Ein wirklich guter, wenn auch wirklich verstörender Roman.
Klappentext
Auch seinen fünften Geburtstag feiert Jack in Raum.
Raum hat eine immer verschlossene Tür, ein Oberlicht und misst 12 Quadratmeter. Dort lebt der Kleine mit seiner Mutter. Dort wurde er auch geboren. Jack liebt es fernzusehen, denn da sieht er seine "Freunde", die Cartoonfiguren. Aber er weiß, dass die Dinge hinter der Mattscheibe nicht echt sind - echt sind nur Ma, er und die Dinge in Raum.
Bis der Tag kommt, an dem Ma ihm erklärt, dass es doch eine Welt da draußen gibt und dass sie versuchen müssen, aus Raum zu fliehen ...
Die Autorin
Emma Donoghue wurde 1969 als jüngstes von acht Kindern in Dublin geboren. Sie studierte in Dublin und Cambridge.
Nach einem Aufenthalt in London zog sie 1998 nach Ontario in Kanada, wo sie mit ihrer Lebensgefährtin und ihren beiden Kindern lebt. Emma Donoghue ist Autorin zahlreicher Romane und Erzählungen.
Persönlicher Eindruck
Für den kleinen Jack ist Raum die ganze Welt:
Er ist 12m² groß, dort stehen ein Herd, eine Wanne, eine Toilette und ein Schrank, in dem er sich versteckt, wenn Old Nick kommt. Im Fernsehen sieht Jack sich immer seine Freunde, die Cartoonfiguren, an. Dora mag er besonders gerne, denn für ihn ist sie real. Nicht greifbar, aber echt.
Denn sie ist in Raum und alles, was außerhalb davon liegt, existiert doch gar nicht in echt.
Der Einstieg in Emma Donoghues Roman gestaltete sich für mich nicht ganz einfach. Man hätte am besten alles vergessen, was man bisher kannte:
Bilder der Normalität, Sozialverhalten, Grammatik.
Denn für Jack gibt es das alles nicht, zumindest nicht so. Er benutzt seine eigenen Worte und seine eigene Satzstellung, Dinge werden gebringt und alle Gegenstände im Raum ohne Artikel verwendet, denn für ihn sind sie so echt, dass sie fast Freunde sein könnten. Mummeldecke, Tür, Schrank, Fernseher, Oberlicht:
Sie alle sind mehr als nur unpersönliche Gegenstände.
Ein wenig erstaunt hat es mich dann schon, wie schnell man sich an die eigene, brillant umgesetzte Sprache des kleinen Jack gewöhnt hat. Sie war flink und der Lesefluss auch nicht sehr viel anders als bei gewöhnlichen Romanen. Denn wenn Emma Donoghues Buch vor allem eines war, dann das:
außergewöhnlich.
Dass es nicht ganz einfach war, Raum zu lesen, lag allerdings nur zu einem geringen Teil an der Sprache. Viel schwerer wog die Thematik selbst und stieß oft an die Grenzen der Dinge, die man sich mit seinem Verstand vorzustellen vermag. Nach Jacks Beschreibungen ist alles in Raum so selbstverständlich und ausreichend wie für uns die ganze Welt auch, denn er kennt es nicht anders. Dass dem Ganzen allerdings eine 7 Jahre lange Gefangenschaft vorausgeht, dass sich die durch Kinderaugen beschriebene Welt auf Missbrauch, Entführung und Verzweiflung gründet, ist für einen wachen Verstand nur schwer nachzuvollziehen, schwer einzuordnen.
Laut den Pressestimmen zum Roman ist Emma Donoghues Buch an die Geschichte von Elisabeth Fritzl angelehnt und die Bilder, die damals durch jegliche Nachrichten jagten, habe ich auch heute noch klar vor Augen. Raum stelle ich mir wie ihren Raum vor.
Eine Faszination wusste der Roman auf seine Weise auszustrahlen, denn ich habe ihn innerhalb von nur 2 Tagen ausgelesen. Gestern musste ich es allerdings ab und an aus der Hand legen, denn ich bekam das Gefühl, einfach zu lange mit Jack und seiner Ma im Raum gewesen zu sein.
Das klingt seltsam, zeugt für mich aber von den schriftstellerischen Fähigkeiten Emma Donoghues, denn sie wusste mich mit ihren Worten zu erreichen und tief zu berühren.
Ich glaube, es war das bisher verstörendste Buch, das ich jemals gelesen habe. Eines, das große Gedankenanstöße gibt. Vor allem in der Zeit nach der Befreiung von Mutter und Kind:
Die Augen, die Jack auf die Welt richtet - die wirkliche Welt außerhalb von Raum - sind großartig.
All das, was uns selbstverständlich erscheint, ist für ihn neu. Treppenstufen, Saft mit Stückchen, Regen, Schuhe, Sand und Meer.
Warum benutzen die Menschen im Draußen soviele seltsame Redewendungen und meinen eigentlich das Gegenteil, warum verhalten sie sich so und nicht anders? Jack mag keine Berührungen und er weiß nicht, warum er seltsam angeschaut wird, wenn er das Buch vom Bagger Dylan, welches im Raum schließlich ihm gehört hat, einfach aus dem Geschäft mitnimmt und in seine Dora-Tasche steckt. Dabei ist das faszinierend Schöne an ihm, dass er all diese Dinge einfach nur mit großem Erstaunen schildert, sie aber nicht als positiv oder negativ bewertet. Manchmal glaube ich, das können so nur noch Kinderaugen - die der Erwachsenen sind oft schon zu verklärt dazu.
Jack ist einfach ein kluger, herzallerliebster Geschichtenerzähler und ein guter noch dazu, wie ihm auch der betreuende Psychologe im Laufe des Romans einmal bescheinigt. Er geht einem nahe, berührt einen.
Ich glaube, Raum ist ein Buch, das einen schnell und sehr stark mitreißen kann und auf psychologischer und menschlicher Ebene noch lange nachwirkt. Mir fiel das Lesen nicht leicht, aber ich hatte immer das Gefühl, etwas Großes, Echtes, Mutiges in den Händen zu halten. Dafür ziehe ich vor der Autorin meinen Hut, Chapeau.