Dan Simmons - Drood

  • Der berühmte englische Dichter Charles Dickens ist einer der wenigen Überlebenden bei einem schweren Zugsunglück. Als er, selber unter Schock stehend, bei der Bergung der Opfer hilft, gesellt sich eine unheimliche Gestalt zu ihm, die sich als Drood vorstellt. Seit dessen Erscheinen sterben auch die weniger schwer Verletzten ganz plötzlich, so Dickens Eindruck. Um dieses schreckliche Ereignis besser verarbeiten zu können, weiht er seinen Schriftstellerkollegen Wilkie Collins in seine Erlebnisse ein, und die beiden Freunde machen sich auf die Suche nach Drood. Ihr Weg führt sie in die Unterstadt Londons, der schaurige Ort unter der Stadt, an dem diejenigen Zuflucht finden, die nicht einmal in den Elendsvierteln überleben können. Hier werden die beiden Männer in uralte ägyptische Rituale eingeführt, und Wilkie Collins findet in den Opiumhöhlen Linderung seiner von der Gicht verursachten Schmerzen. Schließlich gelingt es Dickens, zu Drood vorzudringen, der ihn zu seinem persönlichen Biographen erwählt und ihn beauftragt, über seine Lebensgeschichte ein Buch zu schreiben. Der Autor verspürt jedoch nicht die geringste Lust Droods Aufforderung nachzukommen und entzieht sich dieser Aufgabe durch eine Lesetournee nach Amerika. Doch Drood hat bereits Ersatz gefunden, und Wilkie Collins sollte nur zu bald erfahren, was es heißt, in Droods Einflußbereich zu geraten. Doch wer ist dieser unheimliche Geselle eigentlich? Handelt es sich um eine real existierende Person, oder ist er womöglich nur eine Fantasiegestalt des opiumumnebelten Gehirns von Wilkie Collins?


    Am Ende des Romans erhält der Leser eine eindeutige Antwort auf diese Frage, doch ist der Weg bis dahin sehr weit und zeitweise auch recht mühsam. So gab es vor allem auf den ersten 500 Seiten durchaus einige Längen zu überwinden. Erst ab der Hälfte gewinnt die Geschichte jedoch an einer dramatischen Dynamik, die mich völlig in ihren Bann gezogen hat. Des Rätsels Lösung ließ zwar ein Gefühl der Enttäuschung in mir aufkommen, das meine Begeisterung aber nur kurzzeitig trüben konnte. Nach intensiverem Nachdenken über den Handlungsverlauf mußte ich schließlich zugeben, dass die vom Autor gewählte Konstruktion die einzige Möglichkeit war, wenn er glaubhaft bleiben wollte. Dan Simmons hat mit seinem Buch einen spannenden, phantasievollen und dennoch logisch nachvollziehbaren Roman vorgelegt, der mir auch stilistisch gut gefallen hat.

  • Danke für die Rezi
    Ich hatte das Buch selbst schon in der Hand, war mir aber sehr unschlüssig ob es das hält was ich mir davon versprochen habe.
    Aber jetzt denke ich das ich es mir doch mal anschaffen sollte.

    Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war
    -Bertholt Brecht-


    Gelesene Bücher 2012:2
    Gelesene Seiten: 798
    SUB-Stand: 328
    :pale:
    :study:
    Birgit Fiolka - Blutschwestern. Die Legende von Engil
    :study: Nina Blazon - Zweilicht

  • ex libris, vielen Dank für deine Rezension! Ich hab gerade gesehen, dass du das Buch in das Genre "Romane" eingeordnet hast. Wie kommt das? Ich hatte mir eher etwas Fantastisches, Mystisches und auch Spannendes unter diesem Buch vorgestellt. :-k


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Das ist es auch, spannend, fantastisch und mystisch, gaensebluemche, und ich habe auch eine Weile überliegt, in welche Rubrik es paßt. Allerdings ist es von jeder SF-Literatur weit entfernt, weil es trotz aller Mystik die Grenzen zum Irrealen nicht (oder zumindest nicht sehr) überschreitet. Außerdem hat Dan Simmons in meinen Augen großartige Recherchearbeit über den Schriftsteller Charles Dickens geleistet und das sollte man, glaube ich, auch würdigen, indem man ihn nicht in die Fantasy-Rubrik verbannt. Der Roman ist wirklich sehr vielschichtig und man kann ihm in einer Rezi in all seinen Facetten kaum gerecht werden.

  • Danke für die Rezi, ex libris. Ich habe mir das Buch vor einiger Zeit schon gekauft und bis dato liegt es noch auf meinem SUB. Da ich die Bücher von Charles Dickens
    liebe, schien mir das Thema des Romans sehr interessant und nach deiner schönen Rezi werde ich wohl bald anfangen zu lesen. Sobald ich den Roman gelesen habe,
    schreibe ich dann einen Beitrag. Bin sehr gespannt.... :study:


    lg taliesin :winken:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Bad Monkeys

  • Danke, ex libris, das leuchtet natürlich ein! :thumleft:


    :flower:

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  • ... werde ich wohl bald anfangen zu lesen ...


    Auf Deinen Beitrag bin ich sehr gespannt, taliesin, weil mich interessieren würde, ob man sich Charles Dickens so vorstellen kann, wie er hier dargestellt wird, oder ob der Autor seiner Fantasie völlig freien Lauf gelassen hat, was Dickens Charakter betrifft. Sonst hat er ja, wie gesagt, sicher sehr genau recherchiert.

  • Am Ende des Romans erhält der Leser eine eindeutige Antwort auf diese Frage, doch ist der Weg bis dahin sehr weit und zeitweise auch recht mühsam. So gab es vor allem auf den ersten 500 Seiten durchaus einige Längen zu überwinden. Erst ab der Hälfte gewinnt die Geschichte jedoch an einer dramatischen Dynamik, die mich völlig in ihren Bann gezogen hat.

    Gut zu lesen! Ich ackere mich gerade durch Drood, habe fast die Hälfte geschafft und im Moment hängt es extrem. Wär super wenn die, ja durchaus interessante Geschichte auch wirklich noch spannend wird :D Terror von Dan Simmons fand ich wahnsinnig super.

  • phantasievollen

    fantastisch und mystisch,

    Das ist genau der Grund, warum ich die englische Ausgabe, die ich letzte Woche in der Hand hatte, nicht gekauft habe.
    Aber irgendwie reizt mich das Buch auch, vor allem das Cover finde ich sehr ansprechend.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Das ist genau der Grund, warum ich die englische Ausgabe, die ich letzte Woche in der Hand hatte, nicht gekauft habe.
    Aber irgendwie reizt mich das Buch auch, vor allem das Cover finde ich sehr ansprechend.


    Hast du Angst, dass es zu utopisch wird? Was das angeht kann ich dich beruhigen. Es driftet nicht in die Fantasyschiene ab.

  • Es driftet nicht in die Fantasyschiene ab.


    Das ist gut, weil ich mit Fantasy überhaupt nichts anfangen kann.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
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  • Halt bloß durch, Sally, es wird noch was!


    €nigma, es besteht wirklich keine Fantasy-Gefahr. Mich hat es eher an diese Gruselgeschichten aus dem 19. Jahrhundert erinnert, also auch für einen Nicht-Fantasy-Fan durchaus erträglich.

  • Mich hat es eher an diese Gruselgeschichten aus dem 19. Jahrhundert erinnert,


    Damit habe ich kein Problem.

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    (Francis Bacon)
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    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Ich verrate jetzt mal ganz wenig, €nigma, aber doch ein bisschen. Das Ende hätte meinetwegen sogar etwas mystischer sein dürfen. Es war mir aufgrund aller vorhergehenden Rätsel und Geheimnisse dann fast zu realistisch. Deswegen war ich auch ganz kurz enttäuscht, aber wirklich nur sehr kurz, weil insgesamt doch wieder alles stimmig und abgerundet miteinander verwoben ist.


    Ich bin ja schon mal sehr neugierig, wie es Sally zum Ende hin ergeht und wenn Du sagst, dass Dir "Terror" noch besser gefallen hat, kommt der demnächst dran.

  • €nigma, es besteht wirklich keine Fantasy-Gefahr. Mich hat es eher an diese Gruselgeschichten aus dem 19. Jahrhundert erinnert, also auch für einen Nicht-Fantasy-Fan durchaus erträglich.

    Dann ist es vielleicht auch was für mich. Ich habe es nämlich neulich auch in einer Buchhandlung in den Fingern gehabt, und war mir unschlüssig. Ich bin aber interessiert in Dickens und wenn es nicht zu irreal wird, dann passt es. Die Atmosphäre in alten englischen Gruselgeschichten gefällt mir auf jeden Fall.
    Das Buch ist definitiv auf die Wunschliste gesetzt. :)

    Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe, die Pflicht ist Freude!
    Rabindranath Tagore (1861-1941)


    Lha gyal lo - Free Tibet!

    Wir sind grüüüüüün!!!!

  • Wenn ich hier so die bisherigen Beiträge lese, dann habe ich anscheinend ein ganz anderes Buch gelesen. :-k
    Angelockt durch das schöne und irgendwie geheimnisvolle Cover und dem vielversprechenden Klappentext habe ich das Buch kurzentschlossen gekauft - leider!
    Darüber, das nicht nur Charles Dickens, sondern auch Wilkie Collins eine wichtige Rolle in dem Buch spielt, habe ich mich am Anfang sehr gefreut. Beiden verdanke ich schöne Lesestunden.
    Aber dieses Buch hier fand ich einfach nur schrecklich: langweilig, nervig und zäh wie Kaugummi. Ich hatte irgendwann keine Lust mehr, über den eitlen Dickens zu lesen. Und noch weniger Lust auf das Gejammer von Collins, der immer im Schatten von Dickens stand. Und die Figur des Drood war mir viel zu abstrus.
    Ich vergebe dem Buch immerhin noch zwei :bewertung1von5: :bewertung1von5: . Eines für das Cover, das wirklich sehr geheimnisvoll wirkt. Und das zweite für die Schilderungen der Slums in London, die waren wirklich sehr lebhaft und realistisch beschrieben.

  • 1865 kommt Charles Dickens beim verheerenden Zugunglück von Staplehurst unverletzt davon, während zahlreiche andere Reisende ums Leben kommen. Dort begegnet er zum ersten Mal einer rätselhaften Gestalt, die aussieht wie der Tod persönlich, und sich Drood nennt.


    Sein Freund, der Schriftsteller Wilkie Collins, der mit ihm in stetem Wettstreit steht und etwas zu großzügig bei der Anwendung von Laudanum gegen seine Gichtschmerzen vorgeht, stellt fest, dass Dickens danach nicht mehr der alte ist. Eines Tages schleppt er Collins auf eine unheimliche Expedition in die Londoner Unterwelt, in Opiumhöhlen und unterirdische Kanäle, wo Drood angeblich hausen soll. Er hat sich in den Kopf gesetzt, die unheimliche Gestalt zu stellen, die nicht nur für das Desaster von Staplehurst verantwortlich sein, sondern auch mehrere hundert Morde auf dem Gewissen haben soll. Während der wenigen Jahre, die Dickens danach noch am Leben ist, nimmt diese Suche bizarre Ausmaße an.


    Er und Collins entfremden sich derweil immer mehr voneinander - Collins' Opiumsucht (und Eifersucht auf Dickens) wird immer schlimmer, während Dickens' Gesundheitszustand sich rapide verschlechtert (was ihn nicht davon abhält, eine anstrengende Vortragstour zu unternehmen). Collins bleibt von Dickens' Suche nach Drood ausgeschlossen und versucht auf eigene Faust herauszufinden, was es mit ihm auf sich hat ...


    Ein höchst atmosphärischer Wälzer, jede Menge Gaslicht, unheimliche Krypten, Kanäle, Geheimgänge, sehr merkwürdige Gestalten, viktorianische Prüderie an der Oberfläche vs. pikante Liebesgeheimnisse und ein detaillierter Einblick in den Literaturbetrieb jener Zeit.


    Wilkie Collins, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, wirkt nicht unbedingt immer sympathisch, funktioniert als Gegenpart zu Dickens aber hervorragend. Man spürt regelrecht, wie er immer tiefer in seine Laudanumabhängigkeit rutscht und ihm dabei gelegentlich der klare Verstand abhanden kommt.


    Der Gruselfaktor war viel weniger gegeben als erwartet (was aber durchaus nicht negativ auf mich wirkte). Sicher sind Drood und seine Verbündeten gruselige Figuren, und es kommt zu einigen recht blutigen Auseinandersetzungen, doch der Drood-Handlungsstrang macht nur einen Teil des Buches aus - für mich nicht einmal den besten, denn streckenweise zog sich die Suche nach dem Widerling ziemlich hin und die Auflösung vermochte mich nicht wirklich zu überzeugen.


    Viel mehr genossen habe ich die Einblicke in Dickens' und Collins' Liebes- und Familienleben, bei beiden ziemlich kompliziert, die Entstehungsgeschichten ihrer Werke und die detaillierten Schilderungen von Dickens' aufwendig inszenierten Vortragsabenden.


    Etwas Abzug für einige Längen und die Drood-Auflösung, ansonsten eine schöne Urlaubslektüre.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: