hammer.


    Diese deutsche Jugendbuchautorin war mir bislang überhaupt kein Begriff. Die 1970 geborene Schriftstellerin wuchs zusammen mit fünf Geschwistern im Westerwald auf und studierte nach dem Abitur Germanistik und Philosophie in Köln. Danach arbeitete sie mehrere Jahre in einem Berufsbildungszentrum mit sozial benachteiligten Jugendlichen. Zurzeit ist sie als Stadtschreiberin in Gotha und arbeitet nach eigenen Angaben etwas Märchenhaftes und Unheimliches aus. (Quellen: Verlagsinfo, Wikipedia, Lies&Lausch)


    Nacht komm!


    Zu Beginn des Buches ist ein sehr nachdenklich machendes Zitat des schwedischen Schriftstellers Jonas Gardell mit Bezug auf das Märchen „Aschenputtel“ abgedruckt. Diesen Bezug greift die Autorin mit kleinen, teils recht düsteren Gedichten zu Beginn eines jeden Kapitels wieder auf. Dafür sind die Kapitel nicht einzeln als Solche bezeichnet. Nette Idee und im Nachgang passt jedes dieser Gedichte auch zum Inhalt.


    Die Hauptprotagonistin Lissy Winterhart aus Düsseldorf lerne ich kennen, als sie mit ihrer Mutter, ihrem Bewährungshelfer und ihrer Anwältin gerade aus einer Gerichtsverhandlung kommt, in der sie zu 120 Sozialstunden verurteilt wurde. Wofür genau, geht nicht hervor, aber sie scheint für ihre 17 Jahre eine sehr bewegte Vergangenheit zu haben. Sie war bereits einmal im Jugendarrest und musste auch schon mal ein Anti-Aggressionstraining besuchen. Sie murrt zwar, ob der Anzahl der Stunden, aber ganz so aggressiv wirkt sie auf mich eigentlich nicht. Sie will sich in jedem Fall zusammenreißen und macht sich auch Zukunftsgedanken.


    Durch Fürsprache ihres Bewährungshelfers kann sie die Sozialstunden in einem Altenheim in Flingern ableisten. Dort lernt sie die taffe junge Altenpflegerin Nele kennen und freundet sich mit ihr an. Lissy bewundert Nele regelrecht und freut sich total, als diese sie zu einem Badeausflug mit ihren Freunden mitnimmt. So lernt Lissy dann auch den gutaussehenden Daniel kennen und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Als Lissy dann von Nele erfährt, dass Daniel Nele seit Ewigkeiten hinterher hechelt und sie das mit Daniel eher als eine Art Spiel und nicht ernsthaft betrachten soll, gibt es einen bösen Streit, der Lissy jedoch im nächsten Moment auch schon wieder leid tut.


    Doch sie kann sich nicht mehr mit Nele versöhnen, denn am nächsten Tag ist Nele tot. Schnell steht für die Polizei fest, dass es kein Unfall war. Und nach dem Streit und ihrem Vorstrafenregister fällt der Verdacht natürlich sofort auf Lissy…


    Realismus pur


    Von Anfang an hat mich dieses Buch gefesselt. Der leicht lesbare, flüssige und wertfreie Schreibstil der Autorin und die Charaktere zogen mich in ihren Bann und ließen mich auch noch nicht los, als die letzte Seite gelesen hatte. Es steckt einfach zu viel Wahrheit in dieser eigentlich fiktiven Geschichte. Situationen, in denen ich selbst zwar nicht war, aber in die ich durchaus hätte hineingeraten können. Strudel, die ich im nahen Umfeld beobachtete und dabei kämpfte, dass mein jüngerer Sohn nicht mit hinein gerät.


    Ich persönlich gehöre bei diesem Thriller für Jugendliche ja eigentlich nicht mehr zur Zielgruppe. Wahrscheinlich hat mich daher auch nicht so sehr der darin enthaltene Kriminalfall beeindruckt, sondern eher der Realismus mit der die Charaktere dargestellt sind, die Eltern, die selbst zu lebensuntüchtig sind, um ihren Kindern Werte mit zu geben und die jungen Menschen, die Produkte der verkorksten Situation sind und dabei trotzdem noch versuchen, das Beste daraus zu machen.


    Dabei finde ich die Probleme der unterschiedlichen hier aufeinander treffenden Gesellschaftsschichten hervorragend dargestellt. Da haben wir Lissy. Der Vater ein obdachloser Alkoholiker, die Mutter shoppingsüchtig. Lissy steht zwischendrin. Sie sorgt sich unheimlich um ihren Vater und möchte ihn liebend gern aus dem Elend herausholen, muss sich aber auch darum kümmern, dass die Bestellungen der Mutter, mit denen sie sich regelmäßig finanziell übernimmt, gar nicht erst ins Haus kommen.


    Lissy hat wahrscheinlich in der krassen Phase der Pubertät, ihre schlimmen familiären Verhältnisse mit dem Schule schwänzen und verschiedenen Diebstählen verarbeitet und ist jetzt gereifter. So richtig Hilfe erwartet sie weder von den „Erwachsenen“ in ihrem Umfeld, noch hat sie Vertrauen zur Polizei. Deshalb will sie auch die Aufklärung des Verdachtes gegen sie selbst in die Hand nehmen. Die Polizisten hegen schon wegen Lissys Herkunft große Vorurteile gegen das Mädchen und Berg ist durch die Bekanntschaft mit Daniel und seinen Eltern noch mehr voreingenommen.


    Dass sich Lissy so schnell auf Sex mit Daniel eingelassen hat, fand ich persönlich jetzt zwar nicht unbedingt toll, aber auch nicht absolut verwerflich. Dass sie sich so Hals über Kopf in ihn verliebt hat und für ihn alles nur Spaß war, fand ich wesentlich verwerflicher. Hätte nur noch gefehlt, dass er damit rumprahlt, wie schnell Lissy zu haben ist. Lissy hat auch die Arbeit im Pflegeheim erstaunlich schnell und gut gemeistert.


    Daniel ist ganz anders als Lissy aufgewachsen. In einer Familie, in der zumindest Geld nie eine Rolle spielte. Aber Daniel war nicht das perfekte Kind, das sich die Eltern wünschten. Ein Kind mit Makel. Das stellte sich dann in der Schule heraus. Nach den Symptomen, die die Autorin hier mit einfließen lässt, würde ich auf Legastheniker tippen.


    Doch nach dem wie sich der junge Mann fühlt, als dumm und unzureichend, hat sich seine Familie – wohl weil es ihnen peinlich war – nie die Mühe gemacht, ihm wirklich zu helfen. Ich weiß aus Erfahrungen in der eigenen Familie, dass es für Legastheniker noch mal gesonderte Schulen gibt, in denen ihnen speziell geholfen werden kann. Wenn dies frühzeitig geschieht, ist es nicht selten, dass ein Kind mit Lese- und Rechtschreibschwäche später wieder erfolgreich eine normale Schule oder sogar das Gymnasium besuchen kann. Aber bei diesem jungen Mann scheint sich nie jemand die Mühe gemacht zu haben. Dabei wäre, es vom finanziellen Standpunkt her, bei ihm wohl wesentlich leichter als bei anderen Kindern gewesen.


    Aber auch die Nebencharaktere haben mich beeindruckt. Frankas Bemühungen, aufs Gymnasium zu kommen, finde ich richtig Klasse. Ihre Vorgeschichte kenne ich ja nur so am Rande, ob sie von ihrer Mutter Birgit viel Unterstützung zu erwarten hat, ich kann es nicht richtig einschätzen. Ich hoffe und wünsche, dass sie es schafft. Tamara, die erst 16-jährige junge Mutter von Baby Jane, meistert ihre Verantwortung meiner Meinung nach auch Super. Sie schimpft zwar immer ein bisschen über die Tante vom Jugendamt, scheint von ihr aber wirklich Lebenshilfe zu bekommen, die sie wohl von der eigenen Familie nicht zu erwarten hat.


    Die Obdachlosen. Leider gehören sie in jeder größeren Stadt mittlerweile zum Bild. Hau, Hulle und die Scheele Christiane hatten bei mir im Kopf die Gesichter von Obdachlosen meiner Stadt. In der heutigen Zeit ist es verdammt leicht abzustürzen und verdammt schwer, sich wieder hoch zu kämpfen. Wer keine Kraft mehr zum Kämpfen hat…


    Vorgestern Abend hat sich mein jüngerer Sohn mit zwei ehemaligen Klassenkameraden im nahen Park getroffen. Als er heim kam, sagte er mir, dass er 3 Radler (wir hatten noch welches von einer kürzlich stattgefundenen Festivität über) mit genommen hätte und entschuldigte sich, dass er das Leergut nicht wieder mitgebracht hat. Er sah die Flaschensammlerin (unsere Scheele Christiane) kommen und hat die 3 Flaschen für sie in den Papierkorb gestellt.


    Den Kriminalfall um Neles Tod war für mich persönlich irgendwie nur ein Nebenstrang. Natürlich wollte auch ich wissen, wer der Täter ist und das hat mich am Ende auch wirklich überrascht. Wesentlich interessanter fand ich aber die ausgesprochen gute Milieu-Studie.


    Dass es zu diesem Buch schon eine Vorgeschichte gibt, ahnte ich bereits bei den Erwähnungen zu Frankas Geschichte. So richtig ging es mir dann aber doch erst auf, als ich am Ende des Buches die Werbung und den Klappentext zu „Herz, klopf“ fand. Ich selbst kam von Anfang an gut in das Buch „Nacht komm!“ rein, so dass ich jetzt sagen kann, dass man den Vorgänger nicht gelesen haben muss, um die Geschichte zu verstehen. Ich selbst werde mir das 1. Buch aber ganz bestimmt noch zulegen, um die ganze Geschichte von Lissy Winterhart zu kennen. Dann werde ich die Bücher auch an die Jugend in meiner Familie weiter geben. Für mehr Verständnis und Toleranz!

  • Danke für Deine wirklich tolle Rezi :)
    Ich habe "bewegliche Ziele" von der Autorin gelesen und "Herz klopf" ist genauso wie "Nacht komm" auf meiner Wunschliste 8)

  • Danke Euch für das Lob. Dabei habe ich gerade festgestellt, dass ich bei nochmaliger Formulierungsänderung einen dummen Fehler am Ende der Rezi eingebaut habe :uups: : Also es muss eigentlich heißen: ... dass man den Vorgänger nicht gelesen haben muss, um die Geschichte zu verstehen.


    Grundsätzlich bin ich aber eigentlich eine Freundin von richtigen Reihenfolgen, weil es beim Nachlesen von Vorgängern häufig passiert, dass ein bisschen Spannung weg fällt, weil man gewisse Dinge schon weiß :wink:

  • Inhalt:
    Lissy ist 17 und hat schon einigen Mist gebaut. Ihr letztes “Ding” war ein raub, deswegen steht sie auch vor Gericht und bekommt dann 120 Sozialstunden im Altenheim aufgebrummt. Dort lernt sie Nele kennen, die ihr von Anfang an sympathisch ist und die sie ins Schwimmbad einlädt. Nele und Lissy gehen dorthin mit Daniel, ein Freund von Nele. Lissy verliebt sich in ihn und verabredet sich erneut mit Daniel, aber dann kommt ein Zusammenbruch von ihrem alkoholkranken Vater dazwischen. Anschließend versucht sie noch die Verabredung einzuhalten, aber Daniel ist nicht zu sehen. währenddessen stirbt Nele und am nächsten tag steht die polizei bei Lissy vor der Tür…


    Meine Meinung:
    Juchuh ich durfte wieder eine Leserunde mitmachen und ich muss gestehen es war ein versehen. Ich hatte mich dafür schon länger bei Lies & Lausch angemeldet, weil mir die Beschreibung des Buches so gut gefiel, dann habe ich Dorfbeben gelesen und abgebrochen weil es mir nicht zusagte, zu flach, zu langweilig, irgendwie komisch und habe aber vergessen mich aus der Leserunde auszutragen. Nun wurde ich ausgelost und wer A sagt muss auch B sagen und so habe ich mitgelesen und mich auch gefreut. Nur klitzekleine Bedenken waren da. Denn was ist wenn mir die Autorin generell nicht zusagt. Meine Bedenken waren unbegründet. Na ja auch wenn das Buch als Thriller deklariert ist und es wohl auch im weitesten Sinne einer ist, erzählt es für mich mehr von einem Mädchen die es gerade nicht leicht hat: Lissy. Ihr Vater obdachloser Alkoholiker, ihre Mutter kaufsüchtig, sie selbst zu Sozialstunden verurteilt und dazu verliebt. Dazu ein Mord und ihr Versuch stetig ihre Unschuld zu beweisen. Aber was tun wenn alle festgefahren sind und ihr keiner glaubt. Dafür das sie so ein schwieriges Umfeld hat und auch schon viel Mist gebaut hat ist sie sehr sozial, sie hilft Freunden und auch ihre Sozialstunden nimmt sie hin. Sie scheint wirklich geläutert zu sein. Dagegen dann der Junge aus gutem Hause bei dem das Umfeld stimmt. Wer hat da wohl eher eine Chance das ihm geglaubt wird?!? Auch wenn es Vorurteile sein sollten ich befürchte auch im realen Leben ist es selten so und so ist das Buch schon sehr nah an der Realität, wenn auch fiktiv.
    Der Schreibstil war Klasse, jeder Teenie wird es gerne lesen, so fern er/ sie liest und das ist denke ich das Wichtigste. Die Spannung habe ich ein wenig vermisst, mir war es als Thriller einfach zu flach, aber ich gehöre ja auch zu den Hardcore Fans, für jemanden der das Seichtere mag ist Nacht, komm genau das Richtige. Trotzdem habe ich es gerne gelesen, vielleicht sollte man manchmal einfach nicht an das angedachte Genre denken sondern einfach das Buch genießen

  • Lissy hat es nicht leicht: Der Vater obdachloser Alkolholiker, die Mutter chronisch überarbeitet und kaufsüchtig, sie selbst gerade zu 120 Sozialstunden verurteilt. Letztere leistet Lissy in einem Seniorenheim ab – und das ist gar nicht so schlimm, wie befürchtet, zumal sie sich dort mit der Pflegerin Nele anfreundet, die sie wiederum mit Daniel zusammenbringt, der Lissy gut gefällt. Bis es eine Leiche gibt und Lissy verdächtigt wird …


    Agnes Hammer hat viele Jahre in einer Einrichtung für sozial benachteiligte Jugendliche unterrichtet, und das merkt man der Geschichte an. Lissy ist ein glaubhafter Charakter, man kann ihr Denken und Handeln im Grunde nachvollziehen, auch wenn wohl die meisten Leser/-innen ihre Probleme nicht aus erster Hand kennen. Ein großer Teil des Romans wird aus Lissys Perspektive erzählt, so dass der Leser sie gut kennen lernt. Einige Leser/-innen werden Lissy schon kennen, denn dies ist bereits der zweite Roman, in dem sie eine Rolle spielt.


    Einige Passagen werden aus Daniels Perspektive erzählt, auch sein Leben ist nicht unproblematisch, auch wenn sein Elternhaus ganz anders ist als Lissys, seine Eltern sind gut situiert, jedoch kann Daniel ihre Erwartungen nicht erfüllen.


    Die Geschichte ist mehr als ein reiner Kriminalroman, sie ist auch Charakter- und Gesellschaftstudie, ich fand sie zudem emotional packend. Sie ist in weiten Teilen spannend und lässt sich zügig lesen. Gestört haben mich die relativ häufigen Sexszenen, die Altersempfehlung (13 – 16 Jahre) erscheint mir daher etwas zu niedrig gegriffen, ich würde eher ab 16 Jahren empfehlen. Der Kriminalfall ist gut durchdacht und bietet eine zufriedenstellende Lösung. Von mir gibt es auf jeden Fall eine Leseempfehlung.