Kenzaburo Oe, Eine persönliche Erfahrung

  • Kenzaburo Oe, geboren am 31. Jänner 1935, studierte an der Universität von Tokio französische Literatur und schloss 1959 mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre ab. Kenzaburo Oe fing bereits während seiner Studienzeit zu schreiben an und veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten und bereits 1958 seinen ersten Roman. Für eine seiner ersten Kurzgeschichten wurde er mit dem begehrten Akutagawa-Preis ausgezeichnet. Neben mehreren anderen Preisen wie zum Beispiel dem Tanizaki-Preis wurde Kenzaburo Oe der Literaturnobelpreis (1994) verliehen.


    Oe schloss sich in den frühen 60er Jahren der Anti-Atombomben-Bewegung und der japanischen Friedensbewegung an. In den 60er Jahren wurde auch sein erster Sohn Hikari mit einer Gehirnhernie geboren, einer sehr schweren Missbildung. Während den ersten sechs Lebensjahren gab es von Seiten des geistig schwer behinderten Sohnes Hikari kein Anzeichen eines Versuchs, mit der Außenwelt kommunizieren zu wollen. Heute ist Hikari Oe trotz seiner schweren Behinderung ein bekannter japanischer Komponist.


    Das 1964 erschienene Buch "Eine persönliche Erfahrung" hat autobiographische Züge und handelt von einem jungen Mann Ende zwanzig, der den kindischen Spitznamen Bird trägt. Bird träumt schon lange von einer Reise nach Afrika. Während seine Frau mit Wehen im Krankenhaus liegt, kauft Bird aus Trotz eine Straßenkarten von Afrika, obwohl sein Traum mit der bevorstehenden Geburt seines ersten Kindes in weiter Ferne gerückt ist. Für eine solche Reise hat Bird als Lehrer, Ehemann und Vater einfach zu wenig Geld. Dafür widersteht er der Versuchung, sich mit Whiskey volllaufen zu lassen, während er auf den Anruf seiner Schwiegermutter wartet.


    Als dann endlich der erwartete Anruf kommt, hört er kein Anzeichen von Freude in der Stimme der Schwiegermutter und wird gebeten, sofort ins Krankenhaus zu fahren. Dort erfährt er den Grund dafür: sein Sohn ist mit einer schweren Missbildung, einer Gehirnhernie, auf die Welt gekommen. Sein Kind sieht wie ein Monster aus, so, als ob es zwei Köpfe hätte. Die Ärzte sprechen auch nur von einem „Ding“. Wenn das Kind überleben sollte, so die Ärzte, dann würde es immer behindert bleiben und nur das Bewusstsein einer Pflanze haben. Das Kind wird in eine Spezialklinik verlegt, wo man es, wenn es kräftig genug ist, operieren kann. Nach Meinung des die Fahrt zur Spezialklinik begleitenden Arztes, wäre es aber das beste, wenn das Kind bald sterben würde.


    Dort eröffnet ihm ein Oberarzt, dass man das Kind zwar nicht töten könne, aber ihm immerhin Zuckerwasser statt Milch verabreichen könne, damit es von selbst innerhalb weniger Tage sterben würde. Dies sieht Bird als die Chance, doch noch dem Unglück entrinnen zu können. Bird weiß nicht, wohin er jetzt gehen kann, außer zu einer alten Freundin Himiko, wo er sich mit Whiskey besäuft. Am nächsten Tag erscheint er betrunken zum Unterricht, erbricht vor seinen Schülern und verliert seinen Job. Er schläft mit Himiko, aber er ekelt sich davor. Bird sinkt so tief wie noch nie in seinem Leben. Doch Himiko bietet ihm an, mit ihm seine Träume zu verwirklichen, die Reise nach Afrika, wenn er sich nach dem Tod seines Kindes von seiner Frau scheiden lässt.


    Kenzabo Oe erspart dem Leser nichts. Ich habe selten so ein erschütterndes Buch gelesen. Die vielen anschaulichen Schilderungen wirken extrem lebensecht und selbst Birds Erbrechen vor seinen Schülern wird so beschrieben, dass man ihm schon fast dabei zusehen kann. Das Schlimmste aber, was Oe dem Leser zumutet, sind keineswegs diese Äußerlichkeiten, sondern die dunkle Seite Birds, die er schildert, denn Bird ist an sich kein böser und gewissenloser Mensch, aber ein sehr unreifer Mensch, dem eine Bürde viel zu groß erscheint, um sie tragen zu können. Diese Bürde will er auf jeden Fall vermeiden, egal wie. Er schreckt nicht einmal davor zurück, sein Kind langsam verhungern zu lassen. Bird begreift zwar intellektuell, dass sein Verhalten unmoralisch ist, doch er verdrängt diese Erkenntnis, verstrickt sich immer mehr und fällt dabei immer tiefer. Dies wird so unmittelbar geschildert, dass der Leser hineingezogen wird und irgendwann kaum mehr in der Lage ist, Bird einfach nur zu verurteilen.


    Dieses Buch ist Kenzaburo Oe's bekanntestes Werk und ist unbedingt zu empfehlen!

    ...uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn... (Friedrich Hölderlin)

  • Wer sich über Kenzaburo Oe informieren möchte, kann mit den folgenden Seiten beginnen:
    [list][*]Auf der seinem Literaturnobelpreis gewidmeten Seite gibt es eine Biographie über Kenzaburo Oe, sowie seinen Nobel-Vortrag "Japan, The Ambiguous, and Myself".
    [*]Am Institute of International Studies, UC Berkeley, gibt es eine recht interessante Interviewserie Conversations with History. Am 16. April 1999 wurde Kenzaburo Oe interviewt:


    http://globetrotter.berkeley.edu/people/Oe/oe-con0.html[/list:u]

    ...uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn... (Friedrich Hölderlin)

  • diogenes


    Obgleich ich dir vollkommen zustimme, daß es ein wirklich empfehlenswertes Buch ist, würde Deine Rezension vielleicht etwas mehr zum Lesen verleiten, wenn Du nicht so viel vom Inhalt und besonders vom Ende des Buches verraten würdest. :wink:


    Gruß
    Ute

  • Hallo Ute!


    Zitat

    Original von Ute



    Obgleich ich dir vollkommen zustimme, daß es ein wirklich empfehlenswertes Buch ist, würde Deine Rezension vielleicht etwas mehr zum Lesen verleiten, wenn Du nicht so viel vom Inhalt und besonders vom Ende des Buches verraten würdest. :wink:


    Da ist etwas dran! Ich habe jetzt zumindest den Absatz über das Ende des Buchs gelöscht. Vielleicht werde ich die Rezension noch einmal überarbeiten...


    Danke für den Tipp!


    Viele Grüße,
    diogenes

    ...uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn... (Friedrich Hölderlin)

  • Zitat

    Original von diogenes



    Ich habe jetzt zumindest den Absatz über das Ende des Buchs gelöscht.


    Danke!!! Das Buch klingt übrigens wirklich spannend!

    Liebe Grüße,
    Azrael


    Aktuelles Buch: "Schwarz zur Erinnerung" von Charlene Thompson

  • "Eine persönliche Erfahrung" ist ein Buch, das mich sehr stark berührt hat und zwar obwohl ich wußte wie es ausgeht (ich glaube in meiner Ausgabe stand das im Klappentext). Schon die Schilderung seines ersten Gesprächs mit dem Arzt, der seinen Sohn nur als "Ding" bezeichnet, ist erschütternd.


    Hast Du auch etwas anderes von Oe gelesen und kannst es empfehlen, diogenes?


    Viele Grüße,


    Katia

  • Hallo Katia!


    Zitat

    Original von Katia


    Hast Du auch etwas anderes von Oe gelesen und kannst es empfehlen, diogenes?


    Ich habe mir, weil mich dieses Buch so berührt hat, praktisch alle Taschenbücher von Oe gekauft, aber noch nicht gelesen. Den Inhaltsangaben nach interessieren mich alle seine Bücher, aber auch die anderer japanischer Autoren (wie Die Eiswand von Yasushi Inoue - ebenfalls noch nicht gelesen).


    Von Oe möchte ich als nächstes Reißt die Knospen ab... lesen, weil mich das der Inhaltsangabe nach sehr interessiert. Auf Amazon findest Du die Inhaltsangabe (siehe Link):


    Zitat

    Original von Amazon


    Japan während des Zweiten Weltkriegs. Eine Gruppe heranwachsender Jungen soll aus einer Erziehungsanstalt wegen drohender Bombenangriffe evakuiert werden. Man bringt sie in ein entlegenes Bergdorf. Aus Angst vor einer Seuche fliehen die Dorfbewohner aber und versperren den Jungen den einzigen Fluchtweg über eine Schlucht. Nach anfänglicher Beklemmung beginnt die Gruppe - ähnlich wie in Goldings Herr der Fliegen - ihr Überleben zu organisieren. Sie brechen in die verlassenen Häuser ein, versorgen sich mit Lebensmitteln und ergreifen vom Dorf Besitz. Doch dieser anarchisch-paradiesische Zustand einer solidarischen Kindergemeinschaft findet ein jähes Ende, als die Dorfbewohner zurückkehren. Sie etablieren erneut ihr Erwachsenenregime.


    Viele Grüße,
    diogenes

    ...uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn... (Friedrich Hölderlin)

  • Hallo diogenes,


    Danke für den Tip, das hört sich interessant an. Meine Lieblingsbuchhandlung hatte nur "Der stumme Schrei" vorrätig, und das hat mich spontan nicht angesprochen, "Reißt die Knospen ab" klingt da besser... Habe mir bei amazon "Die Eiswand" mal angeschaut, da ich früher mal viel geklettert bin, ist das bestimmt auch was für mich!


    Bisher beschränken sich meine (durchweg positiven) Erfahrungen mit japanischen Autoren auf Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und eben Oe.


    Kleine Neugierde am Rande: Dein Avatar ist ja ein hübscher Achterknoten, bist Du auch Kletterer, oder Mathematiker, oder einfach nur weil Du ihn hübsch findest?


    Viele Grüße,


    Katia

  • Hallo Katia!


    Zitat

    Original von Katia



    Meine Lieblingsbuchhandlung hatte nur "Der stumme Schrei" vorrätig, und das hat mich spontan nicht angesprochen, "Reißt die Knospen ab" klingt da besser... Habe mir bei amazon "Die Eiswand" mal angeschaut, da ich früher mal viel geklettert bin, ist das bestimmt auch was für mich!


    Oes "Der stumme Schrei" ist allerdings sicherlich eines seiner besten Bücher. Ich habe es aber auch noch nicht gelesen. Vorhin bin ich mit dem ersten Kapitel von "Reißt die Knospen ab" fertig geworden. Sofern man das nach den ersten 30 Seiten schon sagen kann, dürfte mir dieses Buch auch sehr gut gefallen. Wenn ich damit fertig bin, werde ich vermutlich wieder einmal eine Rezension schreiben.



    Zitat

    Original von Katia



    Kleine Neugierde am Rande: Dein Avatar ist ja ein hübscher Achterknoten, bist Du auch Kletterer, oder Mathematiker, oder einfach nur weil Du ihn hübsch findest?


    Kletterer bin ich keiner, gehe aber gerne wandern. Ich finde meinen Avatar schön (habe ihn sogar selber mit 3d studio max gemacht) und Mathematik habe ich studiert, arbeite jedoch in einem anderen Bereich. Es ist übrigens kein Achterknoten, sondern ein Torus-Knoten (also etwas Mathematisches).


    Viele Grüße,
    diogenes

    ...uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn... (Friedrich Hölderlin)

  • Zitat

    Original von diogenes



    Kletterer bin ich keiner, gehe aber gerne wandern. Ich finde meinen Avatar schön (habe ihn sogar selber mit 3d studio max gemacht) und Mathematik habe ich studiert, arbeite jedoch in einem anderen Bereich. Es ist übrigens kein Achterknoten, sondern ein Torus-Knoten (also etwas Mathematisches).


    Dachte ich mir doch fast, dass da ein Mathematikstudium dahinter stecken muss ;) Habe auch Mathematik studiert.... Bin schon gespannt auf Deine Rezension, bei meiner nächsten amazon-Bestellung wird sicher etwas von Oe mit im Einkaufskorb landen.


    Katia

  • Hallo Katia!


    Zitat

    Original von Katia



    Bin schon gespannt auf Deine Rezension, bei meiner nächsten amazon-Bestellung wird sicher etwas von Oe mit im Einkaufskorb landen.


    Hier ist sie: http://www.buechertreff.net/ftopic6679.html.


    Ich habe nur vergessen, mich einzuloggen :oops: Mir hat dieses Buch sehr gefallen.


    Viele Grüße,
    diogenes

    ...uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn... (Friedrich Hölderlin)

  • Übrigens gibt es eine Art Fortsetzung zur "Persönlichen Erfahrung"! Das Buch liegt noch auf meinem SUB (bei Jokers ergattert, vielleicht gibt es es da noch, leider ist es regulär im Moment nicht erhältlich), ich werde berichten, wenn ich es gelesen habe...


    Katia

  • Während seine Frau in den Wehen liegt, irrt Bird, ein junger Mann Mitte 20, durch die Stadt. Er kämpft mit der Befürchtung, dass mit der Geburt eines Kindes seine Jugend nun endgültig vorbei ist und sein Traum, nach Afrika zu reisen, in unerreichbare Ferne rückt. Der Griff zur Whiskeyflasche erscheint ihm sehr verlockend, doch er hatte dem Alkohol abgeschworen.


    Seine Befürchtungen verhärten sich, als er erfährt, dass sein Sohn mit einer schweren Missbildung des Gehirnes geboren wurde. Unfähig, sich mit diesem Schicksal auseinanderzusetzen, völlig überfordert und erfüllt von Gefühlen der Scham, beginnt für Bird eine Flucht vor den Tatsachen. Er gibt sich dem Alkohol hin, beginnt eine heiße Affäre mit einer früheren Freundin und wartet auf den Anruf des Krankenhauses, das ihm den Tod des Kindes mitteilt und ihn so aus diesem Alptraum befreien soll.


    Beeindruckend wird die Entwicklung des anfangs unreifen, völlig überforderten Bird geschildert. Seine Gedankengänge werden schonungslos, fernab von moralischen und ethischen Grundsätzen, aber dennoch sehr nachvollziehbar, dargelegt. Unfähig, Verantwortung zu übernehmen, unterstützt von den unglaublichen Aussagen der Ärzte, die das Baby als „Ding“ bezeichnen und sich schon auf die Autopsie freuen, versucht Bird zu entfliehen. Der Leser begleitet ihn auf diesem Ego-Trip, denn er sieht nur sein Leben betroffen, sieht seine Zukunft in Scherben. Er verliert kaum einen Gedanken daran, wie es seiner Frau geht und schon gar nicht, dass vielleicht der arme Wurm seine Unterstützung braucht.


    Ich möchte das Verhalten des Bird nicht werten, es fällt mir aber schwer, Verständnis für ihn aufzubringen, da Menschen, die sich vor Verantwortung drücken, den Egoismus nicht zurückstellen können und jeder Schwierigkeit aus dem Weg gehen, nicht meine Sache sind. Es ist aber eine Sache, eine solche Situation als Außenstehender zu betrachten und eine andere, selbst betroffen zu sein. Es ist mir aber bewusst dass es keine Selbstverständlichkeit ist, gesunde Kinder zu haben.
    Oe beschreibt dieses Buch als autobiografisch, er erzählt schonungslos und bricht mit Tabus, ich finde dieses Buch mutig und ehrlich.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)