Patrick Ness - Die Flucht / The Knife of Never Letting Go

  • Originaltitel: Chaos Walking 1: The Knife of Never Letting Go


    Nachdem das Leben auf der Erde unerträglich wurde, machen sich eine Auswahl religiöser Aussteiger auf die Suche nach einem besseren Ort. Sie finden ein neues Zuhause auf einem fernen Planeten und starten ein Leben als Siedler. Hartes Farmleben, starker Zusammenhalt und Willenskraft bestimmen ihren Alltag. Doch was hoffnungsvoll beginnt, wird bald auf böse Art korrumpiert.


    Der Roman setzt ca. 20 Jahre nach der Ankunft der ersten Siedler ein und wird aus der Sicht des letzten Jungens in Prentisstown erzählt: Todd Hewitt. Er steht kurz vor der Mannwerdung und freut sich darauf, nicht mehr der Aussenseiter in seiner Siedlung zu sein. Obwohl allein und einsam, ist er doch immer umgeben von dem Lärm (Noise) seiner Mitmenschen - wütenden Männern, die eine starke Präsenz ausüben. Wie Todd aus den Geschichten seiner Mitbürger weiss, forderte der Kampf um das Siedlungsrecht in der Anfangszeit einen hohen Tribut. Die heimischen Aliens kämpften mit biologischen Waffen, die alle Frauen töteten und das Bewusstsein der Männer dahingehend veränderten, dass sie keine privaten Gedanken mehr haben. Jeder Gedanke wird in die Öffentlichkeit übertragen, kann von jedem aufgeschnappt werden und macht den Lärm zu einem alles überschattenden Bestandteil des Lebens. Um etwas zu verheimlichen, muss man schon sehr clever sein.


    Als Todd im Sumpf auf eine schweigende Entität trifft, verändert sich sein Dasein. Seine Ziehväter Ben und Cillian (sprich Kilian) schleusen ihn aus dem Dorf, was einen Tod nach sich zieht und geben Todd nur das Tagebuch seiner Mutter und eine Karte mit diffusem Bestimmungsort mit. Als Todd erneut auf das "Schweigen" trifft, muss er zu seinem Erstaunen feststellen, dass er ein Mädchen kennenlernt. Ihr Name ist Viola und Vorhut einer neuen Siedlerwelle. Die Männer aus Prentisstown verfolgen die beiden daraufhin unerbittlich. Einzige Hoffnung der beiden ist die Suche nach Haven, einem Ort, der als paradisisch dargestellt wird.


    Was Todd im Folgenden über sich und seine Vergangenheit lernt, ist zutiefst erschütternd und sein gesamtes Weltbild wird auf den Kopf gestellt. Dachte er bisher, alle Frauen seien tot und Prentisstown die einzige vorhandene Stadt auf dem Planeten, muss er feststellen, dass alles eine Lüge war.


    Mehr zu sagen, würde die Spannung aus der Handlung nehmen, aber dieser erste Teil der "Chaos Walking" Trilogie hat es in sich. Schnell, spannend, mal erschütternd, mal anrührend und unfreiwillig komisch, ist dies ein ganz tolles Jugendbuch, das wichtige Fragen stellt - was passiert, wenn sich eine Gesellschaftsschicht durch die besonderen Lebensumstände durch eine andere Gruppe bedroht fühlt? Wie kann religiöser Eifer selbst schlimmste Taten rechtfertigen? Wann wird Selbstverteidigung zu Mord? Und was sind die korrupten Pläne eines machthungrigen Patriarchiats wert, wenn ihnen der Nachwuchs fehlt?


    Die Sprache ist teilweise sehr deftig und Todds Aussprache sehr unzivilisiert - was meiner Meinung nach bewusst so gewählt ist, um einen Punkt zu veranschaulichen, den Ness früh im Roman anspricht: was die Prentisstownmänner äussern, ist ungefiltert und roh, verloren und einsam. Um einen wichtigen Bestandteil ihres Seins beraubt: ohne Frauen, die ihre Wünsche und Sehnsüchte befriedigen und FILTERN könnten.


    Was ich faszinierend finde, ist dass der Roman auch andersherum funktionieren könnte: eine Welt bestehend aus Frauen ohne Männern mit ähnlichen Folgen.


    Für mich ein echter Pageturner, der zum Nachdenken anregt und mein Interesse an Dystopien erneut angefacht hat! Sehr lesenswert!


    Teil 2: "Ask and the Answer" (dt: Das dunkle Paradies) habe ich inzwischen bereits gelesen und fand ihn schwächer als den Serienauftakt und kann mich nicht entscheiden, ob ich den finalen Teil 3 "Monsters of Men" noch lesen möchte. Aber Band 1 ist ziemlich beeindruckend!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Klappentext:


    In der Kolonie von New World lässt ein Name die Menschen vor Furcht erzittrn: Prentisstown. Denn Prentisstown ist keine gewöhnliche Stadt. In Prentisstown kann jeder die Gedanken des andern hören. In Prentisstown ist es niemals still. Nichts bleibt im Verborgenen. Doch seine Bewohner hüten ein grauenhaftes, unmenschliches Geheimnis. Prentisstown ist die Stadt der Verdammten. Als Todd, der jüngste Bewohner, hinter dieses Geheimnis kommt, hat er nur eine Wahl: die Flucht. Todd läuft um sein Leben.


    Der Autor:


    Patrick Ness wuchs in den USA auf und lebt seit 1999 in London. Der vielfach ausgezeichnete Literaturkritiker und Radio-Autor hat bereits zwei erfolgreiche Romane für Erwachsene verfasst und unterrichtet Kreatives Schreiben an der Universität von Oxford.


    Roman, 540 Seiten


    Meine Meinung:


    Dies ist der erste Teil einer Trilogie und spielt auf einem fremden Planeten. Nach der Besiedelung durch die Menschen spaltete sich eine Gruppe von den anderen ab. Die Bewohner von Prentisstown werden von den anderen Siedlern gemieden, da sich die Einwohnerschaft unter der Herrschaft des Bürgermeisters Prentiss zu besonders fiesen Zeitgenossen entwickelt hat. Zunächst aber muss man wissen, das durch die Atmosphäre des Planeten oder durch ein Virus, irgendwie ist mir das immer noch unklar, die männlichen Siedler alle von einer Art Krankheit befallen wurden. Ihre Gedanken sind immer hörbar. Keine angenehme Vorstellung :uups: . Die Frauen jedenfalls sind davon nicht betroffen und das macht sie für die Männer zu Gegenspielern, die ihre jeweils eigenen Methoden entwickeln, damit umzugehen.


    Jedenfalls gibt es schon einmal in Prentisstown keine Frauen mehr. Die Jungen werden dort mit dreizehn Jahren zu vollwertigen Mitgliedern der Männerschaft gemacht. Allerdings zählt auf diesem Planeten ein Jahr dreizehn Monate. Nach den Werten der "Alten Welt" wäre er demnach wohl bald vierzehn Jahre. In den nachfolgenden Teilen der Serie ist dann auch schon mal von vierzehn Jahren die Rede, aber egal. Die Hauptsache ist, dass ihn mit seinem Geburtstag ein gewisses Ritual erwartet, das ihm seine beiden Ziehväter Ben und Cillian ersparen wollen. Auch das Geheimnis, warum es keine Frauen in Prentisstown gibt (es heisst hier, ein tödlicher Virus, der Frauen befällt, sei die Ursache) soll ihm offenbahrt werden. Daher schicken sie Todd mit einigen Überlebensutensilien, sowie dem Tagebuch seiner Mutter auf die Reise. Eher unfreiwillig, aber letztlich doch einsichtig, flieht er also. Einzig sein Hund Manchee (der übrigens wie alle anderen Tiere mehr oder weniger gut sprechen kann !) begleitet ihn.


    Unterwegs trifft er auf Viola, eine Abgesandte von einem Raumschiff, das bald zur Landung auf dem Planeten ansetzten möchte. Sie sollte mit ihren Eltern in einer Raumkapsel shon einmal die beste Stelle zur Besiedelung ausfindig machen. Leider ist die Raumkapsel zerschellt und ihre Eltern tot. Also machen sie sich nun zu dritt (Todd, Viola und Manchee) auf die Reise. Es soll irgendwo eine Siedlung namens Haven geben, die laut Plan das Ziel der Reise sein soll. Verfolgt werden sie von den Männern aus Prentisstown und ganz besonders von dem wahnsinnigen Priester Aaron. Da kommt es auch bald zu äußerst unangenehmen Zusammentreffen und auch immer wieder zu schweren Gefechten, bei denen auch viele unschuldige Siedler im Verlauf der Reise zu Schaden kommen.


    Die ganze Odyssee endet dann auch mit einem wahren Cliffhanger, der natürlich zum Weiterlesen anleiten soll. (Wie auch sonst, da es schließlich von vornherein auf eine Trilogie angelegt ist :wink: )


    Meine Meinung:


    Ich muss zugeben, ich habe Schwierigkeiten gehabt, in die Story hineinzufinden und war im Zweifel, ob ich mir die Nachfolgebände noch antun soll. Aber im Laufe der Geschichte wird dann doch vieles klarer und es ergeben sich schlüssige Zusammenhänge. Und dann ist natürlich auch der Schluss, der einem das Weiterlesen schon noch schmackhat macht. Irgendwie interessiert es mich dann doch, wie sich Todd und Viola weiter durchschlagen.
    Für dieses Buch aber erst einmal: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: Jeder Tag, an dem ich nicht lesen kann, ist für mich ein verlorener Tag!

  • Die Vorstellung, dass jeder die Gedanken des anderen hören kann, ist beängstigend und unvorstellbar. Und gerade deswegen eignet sie sich so hervorragend als Inhalt eines Romans. Und ebenso hervorragend ist dem Autor die Umsetzung dieser Idee gelungen.


    Frank Cottrell Boyce lobt das Buch auf dem Schutzumschlag mit den folgenden Worten:


    "Einer der besten ersten Sätze, die ich je gelesen habe - und eine Geschichte, die hält, was dieser erste Satz verspricht."


    Der erste Satz des Buches lautet: "Das Erste, was du herausfindest, wenn dein Hund sprechen lernt, ist, dass Hunde nicht viel zu sagen haben." Und ebenso wie Herrn Frank Cottrell Boyce hat auch mich dieser Satz total fasziniert. Oft ist es ja gerade der erste Satz, der beim Stöbern im Buchladen den Ausschlag gibt, ein Buch zu kaufen, oder es wieder ins Regal zurück zu stellen. Bei mir hat dieser erste Satz jedenfalls zur Folge gehabt, dass ich das Buch in einem Rutsch verschlungen habe.


    Doch nicht nur der erste Satz ist es, der den Leser an das Buch fesselt. Vielmehr ist es die unfassbare und spannende Handlung des Romans, die der Autor auf gekonnte Weise vermittelt.


    Todd ist der Hauptcharakter des Buches. Er ist 12 Jahre und 12 Monate alt. Das ergäbe nach unserer Zeiteinteilung bereits 13 Jahre, aber nicht so in Prentisstown. Denn hier hat das Jahr 13 Monate. Mit Erreichen dieses Alters wird aus einem Jungen ein Mann. Todd ist der jüngste Bewohner der Stadt und zugleich der letzte Junge, der noch nicht zum Mann geworden ist. Dieses Ereignis wartet er sehnsüchtig herbei. Die Zeit des Wartens vertreibt er sich mit seinem Hund Manchee, der ihm auf Schritt und Tritt folgt und ihm mit seinen Gedanken, die für Todd und auch alle anderen hörbar sind, des Öfteren auf die Nerven geht. Doch eines Tages entdecken Todd und Manchee im Sumpf eine Stelle, die reinste Stille ausstrahlt. Diese ist ungewöhnlich in einer Welt voller Lärm und lautstarker Gedanken. Todd gelingt es nicht, den Gedanken an diese Stille zu verdrängen und so weiß bald jeder in der Stadt von diesem Fleck im Sumpf, ohne dass Todd sich jemals laut darüber geäußert hätte. Nun nehmen Ereignisse ihren Lauf, die für Todd in einer großen Flucht enden.


    Das Buch lebt von seiner Spannung. Vieles bleibt für den Leser lange Zeit im Unklaren. Und jede beantwortete Fragen eröffnet den Weg für neue, unbeantwortete Fragen. Todd lebt in einer Welt voller Geheimnisse, die niemals ans Licht gelangen dürfen. Doch ebenso, wie der Leser die Wahrheit hinter den Geheimnissen erfahren möchte, drängt es auch Todd, diese zu lüften. Und so begibt sich der Leser zusammen mit Todd auf eine gefährliche Entdeckungsreise. Die Handlung bleibt dabei durchweg abwechslungsreich. Es gibt stetig überraschende Wendungen und an keiner Stelle ist die Handlung vorhersehbar.


    Der Stil des Autors ist kurzweilig. Es gibt viele Stellen, die blutig und brutal sind und der Autor geizt hier nicht mit Beschreibungen. Doch es gibt auch ebenso viele lustige und humorvolle Szenen. Sehr oft ist es Manchee, der mich mit seiner naiven tierischen Art zum Lachen gebracht hat und ihn habe ich am meisten in mein Herz geschlossen. Doch auch alle anderen Charaktere des Buches sind bildhaft und greifbar gezeichnet und werden dem Leser auf Anhieb sympathisch oder unsympathisch.


    Das Ende des Buches ist ein wahrer Cliffhanger und macht definitiv neugierig auf die Fortsetzung, die ich auch bald lesen möchte.


    Mein Fazit:


    Das Buch überzeugt mit seiner lebhaften und spannenden Handlung und dem fesselnden Stil des Autors, dem es zudem nicht an Humor mangelt.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


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