Christine Lavant – Die Bettlerschale

  • Gedichte


    Original: Deutsch, 1956


    Erde, wenn du zwei Lippen hättest
    und eine Zunge und eine freundliche Stunde,
    würdest du dann mit mir reden mögen,
    auch jetzt noch, wo ich mein Stümpfchen Verstand
    wütend unter die Schneeflocken trete?
    Erde, würdest Du lachen?
    Ich habe mit deiner Freundschaft geprahlt
    und erzählt, dass ich oft bei den Wurzeln wohne
    und mit den Steinen über das Wetter rede
    und imstand bin, dein Blut zu besprechen.
    Das Lügen – weißt du – war wie eine Krankheit,
    die man oft vor großen Seuchen bekommt,
    und mein Herz hat mir immer alles geglaubt.
    Jetzt ist es verseucht und schreit bloß nach dir,
    will früher nicht sterben, will keinem sonst sagen,
    was es im Sinn hat, womit es sich quält
    und wen es am Ende noch segnen möchte.
    Erde, nimm meine Zunge an,
    Erde, bitte, - und meine Lippen!
    Rede unter den Schneeflocken her
    Von der warmen währenden Liebe.


    ZUM BUCH:
    Ich habe Mühe, einem Gedichtband in einer Inhaltsangabe, und überhaupt, gerecht zu werden. Da stoße ich in meiner Ausgabe dieses wunderbaren, einschneidenden Bändchens auf eine im Klappentext wiedergegebene Beurteilung aus einer Zeitschrift, die ich sehr bezeichnend und gut finde (selbst wenn uns die Sprache dieses Kommentars heute etwas weit weg vor kommen sollte):


    „...Aus dem schmalen Chor all jener, die zwischen den Rissen des Himmels das Antlitz des Schöpfers erspähen wollen, die wunden Herzens wahrhaft und ohne Künstlichkeit, aber mit hoher, durchgeistigter Kunst singen und Natur ins Maß des Göttlichen stellen, ragt immer deutlicher diese Österreicherin. (...) Hier spricht eine Einsame, eine mit ihrem Gott Ringende, eine Liebende, die um das Leid als Liedlösendes weiß. Reim und knorrige, in zauberischer Sprache hervorwallende Bilder vereinen sich; ein Rhythmus persönlicher Bekenntnisse, die uns alle angehen, weil sie aus der Kraterlandschaft des Menschseins kommen, fesselt...“(Quelle: „Die Besinnung“,Köln (noch nie gehört, doch muss wohl eine Zeitschrift aus der Mitte der 50iger gewesen sein?))


    Kennengelernt hatte ich die 1915 geborene Christine Lavant durch ein autobiographisches, aufrüttelndes Zeugnis eines Aufenthaltes in der Psychiatrie, in den 30iger Jahren. Dieses Buch wurde hier besprochen: Christine Lavant - Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus . Danach war mein Interesse geweckt: von dieser zutiefst gezeichneten Frau (man schaue sich mal irgendwo ein Bild von ihr an, oder sehe den Holzschnitt auf der oben verlinkten Titelseite!) konnte man nur Verse erwarten, die mit dem „eigenen Blut“ geschrieben sind.
    Und so sollte der vorgewarnte Leser hier auch keine rosa Betörungen erwarten. Er findet vielmehr eine Frau, die ihren Schmerz ausbreitet, in immer neuen Formen, und sich dem Leben, Gott öffnen will wie eine Bettlerin, wie eine Bettlerschale: erwartend und empfänglich.


    Anscheinend schwer erhältlich, doch frage an mal bei einer Bibliothek nach?


    ZUR AUTORIN:
    Christine Lavant, eigentlich Christine Habernig, geb. Thonhauser (* 4. Juli 1915 in Groß-Edling bei St. Stefan im Lavanttal, Kärnten; † 7. Juni 1973 in Wolfsberg) war eine österreichische Künstlerin und Schriftstellerin.
    Christine Lavant wurde als neuntes Kind des Bergarbeiters Georg Thonhauser und seiner Frau Anna geboren. Das Neugeborene hatte fünf Wochen Skrofeln auf Brust, Hals und im Gesicht und erblindete beinahe. Mit drei Jahren (1918 ) kam eine erste Lungenentzündung hinzu, die später beinahe jedes Jahr wiederkehren sollte. Bei einem Krankenhausaufenthalt 1919 wurde das Kind bereits als nicht mehr lebensfähig angesehen.
    1931 kamen die ersten schweren Depressionen auf, die die Heranwachsende letztlich nötigten, bei den Eltern zu bleiben. 1939 heiratete sie den um 30 Jahre älteren Josef Habernig.
    1945 begann sie erstmals wieder zu schreiben. Am 7. Juni 1973 verstarb Christine Lavants im Landeskrankenhaus Wolfsberg nach einem Schlaganfall.
    (Quelle mit noch mehr Infos zum Leben und Werk bei: http://de.wikipedia.org/wiki/Christine_Lavant )



    Gebundene Ausgabe: 167 Seiten
    Verlag: Müller (Otto), Salzburg; Auflage: 6. A. (1986)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3701301883
    ISBN-13: 978-3701301881

  • Tom, hast du das ihn einem durchgelesen? Ich bin bei Lavants Gedichten nach zwei immer so geschafft, dass ich eine Pause einlegen muss.
    Liebe Grüsse Mara

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Tom, hast du das in einem durchgelesen? Ich bin bei Lavants Gedichten nach zwei immer so geschafft, dass ich eine Pause einlegen muss.


    Nein, so etwas lese ich nicht wie ein Prosastück! Höchstens eins bis drei Gedichte am Tag: deswegen findest Du derlei Bücher für Wochen, manchmal Monate in meiner "Ich lese gerade" -Angabe. Einen Gedichtband lese ich mit äußerstes Zurtückhaltung.


    Und Du hast Recht: Lavant ist anstrengend, das geht an die Nieren, nicht wahr? A
    ber toll, dass sie hier jemand auch kennt! :thumleft:

  • Aber toll, dass sie hier jemand auch kennt! :thumleft:

    Für eine Österreicherrin ist das sowas wie Pflichtlektüre :wink: nein Spass beiseite, ich hab sie durch meine Kinder kennengelernt die haben Gedichte von ihr in der Schule gelesen und ich hab immer die Schullektüre von beiden mitgelesen.
    Liebe Grüsse Mara

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:


  • Für eine Österreicherrin ist das sowas wie Pflichtlektüre :wink: nein Spass beiseite, ich hab sie durch meine Kinder kennengelernt die haben Gedichte von ihr in der Schule gelesen und ich hab immer die Schullektüre von beiden mitgelesen.


    Ich muss zugeben, dass ich bis vor circa zwei, drei Jahren und dem erwähnten, hier ebenfalls renzensierten Buch von ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie noch nicht von ihr gehört hatte...


    Toll, wenn sie bei Euch in der Schule gelesen wird. Allerdings - wie wir ja sagten - wahrscheinlich keine allzu leichte Kost...
    (Heute tauchte eine Rezi von Wolfgang Borchert auf. In seinen Prosastücken und Gedichten hat er eine Sprache, die einem den Atem nimmt. Ich bin froh, wenn er noch in der Schule gelesen wird!)

  • Mir sagt der Name Christine Lavant auch von der Schule was, kann mich aber nicht mehr erinnern, was genau wir von ihr gelesen haben, ich denke mal, es waren Gedichte. Ob sie heute noch Thema in der Schule ist? Ich weiß es nicht. Meinen Kindern lief sie bislang noch nicht über den Weg. Ich werde aber berichten,wenn es so weit ist.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • ... merkwürdig, nicht? Sie ist wohl (hier in Deutschland) kaum bekannt, obwohl das auch täuschen kann. Danke also, Tom, für den Eingangspost. Gibt mir, und hoffentlich auch anderen, einen Grund, mich mal richtig mit ihr zu beschäftigen. Ich kannte bisher nur vereinzelte Gedichte.

  • Und ich sah gerade in einem interessanten Artikel beim Deutschlandradio (siehe: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1859029/ ), dass sich ein Verlag ihrer Werke angenommen hat, und sie langsam wieder herausgeben will! Gute Nachricht! Hier geht es zunächst um ein Prosastück: "Das Wechselbälgchen":


    Ihre ganz unvergleichliche Erzählung "Das Wechselbälgchen" jetzt wieder lieferbar.Zitha ist vom Schicksal geschlagen. Sie ist das uneheliche Kind einer Bauernmagd, geistig zurückgeblieben und körperlich entstellt. Die Leute im Dorf, die so katholisch wie abergläubisch befangen sind, haben für das traurige Schicksal des Mädchens eine einfache Erklärung: Böse Geister haben der unglücklichen Magd nach der Geburt das Kind geraubt und ihr stattdessen ein verhextes Mädchen untergeschoben. Einen Wechselbalg, wie er aus Sagen und Gespenstergeschichten der Alpengegenden bekannt ist. Er werde das ganze Dorf ins Unglück stürzen, heißt es. So nimmt der kollektive Wahn seinen Lauf, gegen den auch die Liebe der Mutter nichts auszurichten vermag. Schließlich wird dem Mädchen sogar nach dem Leben getrachtet.
    Christine Lavant beschreibt die Ausgrenzung einer Schwachen aus der dörflichen Gemeinschaft mit großer Eindringlichkeit. Die erst 1998 posthum veröffentliche Erzählung steht auch für die Gefährdung unserer Zivilisation, die sich nicht zuletzt zu Lebzeiten Christine Lavants in der "Vernichtung unwerten Lebens" durch die Nationalsozialisten gezeigt hat.
    Nachdem "Das Wechselbälgchen" längere Zeit vergriffen war, erscheint die Erzählung nun erstmals im Wallstein Verlag, herausgegeben von Klaus Amann, der eine kommentierte Werkausgabe von Christine Lavant vorbereitet.

  • Und ja! Der erste Band einer Gesamtausgabe liegt nun vor, siehe Verlinkung! Sämtliche zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Gedichte! Eine gute Nachricht. Und angesichts derUnauffindbarkeit ihrer Werke, bzw der Preise für die Einzelausgaben auch relativ okay vom Preis her.


    "Christine Lavant schrieb Gedichte, die in ihrer sprachlichen Eigenwilligkeit und existentiellen Zerrissenheit für Thomas Bernhard zu den »Höhepunkten der deutschen Lyrik« zählen. Er beschrieb ihre Lyrik als »das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen«.Lavant selbst sah ihre Kunst als »verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar« und war sich der poetischen Kraft ihrer Gedichte dennoch gewiss: »Wenn ich dichtete, risse ich jede Stelle Eures Daseins unter Euren Füßen weg und stellte es als etwas noch nie von Euch Wahrgenommenes in Euer innerstes Gesicht«. Der erste Band der vierbändigen Werkausgabe versammelt alle zu Lebzeiten publizierten Gedichte in einer komplett neu edierten Fassung. Er enthält neben den drei Gedichtbänden, die Lavants Ruhm begründet haben (»Die Bettlerschale«, »Spindel im Mond«, »Der Pfauenschrei«), auch das Frühwerk »Die unvollendete Liebe«, Lavants späte, in Liebhaberausgaben und Sammelbänden veröffentlichte Lyrik (»Sonnenvogel«, »Wirf ab den Lehm«, »Hälfte des Herzens«) sowie zahlreiche verstreute Gedichte, die erstmals wieder zugänglich gemacht werden." (amazon.de)

    Siehe auch: http://www.deutschlandfunk.de/…ml?dram:article_id=301533

  • Christine Lavant wird 100! Vielleicht von daher die angestrebte Veröffentlichung des Gesamtwerkes (siehe oben)? Ansonsten nun zwei Erscheinungen dazu:


    Das Kind


    und:Drehe die Herzspindel weiter für mich: Christine Lavant zum 100.
    von Klaus Amann (Herausgeber), Fabjan Hafner (Herausgeber), Doris Moser (Herausgeber)