Originaltitel: En helt annan historia
Klappentext:
Die Bretagne im Sommer: Ein paar schwedische Touristen verbringen im Finistère ein paar vergnügte Urlaubswochen. Es ist eine zusammengewürfelte Gesellschaft: zwei Paare und zwei Einzelkämpfer, alles in allem sechs Leute, die freizeitbedingt miteinander Freundschaft schließen. Sie baden, sie essen, sie machen Ausflüge und flirten ein wenig über die Ehegrenzen hinweg. Und als die Ferien vorbei sind, trennen sich ihre Wege, wie das ja oft der Fall ist. Übrig bleiben ein paar vereinzelte Fotos, womöglich ein Gruppenbild, das ein oder andere Aquarell - und ein anonymes Tagebuch, das ihre Eskapaden schildert, wie sich später herausstellen wird, als die Tragödie bereits ihren Lauf genommen hat.
Denn fünf Jahre später beginnt jemand, sie zu töten, einen nach dem anderen, wobei die Morde Gunnar Barbarotti, Inspektor in Kymlinge, jeweils zuvor brieflich angekündigt werden. Der Fall erregt große Aufmerksamkeit in den Medien, die Polizei steht naturgemäß unter Druck. Der Mörder indes spielt Katz und Maus mit den Ermittlern - und erscheint unbegreiflicher und unberechenbarer als je zuvor. Was ist damals in der Bretagne wirklich passiert? Und warum bekommt ausgerechnet Inspektor Barbarotti die Briefe?
Barbarotti ist ein typisch skandinavischer Ermittler - wie die andern plagen ihn Sorgen um sich selbst, seine Kinder, seine Arbeit, seine Beziehung, die Kriminalität, usw. - und trotzdem ist er anders: Er ist nicht der leitende Ermittler, sondern einer aus dem Team; er ist nicht der Überflieger, der durch einen Gedankenblitz die Lösung des Falls serviert, sondern muss auch Kleinkram und Papiere bearbeiten; er jammert nicht herum, hat auch nicht die schwedische Gesellschaft im Visier und geht zum Psycho-Doktor, als die Belastungen zu groß werden statt wie seine literarischen Kollegen bis zur Erschöpfung dem Selbstbild des starken Mannes zu frönen. Barbarotti hat eine Frau kennengelernt, ist glücklich und dennoch mit der ganzen Skepsis eines frisch Verliebten, der es nicht glauben kann, geplagt.
Der Leser weiß zunächst mehr als die Ermittler; durch die Tagebucheinträge kennt er die Namen der Mordopfer bereits und wartet gespannt darauf, dass die Polizei irgendeine Spur zu der fünf Jahre alten Geschichte findet. Das dauert. Teambesprechungen, Ermittlungsergebnisse, Verhöre, Zeugenbefragungen und immer wieder Barbarottis Selbstgespäche und seine Verhandlungen mit dem Lieben Gott, mit dem er feilscht und Wetten abschließt. Ob er an den Lieben Gott glaubt, weiß er nicht; Gott hat es in der Hand, er braucht nur seine Wetten gegen Barbarotti zu gewinnen.
Erst nach Abschluss der Mordserie beginnt sich das Dunkel zu lichten.
Man könnte diesen Mittelteil langatmig nennen, weil eigentlich sehr wenig passiert. Aber ich habe ihn mit Vergnügen gelesen. Ich finde Barbarotti einfach knuffig und seine Alltagsphilosophien und -phantasien meistens treffend und amüsant.
Der Fall selbst ist ungewöhnlich, auch wenn die Verbindung zwischen aktuellen Morden und einer alten Geschichte nicht neu ist. Die Tagebucheintragungen, die zwischen die Ermittlungskapitel geschaltet sind, sind außerordentlich spannend und treiben beim Lesen an. Ca. alle 50 Seiten entwickelte ich eine neue Theorie, die schon bald über den Haufen geworfen wurde, denn die Lösung ist auf den ersten 500 (von 600) Seiten nicht zu erahnen. Aber unglaublich gut.
Nach Nesser-Art sind am Schluss ein, zwei Details nicht geklärt, und wenn er gegen Ende eine seiner Figuren sagen lässt: "Vertraue nie einem Autor", so steckt vor allem Selbstironie dahinter. Die nicht geklärten Details sind, wenn man dem Buch glaubt, für den Leser aus dem Kontext zu erschließen. Vielleicht will Nesser ihn dazu bringen, sein Buch ein zweites Mal zu lesen, ich weiß es nicht.
Der klitzekleine offene Schluss aus Barbarottis Privatleben verlangt danach, möglichst schnell den 3. Band der Reihe in Angriff zu nehmen.
Der beste Krimi, den ich seit langem gelesen habe.
Marie