Blaise Fortune - das Wunder
Wieder einmal stolperte ich auf einer von mir häufig besuchten Internetseite über die Ankündigung eines Buches, welches bald erscheinen würde. „Die Zeit der Wunder“ von Anne-Laure Bondoux.
Die Kurzbeschreibung
„An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen fanden, war ich zwölf Jahre alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen.
Obwohl Monsieur Ha sich alle Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto in meinem Pass wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich ein echter kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen und nahmen mich mit.
So endete meine Kindheit: plötzlich und unerwartet, an der Autobahn A4, als mir klar wurde, dass ich allein im Land der Menschenrechte würde zurechtkommen müssen.“
machte mich neugierig, die Leseprobe weckte den Wunsch, das Buch weiter zu lesen. Daher bewarb ich mich mit meinem Leseeindruck für eines der 30 ausgeschriebenen Testleseexemplare. Die Glücksfee hatte mich wieder lieb und nach der Verlosung bekam ich per Email die Nachricht, dass mein Wunsch bald in Erfüllung geht. Bevor das Buch bei mir eintraf, hatte ich noch genügend Zeit, mich erst mal im Netz über die Autorin zu informieren.
Anne-Laure Bondoux
Die 1971 in Bois-Colombes geborene Schriftstellerin, lebt heute mit ihren beiden Kindern in der Nähe von Paris. Sie gehört zu den bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautoren Frankreichs. Sie absolvierte ein Literaturstudium, schrieb Chanson-Texte und arbeitete für einen Pariser Verlag. Inzwischen widmet sie sich jedoch ausschließlich der Schriftstellerei. Etliche ihrer Romane wurden ausgezeichnet und werden mittlerweile in bis zu 20 Sprachen übersetzt.
„Manchmal muss man Geschichten erfinden, um das Leben erträglich zu machen.“
Der 20-jährige Blaise Fortune lässt seine Kindheit Revue passieren. Er lebt erst seit er 12 Jahre ist in Frankreich und wuchs im Kaukasus, also in einer Kriegs- bzw. Krisenregion, auf. Seine lebhafteste Erinnerung ist die an Gloria Bohéme. Gloria zog ihn auf und war der Mensch, der in seiner Kindheit immer für ihn da war. Sie lebten nie lange an einem Ort. Ständig auf der Flucht, vor der Miliz und dem Krieg. Ein Leben in größter Armut, mit ständigem Hunger und Freundschaften, die durch überstürzte Aufbrüche, immer wieder auseinander gingen. Ein Leben mit nur einem Ziel, nach Frankreich zu kommen.
Jeden Abend, an welch fürchterlichem Ort sie auch übernachten müssen, lässt sich Blaise – oder Koumaïl, wie er im Kaukasus genannt wird – von Gloria seine Geschichte erzählen. Sie fand ihn als Baby bei einem Zugunglück. Seine Mutter hätte sich das Rückgrat gebrochen und Gloria nahm ihn, auf deren Wunsch hin, an sich. Später habe sie seine Mutter Jeanne Fortune in den Krankenhäusern nicht mehr wieder gefunden. Deshalb kümmere sie sich um ihn, bis sie nach Frankreich kommen und seine Mutter finden.
Doch auf dem Weg dahin verliert er Gloria. Die französischen Zollbeamten finden ihn schlafend in einem Schweinetransport. Ganz allein…
Ein Kriegs-Kinderschicksal
Kaum angefangen war ich von der Lektüre gefesselt und konnte nicht aufhören, bis ich das Buch ausgelesen hatte. Ich las in einfacher, doch nachhaltig beeindruckender Sprache von größter Armut und wie die Menschen damit umgehen. Ich las von großer Hilfsbereitschaft, Freundschaft, Leid und den Kampf ums nackte Überleben. Dabei dachte wesentlich mehr als einmal, wie gut es dagegen selbst den ärmsten Menschen in unserem Land geht! Dennoch ist die Geschichte eher wertfrei geschrieben und keinesfalls mitleidheischend. Die Dinge sind eben so, wie sie sind und daraus muss einfach das Beste gemacht werden. Nur mit Hoffnung im Herzen kann man überleben. Ein Blick über den Tellerrand hinaus!
Bei allem Elend schaffen es Kinder und Erwachsene immer wieder, sich über kleine Dinge zu freuen und träumen von einer besseren Zukunft. Diese möchte Gloria für Koumaïl-Blaise in jedem Fall. Statt sich von Rückschlägen ins Boxhorn jagen zu lassen, schafft sie es jedes Mal aufs Neue, für sich und das Kind eine Bleibe und etwas zu Beißen zu finden. Den Grund dafür ahnte ich schon bis zur von der Autorin gewollt preisgegebenen Auflösung einige Male. Allerdings minderte das in mir keinesfalls den Drang weiter zu lesen.
Als Blaise dann mutterseelenallein in Frankreich ist, sagt er nichts als die Wahrheit. Die Wahrheit, die er kennt, seit er sich erinnern kann. Anfangs hat er das Gefühl vor Sehnsucht nach Gloria sterben zu müssen. Durch die Kinderrechtskonvention, die besagt, dass ein verlassener Minderjähriger unter besonderem Schutz der Republik Frankreich steht, bekommt er in einem Heim so etwas wie ein Zuhause. Die Schule lenkt ihn von seiner größten Sehnsucht nach Gloria ab und mit seinen Klassenkameraden – verlassene Kinder aus allen möglichen Ländern unter dem gleichen Migrationshintergrund – bildet er so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft.
Der Wunsch, seine Mutter zu finden, verblasst mit der Zeit, die Sehnsucht nach Gloria bleibt. Nun ist er französischer Staatsbürger mit echtem französischem Pass und auf dem Weg nach Tiflis, zu der Frau, die ihn mehr als die Hälfte seines Lebens begleitete. Auf dem Weg Antworten auf die Frage zu finden, was an jenem Tag, als seine „Kindheit“ endete, passierte, warum sie auf einmal nicht mehr da war. All das wird er erfahren und noch viel mehr.
Ein Buch, welches meiner Meinung nach in den Schulunterricht aufgenommen werden sollte. Denn obwohl es vor allem im Kaukasus und in Frankreich spielt, ist die darin behandelte Problematik sehr wohl international und auch auf unser Land adaptierbar. Jüngere Geschichte aus der Krisenregion Kaukasus, stellvertretend für jedes andere Kriegs- und Krisengebiet, erzählt aus der ICH-Perspektive eines Kriegskindes. Leicht und flüssig zu lesen, nicht ganz so leicht verdaubar, aber hundertprozentig lesenswert!
Übersetzung: Maja von Vogel
192 Seiten