John Irving - Letzte Nacht in Twisted River / Last night in Twisted River

  • Kurzbeschreibung (Klappentext)
    1954 in einem Flösser- und Holzfällercamp in den Wäldern von New Hampshire: Der 12-jährige Danny verwechselt im Dunkeln die Geliebte des brutalen Dorfpolizisten mit einem Bären, mit tödlichen Folgen.
    Der Junge muss mit seinem Vater Dominic, dem Koch des Camps, fliehen - zuerst nach Boston und von dort weiter nach Vermont und Iowa und schliesslich nach Kanada, vergolgt von einem Rächer, der auch nach Jahrzehnten nicht vergisst.
    Jedes Mal steht Dominic in einer neuen Küche und muss aus fremden Zutaten etwas zaubern: ein neues Gericht, eine neue Identität, eine neue Liebe, eine neue Existenz für sich und seinen Sohn. Doch das Leben
    von Danny und Dominic bleibt eine Achterbahnfahrt, mit höchstem Glück und tiefstem Schmerz, mit attraktiven und unkonventionellen Frauen, mit bedrohlichen ebenso wie mit liebenswerten Weggefährten.
    Dabei sehnen sich die beiden nur danach, endlich zur Ruhe, irgendwo anzukommen.

    Aufbau und Handlung

    Das Buch ist in sechs Teile gegliedert, die sich auf die Stationen der Reise beziehen;
    I Coos Country, New Hampshire 1954
    II Boston 1967
    III Windham Country, Vermont 1983
    IV Toronto 2000
    V Coos Country, New Hampshire 2001
    VI Ponte au Baril Station, Ontario 2005
    wobei anzumerken ist, dass Irving relativ frei vor- und rückgerichtet erzählt (aber dazu unten mehr).


    Die Geschichte hat drei Hauptcharaktere, nebst Danny und Dominic Baciagalupo auch noch den Holzfäller Ketchum, es kommen jedoch im Verlaufe der Chronik zahllose weitere bunt gestaltete Personen vor,


    Was Ernesto davon hält
    Dies war mein erster Irving. Ich habe das Buch im Rahmen einer Lesegruppe gelesen - und gleich vorneweg: Alleine hätte ich es wohl kaum komplett gelesen, denn wie mir bereits die Buchhändlerin prophezeit hatte, ist es teilweise sehr langatmig.
    Was mir aber sehr gut gefallen hat, sind die vielen kulinarischen Passagen, in denen Dominics Kochkünste geschildert werden - nebst den ausserordentlich farbigen Nebencharaktere ist dies einer der Punkte, die mich am Weiterlesen gehalten haben.
    Danny und sein Vater wechseln im Lauf der Geschichte mehrmals ihre Namen (was mir nach einer Weile auf die Nerven ging) und Danny bleibt das ganze Buch über etwas eindimensional, irgendwie fehlt das Quäntchen Petersilie, mit dem Dominic seinen Gerichten den letzten Schliff verpasst. Aber sei’s drum, ich empfehle dieses Schmökerwerk sowohl für lange (Sommer)Ferien wie auch für Leserunden, denn das Buch liefert wirklich viel Diskussionsstoff und zwar aus den verschiedensten Bereichen!


    :thumleft::thumleft::thumleft:

    :study: Hjorth & Rosenfeldt - Die Toten, die niemand vermisst

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    Über dich lachen sie bloss
    Weil du trotzdem liest.

    :love:

  • Ich habe den "neuen Irving" auch vor Kurzem gelesen, und war doch begeistert. Als "Irving-Einstieg" ist er vielleicht nicht so geeignet, man muss das "Irving'sche Universum" schon ein wenig kennen, um sich zurechtzufinden, vermeintliche Längen nicht als solche zu empfinden und richtig versinken zu können.


    Man trifft auf typische Irving-Elemente und -Figuren: Bären spielen eine große Rolle, vaterlose Helden, skurrile Typen und groteske Situationen, Schriftsteller und ihr Handwerk, mysteriöse und eigentlich aberwitzige Todesfälle und eine Wendung, die einem den Atem stocken lässt, zudem wechselnde Schauplätze und politische Seitenhiebe. Also eigentlich nichts Neues, vieles - auch Stilmittel, Buchaufbau und Chronologie - sind aus Irvings vorherigen Romanen bestens bekannt, erinnerten mich persönlich am ehesten an "Owen Meany", wenn auch die Situationen ein bisschen weniger grotesk, die Helden ein bisschen weniger skurril sind. Trotzdem versank ich wieder total in dieser Irving'schen Welt, litt und freute mich mit den Helden, fieberte dem Ende entgegen und war dann doch traurig, als ich das Buch schloss.


    Als Urlaubslektüre wärmstens zu empfehlen, und für Irving-Liebhaber sowieso ein Muss!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Sehr schön gesagt, Rosalita! Keine Ahnung, woran das liegt, aber wenn ein Irving-Buch schlecht bewertet wird, tut mir das körperlich weh; als wäre es ein persönlicher Schlag gegen mich. Es gibt kein Buch von ihm, das ich nicht mag; es gibt nur einige, die ich ... nicht so gerne mag.


    "Letzte Nacht in Twisted River" fand ich auch wieder großartig. Diese völlig skurrilen und absurden Ereignisse und Wendungen in seinen Büchern sind für mich ein derartiger Genuss, dass mir beim Lesen oft der Atem stockt. Ich bin besonders erfreut, dass er nach "Die vierte Hand" (das zu den oben erwähnten Irving-Werken gehört) mit "Bis ich dich finde" und "Letzte Nacht in Twisted River" wieder zu seiner Genialität von "Owen Meany" und "Gottes Werk und Teufels Beitrag" gefunden hat.


    Dany eindimensional? Nicht doch! Wie meinst du das?

  • Seid gegrüsst!


    Erstmal möchte ich mich bei den Irving-Fans entschuldigen, es war, wie gesagt, mein erstes Irving-Lesevergnügen und wahrscheinlich tue ich ihm mit meiner Rezension Unrecht...



    Dany eindimensional? Nicht doch! Wie meinst du das?


    Nun, Danny kam mir über weite Teile des Buches gekünstelt vor, mir hat die Tiefe gefehlt, irgendwie konnte ich ihn nicht ernst nehmen, obwohl
    er ja kein "oberflächlicher" Charakter ist. Mir kam es so vor, als ob die Figuren echter und mehrdimensionaler wären, je ungenauer Irving sie ausgestaltet.
    Vielleicht rührt dieser Eindruck auch ein wenig daher, dass Dannys Leben am meisten von allen gerafft wird, schliesslich findet es auf gerade mal 700 Seiten von klein auf
    statt. Die anderen Figuren haben nicht eine so hohe Lebenszeit-pro-Buchseite - Dichte (verstehst Du, was ich meine?), sogar Dannys Sohn kommt mit weniger aus!


    Nun, welches Buch würdet ihr denn einem Irving-Neuling empfehlen?


    Herzlichst


    E.S.

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  • aber wenn ein Irving-Buch schlecht bewertet wird, tut mir das körperlich weh;

    Ich bin kein Sadist und will niemandem wehtun, aber ich muss sagen, dass ich mich selten so gelangweilt habe wie bei "A widow for one year", das ich mir 1999 (?) nach allgemeiner Belobigung des Autors gekauft hatte. Dieses Buch habe ich ganz schnell wieder abgestoßen und seitdem einen Bogen um seine Bücher gemacht.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
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    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • ernesto: "Gottes Werk und Teufels Beitrag" war meine "Einstiegsdroge", aber auch "Garp und wie er die Welt sah" kann ich mir als Einstieg gut vorstellen.
    Vielleicht - und das dachte ich mir auch bie diesem Buch wieder - sollte man die Irving-Bücher aber chronologisch lesen, da einzelne Elemente immer wieder vorkommen und man manche Figuren aus anderen Irving-Büchern wiederfindet.


    Übrigens: Für mich ist in Twisted River eindeutig Ketchum die Hauptperson! Trotz körperlicher Abwesenheit ist er allgegenwärtig, er zieht die Fäden im Hintergrund, ohne ihn ist die Geschichte nichts!
    Dannys Leben ist natürlich der Aufhänger und anhand von Danny veranschaulicht Irving auch eines seiner ureigensten Anliegen: das Handwerk der Schriftstellerei, der Umgang mit Kritik, die Frage, ob Autobiografisches in den Büchern zu finden ist (dazu gibt es in Twisted River eine ganz famose Textstelle!!)


    Enigma: "Witwe für ein Jahr" war auch für mich ein eher schwächeres Irving-Buch, v.a. die Kapitel rund um die Schriftstellerei fand ich etwas ermüdend .... dennoch ein toller Plot!


    Susannah: Stilistisch lässt sich "Twisted River" tatsächlich mit "Owen Meany" vergleichen, doch für mich ist "Owen Meany" eine Klasse besser, deshalb gibts "nur" :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: von mir!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


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  • Ich glaube, ich habs schon ein- oder zweimal erwähnt ( :uups: ), aber "Owen Meany" ist meiner Meinung nach sowieso eine Klasse für sich. Ich habe es schon drei Mal gelesen und jedes Mal wieder bin ich völlig hingerissen von den Charakteren, der Geschichte, dem Aufbau, DEM SCHLUSS. Einfach unglaublich. Es war übrigens meine Irving-Einstiegsdroge.


    Damit, dass man seine Bücher chronologisch lesen sollte, hast du wahrscheinlich recht, denn abgesehen davon, dass man immer wieder Ähnlichkeiten zu anderen Büchern findet, erkennt man so wohl auch am besten seine Entwicklung.


    In "Twisted River" war für mich auch Ketchum eindeutig die Hauptperson. Der, der immer ein Auge auf die Famlilie hat, der, der Dominic und Dany immer beschützen will. Nicht zu unterschätzen ist aber auch Sixpack-Pam (schon der Name ist doch einfach unglaublich, oder?!), die ihrerseits Ketchum beeinflusst.


    €nigma: Ich kann mir vorstellen, dass "Witwe für ein Jahr" für Nicht-Irving-süchtige manchmal ein bisschen langatmig sein kann. Ich mochte es sehr, würde es aber auch eher im Mittelfeld ansiedeln.

  • Ich glaube, ich habs schon ein- oder zweimal erwähnt ( :uups: ), aber "Owen Meany" ist meiner Meinung nach sowieso eine Klasse für sich. Ich habe es schon drei Mal gelesen und jedes Mal wieder bin ich völlig hingerissen von den Charakteren, der Geschichte, dem Aufbau, DEM SCHLUSS. Einfach unglaublich. Es war übrigens meine Irving-Einstiegsdroge.


    Meine auch. Ein geniales Buch.


    Aber auch "Twisted River" hat mir wieder sehr gefallen, hier mehr dazu:


    Dominic Baciagalupo alias "Cookie" arbeitet seit Jahren Koch in einem Holzfällercamp am Twisted River und lebt dort mit seinem zwölfjährigen Sohn Danny alleine in einer Gemeinschaft rauhbeiniger, aber gutmütiger Arbeiter. Der Unfalltod eines jungen Hilfsarbeiters beim Flößen ist jedoch der Anfang einer Verkettung unglücklicher Umstände, die letztendlich dazu führt, dass Dominic und Danny bei Nacht und Nebel fliehen müssen, um einem rachsüchtigen und gewalttätigen Sheriff zu entgehen, Namenswechsel inklusive.


    In Boston lernt Dominic, in einem Restaurant für ein gänzlich anderes Publikum zu kochen, während Danny allmählich seine Liebe zur Schriftstellerei (und zu Frauen) entdeckt. Doch leider ist die Flucht hier nicht beendet, und eines Tages müssen die beiden (Ex-)Baciagalupos erneut weiterziehen ...


    So irrsinnig und tragikomisch wie die Ausgangssituation für die Flucht von Vater und Sohn gestaltet Irving das ganze Buch, schafft es aber, den Bogen dabei nicht dermaßen zu überspannen, dass die Geschichte ins Unglaubwürdige kippt.


    Natürlich findet man auch hier wieder Irvings Markenzeichen Bären, Ringen und Sex, letzteres aber angenehm wohldosiert. Mit Dominic, Danny und dem knorrigen Holzfäller Ketchum stehen drei sehr unterschiedliche Gestalten im Mittelpunkt, die, jeder auf seine Art, Sympathie wecken. In diesem Roman tobt das pralle Leben mit einer Menge starker Gefühle, Situationskomik und einem Auf und Ab von Erfolgen und Misserfolgen, Triumphen und Enttäuschungen, und dazwischen immer wieder notgedrungen Abschied von liebgewonnenen Menschen und Orten, das ständige Getriebensein vom Rachedurst eines durchgeknallten Cowboys. Und köstliches Essen.


    Einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren komprimiert Irving hier auf gut 700 herrlich unterhaltsame Seiten. Für Zartbesaitete ist auch dieses Buch nichts, sowohl sprachlich als auch inhaltlich kann es schon mal etwas derber zur Sache gehen. Für Fans schräger Geschichten und Gestalten ist aber auch dieser Irving ein Muss!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Es war übrigens meine Irving-Einstiegsdroge.


    Meine war leider "Die vierte Hand". Danach habe ich zunächst auch einen Bogen um ihn gemacht, bis mir "Garp" in die Hände fiel und kurze Zeit später "Owen Meany" zum Höhepunkt wurde. Es ist beruhigend, dass noch 2 (?) seiner Bücher auf meinem SuB liegen. Obwohl natürlich "Letzte Nacht ..." sofort auf meiner Wunschliste gelandet ist.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Höhen und Tiefen, alles war vorhanden.


    Coos Country, Danny und sein Vater Dominic leben am Holzfäller-Fluss Twisted River, einer kleinen Gemeinde von Arbeitern in den Wäldern von New Hampshire. Dominic ist der Koch der Holzfäller, und eigentlich will und wollte er schon immer fort um Danny ein besseres Leben zu ermöglichen …


    Als dann der Sohn die Freundin des Kochs mit der Bratpfanne erschlägt, wird es auch höchste Zeit den Ort zu verlassen, zumal sie die Geliebte des Hilfssheriffs war. So beginnt der Roman, das ist der Dreh.- und Angelpunkt der Geschichte.


    Vater und Sohn flüchten nach Boston. Dominic wird Koch in einem italienischen Restaurant, und findet auch wieder eine neue Freundin. Danny entdeckt, dass er Schriftsteller werden möchte. Das Leben könnte so schön sein, wenn da nicht das Bratpfannenereignis wäre und sie weiter flüchten müssen, da der Sheriff sie gefunden hat …


    In Vermont richten die Beiden wieder ihr Leben neu ein. Doch ab dort mischt sich zu dem ganzen typischen Irving-Stil (skurrile Figuren, abenteuerliche Situationen, starke Frauen, schwache Männer) eine schleichende Lethargie in die Handlung hinein. Dem Leser werden zwei Dinge klar: Man kann nicht sein Leben lang auf der Flucht sein; und Danny der Schriftsteller wird zum Sprachrohr Irvings.


    Diese aussichtslose Situation zieht sich durch ganz Vermont, und ich war mehrfach geneigt das Buch zur Seite zu legen. Zum Glück hat mich das Gefühl, dass Irving mir mittels Danny noch etwas flüstern möchte, bei der Stange gehalten. Dann endlich erfolgt der ersehnte Schlag …


    „Letzte Nacht in Twisted River“ ist Irvings politischster Roman. In aller Deutlichkeit und in der derbsten Sprache schreit der Autor etwas in die Welt, was wohl sehr tief in ihm brodelte und einfach heraus musste. Im Nachhinein passt der langatmige Mittelteil sehr genau in dieses Bild der Befreiung (Ruhe vor dem Sturm), und somit ist der ganze Roman in sich doch stimmig.


    Persönlich fand ich diese Stellungnahme beeindruckend, ich mag es, wenn man Farbe bekennt und zu etwas steht! Ob nun dieser Roman darunter gelitten hat, wie man das teilweise in Kritiken liest, da Irving eben kein politischer Autor ist, das mag evtl. zutreffen. Das Bedürfnis kann ich allerdings nachvollziehen und gutheißen, und im Großen und Ganzen mochte ich auch dieses Werk von Irving.

  • Ob nun dieser Roman darunter gelitten hat, wie man das teilweise in Kritiken liest, da Irving eben kein politischer Autor ist, das mag evtl. zutreffen.


    Wer behauptet denn, Irving sei nicht politisch? Schon in früheren Werken klang immer wieder eine gewisse USA-Kritik durch.


    Und auch ein sonst eher unpolitisch wirkender Autor kann und darf sich doch zu aktuellen Themen äußern, die ihm auf der Seele brennen. Mir hat das hier sehr gut gefallen.


  • Wer behauptet denn, Irving sei nicht politisch? Schon in früheren Werken klang immer wieder eine gewisse USA-Kritik durch.
    Und auch ein sonst eher unpolitisch wirkender Autor kann und darf sich doch zu aktuellen Themen äußern, die ihm auf der Seele brennen. Mir hat das hier sehr gut gefallen.


    Die FAZ beispielsweise. Mir gefiel dieser derbe Ausbruch auch total gut :)

  • Zumindest in "Owen Meany" ist er schon ziemlich politisch, wie ich finde. Vielleicht nicht ganz so sehr wie in "Twisted River", aber viel fehlt nicht...

  • Bei "Owen Meany" ziehen sich politische Ereignisse durch das ganze Buch, es ist ja sowas wie ein Abriss Amerikas durch Jahrzehnte des 20. Jh. Auch "Gottes Werk ..." halte ich für politisch (Abtreibung ist immer auch ein heißes politisches Thema, ebenso die Rassenthematik), doch so direkt und unverhohlen Stellung genommen hat er erst bei "Twisted River".


    Aber vielleicht sollte Herr/Frau FAZ noch weitere Irving-Bücher lesen .... ;)

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
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  • Ich habe das Buch in der Leserunde gelesen und ich schreibe jetzt nur kurz meine Meinung:
    Endlich geschafft - das kann man bei diesem Roman m. E. sagen.
    Ja - es ist Irving drin: Bären, groteske Situationen, Familientragödien, alles da...
    Politische Ereignisse fließen in den Roman ein - Irving bedient sich da manchmal einer etwas derben Sprache.
    Aber der Roman hat Längen, ich habe mich stellenweise ziemlich gelangweilt und war letztendlich froh, den Roman beendet zu haben.
    (Ein paar Kürzungen hätten sicher gut getan :wink: )


    Und das Ende fand ich überzogen, bzw. gänzlich unglaubwürdig:


    John Irving lese ich ansonsten sehr gerne -meine Favoriten sind "Gottes Werk und Teufels Beitrag" und "Owen Meany" - an diese beiden Romane reicht dieser Roman nicht ran.
    Ich vergebe :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Liebe Grüße

  • "Letzte Nacht in Twisted River" zwingt mich dazu, meine Irving-Rangliste neu zu sortieren. Das unvergleichliche "Owen Meany" behält Platz 1, aber dann kommt dieses hier und schiebt "Garp" auf Platz 3.


    Ja, der Roman hat einige Längen, auch ist er phasenweise ein wenig verwirrend (wann sind die beiden woher und wohin geflüchtet, und welche Personen gehören in welche Episode ihres Lebens?), aber Irvings Bücher betrachte ich weniger mit dem Kopf oder nach literaturkritischen Kriterien, sondern nach dem Grad meiner Versenkung. Und dieses Gefühl, dass die Geschichte mich mit Haut und Haar hineinzieht und nicht loslässt, hatte ich bisher erst einmal, auch wenn ich fast alle seine Bücher mit Vergnügen gelesen habe.


    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Irving sich über die Leser und Rezensenten lustig macht, die das Autobiographische in seinen Romanen und die immer wiederkehrenden Motive (Ringen, Bären, Todesfälle, ...) suchen und sezieren: Er trägt umso dicker auf. Sogar seinen Hang, das Semikolon ständig zu verwenden, thematisiert er.
    Das Problem, die Ereignisse des 11. September zu beschreiben und ihnen gerecht zu werden, hat Irving gut gelöst, indem er sie in eine alltägliche Szene bettet, in eine leichte mit humorvollen Nebentönen, ohne die Tragödie herunterzuspielen oder klein zu reden, bzw. sie heroisch zu überhöhen, wie es einige seiner Kollegen machten.

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  • Ich war John Irving gegenüber negativ eingestellt, weil ich mit 18 oder 19 Jahren mehrere seiner Bücher hintereinander gelesen und mich damit schlichtweg an Irving „überlesen“ hatte. Die Thematik der Cider House Rules (die ich bislang nur als Film kenne) und ein kurioser Schnipsel Information über den Autor, nämlich dass er während seines Aufenthaltes in Wien eine Ausgabe der Blechtrommel von G. Grass unter anderem (oder vor allem?) deshalb mit sich herumtrug, weil sie sich für ihn beim Kennenlernen von Frauen als durchaus nützlich erwies, stimmten mich etwas milder. Und als mir vor kurzem Letzte Nacht in Twisted River in die Hände geriet, beschloss ich, der Lektüre eine Chance zu geben. Ich ging aber ohne Erwartungen (wenn schon, dann eher mit etwas negativen Erwartungen bezüglich Freud, Ringern und Zirkusbären) an die Lektüre.


    Vorab: wer dieses Buch nur um der in direkte Worte gefassten, vordergründigen Erzählung halber lesen möchte, der wird sich wahrscheinlich mit einer relativ langatmigen, nicht gerade aufregenden Geschichte konfrontiert sehen; dann sollte man von der Lektüre eher absehen. Wer aber bereit ist, sehr aufmerksam zu lesen und seine leserischen Sensoren auszufahren, dem wird es hoffentlich so wie mir gehen, dass er sich vor lauter Begeisterung gar nicht mehr einkriegt!


    Ich möchte gerne ein paar Aspekte ansprechen, die hier im Thread bisher noch nicht aufgegriffen worden sind:
    Was mir innerhalb der ersten hundert Seiten auffiel, war die Inkonsequenz bezüglich Schreibstil und Inhalt (der hier im Thread bereits von Ernesto Spiritus, Buchkrümel und Magdalena wiedergegeben wurde). Für diese meines Erachtens nach vom Autor beabsichtigte Inkonsequenz liegt eine ganz tolle Idee zugrunde - meinen Kommentar dazu werde ich besser spoilern, denn ich möchte niemandem vorgreifen, der Lust hat, selbst auf eine so geniale Entdeckungsreise zu gehen, wie sie Letzte Nacht in Twisted River bietet.



    Sehr unterhaltsam finde ich einen weiteren unkonventionellen Aspekt: die männlichen Charaktere in Twisted River, die samt und sonders als sexuell ziemlich aktiv dargestellt werden, huldigen den verschiedensten Frauentypen: den Hungerhaken ebenso wie dem zu groß geratenen, fast männlich kräftigen, und auch dem mehr als weiblich gerundeten, fülligen Typen. Obwohl der Autor die Fleischlichkeit eher am Rande streift, scheinen mir als Leser die diesbezüglichen Schlichtheiten (mit nicht-perfekten Körpern) wesentlich erfrischender als die andernorts literarisch inszenierten komplizierten Matratzen-Choreografien mit Darstellern der anatomischen Superlative. Man darf wohl getrost annehmen, dass Irving sich auch hier absichtlich und mit Humor gegen die gängigen Schemata aufgelehnt hat.


    Ich denke, wenn man als Leser erst einmal davon ausgeht, dass der Schriftsteller John Irving gar nichts „einfach zufällig“ hinschreibt, findet man noch viel mehr, das einen immer wieder schmunzeln, staunen und nachdenken lässt. Der Autor geht auf schriftstellerische, familiäre, generationsbedingte, autobiographische und gesellschaftspolitische Aspekte ein und wahrscheinlich auf viele, die mir bei der Lektüre vielleicht gar nicht bewusst geworden sind.


    Da ist jedoch noch ein Punkt, ein ganz großer Punkt in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten, der sich breit verteilt über das ganze Buch zieht – er hat hauptsächlich zu tun mit diesem furchtbar langatmigen Teil, der sich scheinbar sinnlos von Kapitel 7 („Benevento und Avellino“, Seite 271) bis zum Ende des Kapitels 10 („Lady Sky“, Seite 394) spannt – wie andere Leser hat auch mich dieser Abschnitt so genervt, dass ich die Lektüre beinahe abgebrochen hätte, weil ich niemanden mehr auseinanderhalten konnte, alle schienen gleich: koreanische, japanische, vietnamesische, taiwanesische, chinesische Köche, Kellnerinnen, Geliebte, Krankenschwestern, Schriftstellerinnen, Babysitter und, und, und … – was soll das eigentlich?
    Ich spoilere lieber auch hier, denn es ist zu schön, wenn man den Hintergrund selbst entdeckt, für mich wurde dieser Teil so zu einem der besten im ganzen Buch.



    Es gibt so viele Themen mehr in Twisted River, sowohl in der äußeren Form als auch im eigentlichen Inhalt, die John Irving in ähnlicher Weise scheinbar gerade mal streift, die dann aber auf den Leser einen umso stärkeren Effekt haben, sobald er sich bewusst wird, worum es dem Autor hier eigentlich geht. Das macht das Buch zu einer ganz außerordentlichen Leseerfahrung.


    Hätte ich Letzte Nacht in Twisted River im Alter von zwanzig Jahren gelesen, hätte ich es wohl nie zu Ende gelesen. Ich bin mir sicher, dass mir diese Lektüre viel zu langweilig und unbedeutend vorgekommen wäre (ich nehme rückwirkend an, dass ich die ersteren seiner Bücher, die ich vor so langer Zeit gelesen habe, gar nicht richtig „geblickt“ habe). Ich hoffe jedoch, dass noch viele andere Leser John Irving irgendwann für sich (wieder)entdecken können.
    Twisted River wird mir als Buch sicherlich lange und eindrücklich im Gedächtnis bleiben - ein fantastisches Werk, ganz toll in der Ausführung! Sicherlich werde ich mir auch den von Euch so hochgelobten Owen Meany einmal vorknöpfen, doch ich werde nicht wieder den Fehler begehen, denselben Autor mehrfach ohne genug zeitlichen Abstand zu lesen – um sich an John Irving schon wieder zu „überlesen“, ist Twisted River einfach viel zu gut (vieeeel zu gut, wenn Ihr versteht , was ich meine).

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    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
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  • Vielen Dank für Deine Eindrücke und Deine Gedanken! Ich bin mir sicher, Du wirst an Owen Meany Deine wahre Freude haben!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
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  • schlichtweg an Irving „überlesen“


    Kann sogar ich als Irving-Fan gut verstehen. Ich habe fünf Bücher von Irving innerhalb eines Jahres gelesen, zuerst in steter Steigerung bis "Owen Meany"; "Bis ich dich finde", drei Monate später gelesen, hat mich enttäuscht. Anschließend habe ich zwei Jahre Pause gemacht, und Irving gefiel mir wieder.



    @ Hypocritia, tolle Buchbesprechung! :thumleft:

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  • ... Ich bin mir sicher, Du wirst an Owen Meany Deine wahre Freude haben!


    Davon bin ich mittlerweile auch wieder fest davon überzeugt!



    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Irving sich über die Leser und Rezensenten lustig macht ...


    Dieses Eindrucks kann ich mich aus eigener Erfahrung auch nicht erwehren, deshalb hier meine Frage an diejenigen, die das Buch Letzte Nacht in Twisted River schon gelesen haben:


    Wer (außer mir) hat sich als Leser noch vom Autor hochnehmen lassen und …



    Geniale Einlagen des Autors – sogar als Leser ist man nicht vor John Irvings Pointen sicher! (Ich hoffe, ich bin nicht als Einzige darauf reingefallen - bitte lasst mich nicht im Stich ... 8-[

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