Arundhati Roy - Gott der kleinen Dinge / The God of Small Things

  • Ich moechte euch gerne eins meiner Jahreshighlights vorstellen - auch wenn es schon etwas aelter ist, habe ich es leider erst jetzt fuer mich entdeckt und moechte mich am liebsten in den Hintern beissen, so lange mit dem Lesen gewartet zu haben.


    Originaltitel: The God of Small Things


    "Der Gott der kleinen Dinge" spielt hauptsaechlich in den 60ern in Kerala, Indien, wo die eng verbundenen Zwillinge Estha und Rahel mit ihrer Mutter, ihrer Grossmutter, Onkel und Grossmutter leben. Ihr Onkel erwartet seine Exfrau und Tochter, die aus England anreisen. Nach ihrer Ankunft kommt es zu einem toedlichen Unfall, der scheinbar alles im Leben der Familie dramatisch veraendert. Doch hinter dieser Handlungsebene verbirgt sich eine zweite Tragoedie, auf die versteckt immer wieder hingewiesen wird und erst gegen Ende des Romans aufgeloest wird - fuer aufmerksame Leser aber schon frueher sichtbar wird.


    Neben der Handlung in den 60ern existiert eine zweite Zeitebene - Kerala in den 90ern. Alles hat sich veraendert und die ehemals unzertrennlichen Kinder trauern als Erwachsene um ihre verlorene Kindheit und geraubte Unschuld. Nach dem schicksalhaften Winter in der Kindheit wurden die beiden getrennt und finden nur langsam wieder zueinander. Das einzige Familienmitglied, das in ihrer Heimat lebt, ist die Grosstante - eine verbitterte boese Frau, die mit ihren Handlungen zwei Leben entwurzelt hat.



    Mehr will ich zur Handlung nicht sagen, aber es ist eine sehr vielschichtige, starke Erzaehlung, die unter die Haut geht. Das Buch sprach nicht nur meine Gehirnzellen an sondern schaffte es auch, dass mein Körper reagierte: rare Glücksmomente liessen mich lächeln, tragische Momente sorgten für Gänsehaut, Bauchziehen und Atemlosigkeit. Es ist notwendig, sich Zeit fuer die Lektuere zu nehmen, um den Zauber wirklich schaetzen zu koennen. Der Einstieg ist etwas anstrengend wegen der verschiedenen Zeitebenen und Personenfuelle, doch nach drei Kapiteln bekommt man einen ausreichenden Ueberblick und hat die Hauptfiguren ausgemacht. Die raetselhafte Welt mitsamt ihren vielen Verbindungen wird kleiner und praeziser und es ist moeglich in der Handlung abzutauchen.


    Die Sprache ist auf den Punkt: sehr poetisch, voller interessanter Metaphern und Assoziationen. Viele dieser Metaphern und einzelne Saetze ziehen sich wiederkehrend durch den Roman und betonen nicht nur ihre Bedeutung sondern weben dadurch auch eine Art Skelett, um die herum einzelne Handlungen zentriert werden.


    Leben und Tod, der unbarmherzige Kampf um Wuerde und Unabhaengigkeit auf persoenlicher und politischer Ebene werden thematisiert. Geschichte, Religion und die Entwicklung einer Drittweltgesellschaft in einer globalen Welt finden ebenso Raum in diesem Werk wie Traditionen. Regelmaessig verbindet Roy die politischen Entwicklungen im Staat mit deren Auswirkungen auf die Individuen der Gesellschaft, ebenso wie sie versucht aufzuzeigen, dass persoenliche Entscheidungen den Gang der Politik beeinflussen, auch wenn sich die Handelnden der politischen Bedeutung ihrer Taten nicht bewusst sind.


    Dies ist ein Buch, das enorm viel Diskussionspotential fuer eine Leserunde bietet und meiner Meinung nach zu Recht den Man Booker Price gewonnen hat!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::cheers: LESETIPP!!! :cheers:

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Liebe Fezzig, dieser Roman liegt seit Jahren auf meinem SuB und ich konnte mich irgendwie nie aufraffen, ihn zu lesen. Dank deiner tollen Rezi (und weil ich auf deine Buchmeinung fast blind vertrauen kann) wandert das Buch direkt auf meine Liste der Bücher, die ich diesen Sommer noch lesen werde! Vielen Dank! :friends:

  • Es ist schon etwas länger her, dass ich das Buch gelesen habe. Mir hat es gefallen. Eine berührende und wunderschön geschriebene Geschichte.
    Es war zwar nicht ganz einfach zu lesen, da ich das Buch doch etwas anspruchsvoller, als bloßer Unterhaltung, empfand, aber schön. Ich fand schon den Titel so poetisch, und so ging es eigentlich auch weiter: schöne Sprache, viele Metaphern und Wortspiele, auch die Art der Erzählung hat mir gefallen.
    Ich hatte eher Probleme emotionaler Art, da mich das Thema: Klassenunterschiede, doch sehr betroffen machte. Andererseits fand ich es gut, etwas mehr zu dem Kastensystem und Klassenunterschieden zu erfahren.

    2024: Bücher: 87/Seiten: 38 703

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Newman, T. J. - Absturz

    Müller, Asta - Kairra

  • Ich habe schon etliche Rezensionen über das Buch gelesen, die ich sehr ansprechend fand und habe es vor einigen Wochen angefangen zu lesen. Aber ich habe nach kurzer Zeit aufgegeben. Das lag wirklich nicht an der Geschichte. Das Thema fand und finde ich eigentlich sehr interessant. Aber der Schreibstil sagte mir überhaupt nicht zu. Schon allein die Namen konnte ich mir nicht merken und hatte schon angefangen, mir eine kleine Liste zu schreiben. Aber es nutzte nichts.


    Man muss wirklich sagen, dass das Buch Ansprüche an den Leser in Bezug auf die Geschichte und den Sprachaufbau stellt. Es liest sich nicht so einfach weg. Dem konnte ich mich noch nicht stellen und habe das Buch erst mal auf Eis gelegt. Aber vergessen werde ich es nicht. Manchmal kommt die richtige Zeit für ein Buch einfach etwas später.

    :flower: Das Leben findet immer einen Weg und blüht pötzlich da wieder auf, wo man es am wenigsten erwartet.

  • Ich habe das Gefuehl, dass dieser Roman einer derjenigen ist, die lange Zeit ein vergessenes Dasein auf Wunschlisten oder SUBS fristen. Bei mir war es aehnlich. Als ich mit meiner Ausbildung zur Buchhaendlerin begonnen habe (1999) war das Taschenbuch gerade einer der Bestseller - jeder dritte Kunde fragte danach und jeder siebte empfahl mir die Lektuere. Seit 10 Jahren hatte ich es also als "irgendwann mal lesen" abgestempelt. Erst Anfang diesen Jahres habe ich es ueberhaupt gekauft, was nicht verhinderte, dass ich es weitere 6 Monate vernachlaessigte. Wie BirgitRomeo so schoen sagt "Manchmal kommt die richtige Zeit fuer ein Buch einfach etwas spaeter." Bei mir war sie nun reif - aber ich denke, unter den falschen Voraussetzungen haette ich es bestimmt auch wieder weggelegt und auf spaeter verschoben. Da in vielen Rezensionen nur auf die Schwierigkeiten eingegangen wird, wollte ich dem Buch hier mal eine Bresche schlagen - was anscheinend auch funktioniert hat. O:-)


    Zitat von "Emili"

    Ich hatte eher Probleme emotionaler Art, da mich das Thema: Klassenunterschiede, doch sehr betroffen machte. Andererseits fand ich es gut, etwas mehr zu dem Kastensystem und Klassenunterschieden zu erfahren.


    Arundhati Roy schreibt schonungslos offen und ich denke, sie verarbeitete einiges, das sie selbst beschaeftigte. Sie ist ja sehr engagiert im Kampf fuer Menschenrechte und diese fiktionalisierte Geschichte bot ihr wahrscheinlich eine Chance sich nicht nur mit den fehlenden Rechten der indischen Frauen auseinanderzusetzen sondern auch die zweite Opfergruppe - die Unberuehbaren - als menschlich darzustellen. Es gab diverse Stellen, an denen ich empoert durchatmen musste. So zum Beispiel die Erklaerung dafuer, wie die christliche Kirche Keralas das Kastensystem unterstuetzen und in ihren Glauben integrieren konnte. Ein anderes Beispiel sind die sexuellen Freiheiten, die sich Patriarchen leisten koennen, im Kontrast zu den Auswirkungen, die ebensolche Taten fuer die Frauen in ihrer Umgebung haben. Erstaunlich wie weit Ammus Mutter geht, um ihren Sohn in seinen Beduerfnissen zu unterstuetzen; wie gegnsaetzlich sie aber auf die Liebe ihrer Tochter reagiert.


    @Strandlaeuferin: ich bin gespannt auf deine Meinung! Bitte melden, wenn du ausgelesen hast!

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  • @Strandlaeuferin: ich bin gespannt auf deine Meinung! Bitte melden, wenn du ausgelesen hast!

    Fezzig, ich habe bereits zwei Mitleserinnen für eine Mini-LR gefunden und im Verabredungsthread werden es vielleicht noch mehr... dass du geschrieben hast, das Buch eigne sich für eine Leserunde, hat mich dazu animiert. Meine abschließende Meinung werde ich dann natürlich hier posten, aber alle, die das Buch schon kennen, sind natürlich auch mit Kommentaren in der LR willkommen! :)

  • Ich habe das Buch vor einigen Jahren gelesen und auch wenn ich nicht mehr viel über die Geschichte weiß - ich weiß auf jeden Fall noch, das ich es großartig fand. :thumleft:

  • Lesen...lesen...lesen! Ich will einfach alles lesen... :!:

  • Arundhati Roy schreibt schonungslos offen und ich denke, sie verarbeitete einiges, das sie selbst beschaeftigte. Sie ist ja sehr engagiert im Kampf fuer Menschenrechte und diese fiktionalisierte Geschichte bot ihr wahrscheinlich eine Chance sich nicht nur mit den fehlenden Rechten der indischen Frauen auseinanderzusetzen sondern auch die zweite Opfergruppe - die Unberuehbaren - als menschlich darzustellen.

    Schonungslos, das ist für mich ein Wort, das den Roman wirklich sehr gut beschreibt. Die Sprache der Autorin hat mich sehr beeindruckt, es gelingt ihr immer wieder, mich an die verschiedensten Orte zu holen, Atmosphären so anschaulich zu beschreiben. Das ist faszinierend und einzigartig. Sehr beeindruckend.
    In den Erzählstil der Autorin muss man sich erst einmal einlesen, gerade am Anfang wechselt Roy zwischen verschiedenen Erzählzeitpunkten und Handlungssträngen, und man hat das Gefühl, gar nichts greifen zu können, und Angst, etwas zu überlesen. Letzteres ist deswegen berechtigt, weil einzelne Formulierungen und vermeintliche "Kleinigkeiten" später erst eine Bedeutung erlangen. Wenn man sich darauf eingestellt hat, ist der Roman aber ein ganz besonderes Leseereignis.
    Viele Szenen sind erst einmal schön, dann bricht die Realität über Figuren und Leser herein. Immer wieder hofft man, alles werde sich zum Guten wenden, stattdessen bricht das Unglück dann erst Recht über alle herein. Dabei hat man aber nie das Gefühl, die Autorin wolle einen möglichst dramatischen Effekt erzielen, sondern es trifft einfach ein, was Estha schon die ganze Zeit denkt:
    a) Jedem kann jederzeit alles passieren und
    b) Besser, man ist darauf vorbereitet.


    Danke, Fezzig, denn ohne dich hätte der Roman noch lange auf meinem SuB gelegen... :friends:

  • Sehr oft wurde nun dieses Buch hier doch nicht kommentiert. Allerdings besitzen und lasen es ja sehr viele BT'ler! Zu Recht, sicherlich. Ein tolles Buch.


    Es wurde, war bisher das einzigste Prosabucg der Autorin, die sich dann sehr engagierte, und auch in Zeitungen, Magazinen etc veröffentlichte.


    Nun, nach zwanzig Jahren Funkstille, aber wieder ein ausufernden Roman:


    Arundhati Roy, die Autorin des Weltbestsellers »Der Gott der kleinen Dinge«, kehrt zurück! Ihr lange herbeigesehnter Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« führt uns an den unwahrscheinlichsten Ort, um das Glück zu finden. Eine Reihe ausgestoßener Helden ist hier mit ihrem Schicksal konfrontiert, aber sie finden eine Gemeinschaft, sie bilden eine Familie der besonderen Art.


    Auf einem Friedhof in der Altstadt von Delhi wird ein handgeknüpfter Teppich ausgerollt. Auf einem Bürgersteig taucht unverhofft ein Baby auf. In einem verschneiten Tal schreibt ein Vater einen Brief an seine 5-jährige Tochter über die vielen Menschen, die zu ihrer Beerdigung kamen. In einem Zimmer im ersten Stock liest eine einsame Frau die Notizbücher ihres Geliebten. Im Jannat Guest House umarmen sich im Schlaf fest zwei Menschen, als hätten sie sich eben erst getroffen – dabei kennen sie einander schon ein Leben lang.


    Voller Inspiration, Gefühl und Überraschungen beweist der Roman auf jeder Seite Arundhati Roys Kunst. Erzählt mit einem Flüstern, einem Schrei, mit Freudentränen und manchmal mit einem bitteren Lachen ist dieser Roman zugleich Liebeserklärung wie Provokation: eine Hymne auf das Leben.