John Burnside - Lügen über meinen Vater

  • Zum Inhalt:


    Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie terrorisiert, der lügt und säuft, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine Gefühle und schweigt. Bis die Begegnung mit einem Fremden ihn zwingt, sich seinen Erinnerungen zu stellen und diese Geschichte von alttestamentarischer Wucht zu erzählen.
    Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in unzähligen Lügen eine Herkunft, will Anerkennung und Bedeutung. Er ist brutal, ein Großmaul, ein schwerer Trinker, ein Tyrann. Seine Verachtung zerstört alles, die Mutter, die Familie, John. Dieser hat als junger Mann massivste Suchtprobleme, landet in der Psychiatrie und erkennt in den eigenen Exzessen den Vater. Erst die Entdeckung der Welt der Literatur eröffnet ihm eine Perspektive. Nur einem Autor vom Kaliber John Burnsides kann es gelingen, eine solche, auch noch autobiographische Geschichte in Literatur zu überführen. So ist dieses Buch ein radikal wahrer Blick in die menschlichen Abgründe und zugleich eine Feier der Sprache. (Quelle: Knaus Verlag, hier gibt es eine Leseprobe aus dem Buch)



    Zum Autor:


    John Burnside wurde 1955 im schottischen Dunfermline geboren. Er studierte in Cambridge Englisch und Europäische Sprachen. Heute unterrichtet er kreatives Schreiben an der St. Andrews University in Schottland. Burnside hat bereits mehrere Gedichtbände sowie Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht, die mit diversen Preisen ausgezeichnet worden sind. Neben mittlerweile mehr als zehn Lyrikbänden sind folgende Prosa-Werke von ihm erschienen:

    • The Dumb House (1997)
    • The Mercy Boys (1999)
    • Burning Elvis (Kurzgeschichten, Erscheinungsjahr 2000)
    • The Locust Room (2001)
    • Living Nowhere (2003)
    • A Lie About My Father (2006), dt. Titel: Lügen über meinen Vater (2010)
    • The Devil’s Footprints (2007), dt. Titel: Die Spur des Teufels ( 2008 )
    • Glister ( 2008 ), dt. Titel: Glister (2009)
    • Waking Up In Toytown (2010)
    • A Summer Of Drowning (2011)



    Mein Kommentar:


    Schon wieder eine autobiographische Erzählung über eine schreckliche Kindheit? Wäre ich nicht bereits vom Autor John Burnside durch seine Bücher Glister und Die Spur des Teufels fasziniert gewesen, hätte mich genau dieser autobiographische Aspekt vom Kauf des Buchs abgeschreckt.
    Ich wusste nicht so recht, was ich erwarten sollte - die (fast schon übliche) Beschreibung der Überwindung aller möglicher Widrigkeiten in der Kindheit des Autors und der Abschluss mit einem siegreichen Triumph als Erwachsener, denn schließlich ist Burnside mittlerweile ein gefeierter Schriftsteller?


    Doch Lügen über meinen Vater liest sich glücklicherweise ganz anders, ganz unerwartet, ohne Pathos und ohne dass man als Leser irgendwelche banale Betroffenheit mimen muss. Burnside zieht den Leser hinein in einen stilistischen Zauber, der diese Biografie in eine mesmerisierende Lektüre verwandelt. (Mesmerisierend, ein Begriff, den ich auch bei seinen Büchern Glister und Die Spur des Teufels verwenden würde bzw. verwendet habe – dieses Wort trifft jedoch den Effekt ziemlich genau, den John Burnsides Prosa auf mich bewirkt). Lügen über meinen Vater mesmerisiert den Leser jedoch im Vergleich zu den anderen beiden Büchern auf eine ganz eigene, neue Weise.


    Aus dem Handlungsstrang selbst kann dieser Effekt nicht oder kaum herauswachsen: eine Kindheit im tristen Grau irgendwelcher schottischer und englischer Industriestädte, im depressiven Milieu der Arbeiterschicht, in ärmlichen Verhältnissen, unter einem versoffenen Vater, der sich die ganze Zeit als widerlicher Despot gibt und die Familie nicht zur Ruhe kommen lässt? Eine Jugend im Taumel von Drogen und Selbstzerstörung? Wohl kaum ein Element zur Erklärung einer solchen Wirkung.
    Man muss dazu sagen, dass ganz klar durchscheint, dass der Autor im Moment des Schreibens des Buches seinen Hass auf den Vater längst überwunden hat, ich möchte sagen, er hat ihm verziehen. Deshalb meine ich, dass die einzelnen Episoden der Handlung mit der väterlichen Grausamkeit nicht das Wichtige am Buch sind; die Essenz der Lektüre liegt nicht in den Widerwärtigkeiten und Widrigkeiten, die er als Kind und Jugendlicher erlebt, sondern in der überraschenden gedanklichen Ausarbeitung von John Burnside, eingepasst in unglaublich schöne, zumeist schlichte und unkomplizierte Formulierungen. Formulierungen, die mich immer wieder mit der Erkenntnis überrascht haben, wie klar, wie mühelos und gleichzeitig wie tief man den Autor in seinem gedanklichen Vollzug, den er ohne jegliche Überheblichkeit ausübt, verstehen kann.


    Obwohl ich oftmals finde, dass der Begriff „poetische Sprache“ viel zu leichtfertig für das eine oder andere Werk in der Prosa verwendet wird, sehe auch ich mich genötigt, bei Burnsides Prosa von poetischer Sprache zu reden (was in seinem Fall bestimmt nicht als abwegig zu werten ist, wenn man bedenkt, dass John Burnside bereits preisgekrönte Lyrikbände veröffentlicht hat): der Autor schafft es, im Wesen des Lesers mit wenigen Worten die fast ehrfürchtige Wahrnehmung eines Gefühls hervorzurufen, von dem dieser bisher nur die dunkle Ahnung besessen hat, dass er eine solche Empfindung in sich tragen kann.


    Die biografische Erzählung Lügen über meinen Vater endet nicht mit einem Triumph des Autors über seine Vergangenheit, sie endet an einem viel früheren Zeitpunkt. Auch hier scheint das schlichte und bedürfnislose Ego des Schriftstellers sich in aller Natürlichkeit und Logik dem Buch unterzuordnen, in dem es vorrangig um die Darstellung und das Verstehen der Beziehung zum Vater geht. Ein wunderschönes Ende, das einen faszinierend einfühlsamen und perfekt harmonierenden Abschluss zum Buch bildet, ohne beabsichtigt oder gezielt herbeigeführt zu wirken.


    Wen ich von der Lektüre nicht habe begeistern können, den kann ich nur auf den folgenden Link verweisen: eine grandios formulierte Kritik zu John Burnsides Lügen über meinen Vater aus der faz vom 18.03.2011, verfasst von Thomas Glavinic (Kritik aus faz), die mir in ihrer Formulierung beinahe ebenso gut gefällt wie das Buch selbst, und zwar nicht, weil Glavinic Burnside über alle Maßen lobt, sondern weil er in seinem Artikel den Autor und sein Buch wirklich zu verstehen scheint und vor allem die letzten beiden Absätze so überragend formuliert hat.
    Beide Autoren, Burnside und Glavinic werden in einer Wiederholung einer Sendung Literatur im Foyer auf 3sat am Sonntag, dem 14.08.2011, um 10.15 Uhr im Interview bei Felicitas von Lovenberg zu sehen sein (Literatur im Foyer). Diese Sendung könnte sich mit etwas Glück also doppelt lohnen!

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    3 Mal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • Aufgrund deiner aussagekräftigen Rezi habe ich mir John Burnsides Roman auch zugelegt und habe gerade
    begonnen zu lesen. Wieso wusste ich nichts von diesem genialen Autor?
    Ein wunderbarer Sprachstil und eine Geschichte die den Leser sofort in ihren Bann zieht.
    Beitrag wird bald folgen. Auf jeden Fall schon einmal vielen Dank an Hypocritia für die schöne Rezi. :applause:


    lg taliesin :winken:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • taliesin,
    Du hast keine Ahnung, wie mich Dein Kommentar freut! Ich habe, nachdem ich die ersten acht Seiten in der deutschen Ausgabe von Glister, meinem ersten John Burnside-Buch, gelesen hatte, mir auf amazon.de gleich die englische Ausgabe bestellt, so stark hatten damals die ersten paar Seiten auf mich gewirkt. Und jedesmal, wenn ich wieder etwas von ihm lese, bestelle ich blind einen weiteren Titel von ihm ... Allerdings habe ich auch jedesmal ein bisschen Angst, dass er mich beim nächsten Titel enttäuschen könnte - egal, ich habe mittlerweile noch die englischen Titel

    • Dumbhouse
    • The Devil's Footprints (habe ich aber schon auf deutsch gelesen als Die Spur des Teufels)
    • Living nowhere
    • Waking up in Toytown (anscheinend der zweite Teil von Burnsides Biografie)

    im SUB liegen. Und seinen neuesten Roman A Summer of Drowning werde ich mir demnächst zulegen. Ich hoffe wirklich, John Burnside kann weiterhin dieses faszinierende Element in seinen Werken aufrecht erhalten; es erscheint mir jedoch fast unvorstellbar, wie das möglich sein soll ...



    Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie Du den Rest des Buches empfindest! Liest Du die englische Fassung A Lie about my Father(die ich auch gelesen habe,) oder die oben angegebene deutsche Übersetzung?

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    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Vorhang auf für ein kleines bisschen Nabelschau...


    Burnside ist sichtlich bemüht, seiner Kindheit eine Atmosphäre irgendwo zwischen Magie und düsterem Schrecken zu verleihen. Leider gelingt ihm das nicht wirklich – nicht so, wie es zum Beispiel Neil Gaiman mit Der Ozean am Ende der Straße gelungen ist, einem meiner Lieblingsbücher des vergangenen Jahres. Oder wie es King immer wieder mal gelang.
    Der Vergleich ist natürlich nicht ganz fair; Gaiman und King schreiben Fiktion, darüber hinaus im fantastischen Bereich, Burnside hier eine Art Memoiren, oder zumindest seine Version der Wahrheit. Aber Gaiman und King schaffen in ihren Erzählungen eine Unmittelbarkeit, die Burnsides Bemühungen fehlt. Seine Geschichte liest sich angestrengt: zu angestrengt um wohlklingende Formulierungen ringend, zu offensichtlich mit literarischen Kinkerlitzchen beschäftigt, wie dem Vorgreifen auf kommende Ereignisse, das hier immer wieder auftaucht, auf sehr aufdringliche und geradezu plump erscheinende Weise. Ich konnte hier immer den Schriftsteller bei der Arbeit sehen, manchmal auch den Dichter, und das möchte ich nicht, wenn ich lese (wenige Ausnahmen bestätigen die Regel).


    Insbesondere im Prolog sowie im dritten Teil – in dem es dann um den erwachsenen Burnside und seine diversen Suchtprobleme geht - liest sich das zudem recht pathetisch und verkünstelt (und solche Geschichten lasse ich mir doch lieber von Irvine Welsh erzählen).


    Ein paar Beispiele für das, was mir sprachlich nicht gefallen hat:
    My childhood dream of a father had been just that conservative seeming type: a man who willingly accepted his self-imposed silence, his easy invisibility, and lived inside himself, in a self-validating world that had gradually become richer and quieter, like a pond in the woods that goes undisturbed for years, filling with leaves and spores, becoming a dark continuum of frog life and the slow chemistry of generation and decay.


    Manche nennen's poetisch, ich finde derartige Vergleiche unfreiwillig komisch. Ebenso wie folgende Konstruktionen:
    Forty years later I remember it all and dream the same dreams. Night after night I populate the dark.
    ...in the smoky, golden, myrrh-scented chambers of his own imagery. (Ernsthaft? :-s )


    Leider ist sich Burnside auch nicht zu schade für Klischees auf Frauenzeitschriften-Niveau:
    Because what we love in ourselves is ourselves loving. (Echt jetzt?)
    As a lifetime proposition, happiness is a discipline, no doubt; but for moments at a time, it's a piece of luck.
    Ja, er spricht da gerade über Klischees, aber warum muss er dann genauso schlimme Klischees benutzen? Warum?
    Mal ganz abgesehen davon, dass er die Metapher des Fallens wirklich zu Tode reitet.


    Nein, so eine Sprache zu lesen macht mir keinen Spaß.


    Dabei nehme ich es Burnside durchaus ab, dass er ehrlich an einer Auseinandersetzung mit seinem verstorbenen Vater interessiert ist, dass er durch seine Spurensuche in seiner Kindheit der eigenen Geschichte näher kommen will. Das Buch ist keine billige Abrechnung, keine Schuldzuweisung. Sondern vielmehr ein authentischer, persönlicher Versuch, diese Figur des Vaters zu greifen, zu begreifen.
    Der Autor hat mir nur bis zum Schluss nicht erklären können, warum das mich als Leser eigentlich interessieren soll. Und das liegt zum großen Teil daran, dass mir der Schriftsteller Burnside im Weg stand und den Blick auf den Sohn Burnside versperrt hat. Was umso tragischer ist, da seine Geschichte mir doch fast schon archetypisch für seine Generation vorkommt, zumindest in einer bestimmten sozialen Schicht. Ob ich mir da meine Eltern anschaue, die Freunde meiner Eltern oder die Eltern meiner Freunde: Die Biographien ähneln sich, nicht immer in der hier geschilderter Dramatik, aber in ihren Grundlagen der Eltern-Kind-Beziehung. Mich hätte da also irgendwas berühren sollen, aber es hat mich einfach nichts erreicht.


    :bewertung1von5::bewertungHalb:


    Der Link zur Glavinic' Kritik oben funktioniert übrigens nicht mehr, der hier geht: LINK

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño