Das Haus Gottes: Teil 3 (S.144) - Teil 5 (S.346)

  • Er ist eben ein armer, frühkindlich traumatisierter Teufel, dessen Vater offenbar kein Pädagogik-Seminar belegt hatte. ;) Es ist nicht angenehm, wenn einem Kind ständig andere Kinder als leuchtendes Vorbild vorgehalten werden. Heutzutage wäre er vielleicht mit einem Amoklauf an seiner Schule auffällig geworden.

    Das bringt mich dann wieder auf diese sinnlosen Diskussionen nach solchen Amokläufen, bei denen versucht wird, die Täter in Schutz zu nehmen. HALLO?! Es gibt so viele Kinder, die sehr strenge oder sogar gewalttätige Eltern haben, Eltern, die trinken, ständig streiten oder sonstwas - und viele werden trotzdem zumindest so "normal", dass sie ein Leben haben und andere nicht umbringen! ](*,)
    Deshalb gibt es für mich auch bei Gilbert keine Entschuldigung für sein Verhalten! [-X

  • Ich bin schon auf dem Weg ins Bett, aber da ich gerade den vierten Teil abgeschlossen habe, muß ich doch noch schnell etwas loswerden!
    In all dem Elend, der Trauer, dem Hunger und der Not, kann ich Dorothy einfach nur Bewunderung entgegen bringen!!!


    Dieses Kapitel hat mich gefangen, bis ich es durchgelesen hatte! :thumleft:


    Gute Nacht, Frauke :sleep:

    Ich :study: gerade:
    "Das Lied von Eis und Feuer 4 - Die Saat des goldenen Löwen" von George R.R. Martin (Kindle)




  • Vorweg, bevor irgendetwas falsch verstanden werden kann, ich mag das Buch und lese es sehr gern.


    Dorothy ist ja eine starke Frau und eine starke Persönlichkeit. Sie meistert den Alltag, sorgt für schlechte Zeiten vor, bietet der Familie Schutz, vergisst dabei die Nachbarn nicht und und und... Nun frage ich mich, wie war das in der Zeit damals. Sie verkörpert ja nicht die Durchschnittsfrau. War dieses Verhalten den anderen, die nicht von ihrer Hilfe profitieren konnten, nicht suspekt? Ich kann nicht glauben, dass diese Lebensweise für sie ohne Anfeindungen und Getratsche von anderen bleiben konnte. Ich selbst wohne in einer Kleinstadt, es würde schon reichen, einen Hut aufzusetzen und so einmal die Geschäftsstraße entlang zu laufen, um für Wochen Gesprächsstoff zu liefern. :roll: Sicher haben Not und Elend den Fokus vieler erst mal auf die eigenen Probleme gerichtet, aber Dotty war ja auch nicht irgendwer. Schon durch die Gerüchte um Aimery stand sie ja mehr im Blickpunkt.


    Daraus ergibt sich für mich auch gleich eine Frage. Gibt es für Dorothy ein historisches Vorbild? Wie recherchiert du solche Alltagsdinge? Museen und Aufschreibungen sind da sicher nicht unbedingt die große Hilfe.

  • Liebe Karthause,
    Deine Frage ist sehr interessant - ich habe sie mir auch gestellt und fand sie fuer meine Geschichte wichtig.
    Und ein "reales" Vorbild fuer Dorothy gibt es, aber keines aus dem 14. Jahrhundert, sondern eines aus Jahrhundert Zwanzig, aus der Generation, die es hinnehmen musste, dass zwei Kriege sich ihr Leben als Schauplatz aussuchten. Meinen Recherchen zu beiden - und anderen - Zeiten von Krieg, Not und Umbruch nach (ich betone noch einmal, dass es sich hier um meine Schlussfolgerung/Meinung handelt und dass ich selbstverstaendlich nicht andere Moeglickeiten in Abrede stellen will!) sind dies auch immer Zeiten, in denen die gaengige Moral sich aendert - manche Historiker sprechen sogar von "moralischen Verfall", d.h. Dinge, die kurz zuvor noch geahndet oder zumindest verbal verurteilt worden waeren, werden ploetzlich geduldet, scheinen keine Rolle mehr zu spielen.
    In Portsmouth kann man das beispielsweise sehr beeindruckend an der Durchsetzung der Kirchengesetze ablesen: Je groesser die wirtschaftliche Not (die sich durch Bevoelkerungsexplosion und Klimaumschwung seit Beginn des Jahrhunderts dramatisch zuspitze, also noch ehe der Krieg das seine dazu tat) wurde, desto weniger Verurteilungen gibt es wegen Nichteinhaltung der verschiedenen Vorschriften bezueglich Arbeit am Sonntag, Gottesdienstbesuch, Fastengebote etc.
    Vor diesem Hintergrund bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Dorothy fuer ihr Verhalten unter anderen Umstaenden sehr wohl verurteilt worden waere (unter anderen Umstaenden haette sie sich womoeglich aber auch anders verhalten) - unter den gegebenen Umstaenden aber sehen die meisten Leute vor allem eine Frau, die noch Kraftreserven hat, wo sie keine mehr haben, sind dankbar dafuer und druecken Augen zu. Allerdings gibt es durchaus auch Leute, die trotzdem ihr Urteil ueber Dorothy faellen und ueber sie reden. Dazu kommt es spaeter noch.


    Du hast voellig recht - Alltagsrecherche kann unter Umstaenden sehr schwierig sein, und es gibt Epochen/Kulturen, ueber die zu schreiben ich rundweg ablehnen wuerde, weil sich der Alltag der Menschen so gut wie nicht rekonstruieren laesst und man voellig auf Spekulationen angewiesen ist. Fuer Hampshire im Vierzehnten Jahrhundert gilt das aber gluecklicherweise nicht - die Zeit ist sehr gut recherchierbar. Archaeologische Fundstuecke und Gespraeche mit Archaeologen sind eine ganz wichtige und enorm fruchtbare Quelle. Eine weitere Fundgrube sind Gerichtsakten, die in meinem Fall en masse vorhanden waren und ueber die kuriosesten Dinge Aufschluss geben. Auch gibt es zahlreiche Briefe und andere Privatdokumente, wobei hier natuerlich vor allem auf den Alltag der hoeher gestellten Schichten Bezug genommen wird - aber man erfaehrt dennoch jede Menge Details, um auch auf das Leben von Handwerkern und Bauern zu schliessen. Portsmouth besass ja bereits Marktrecht und ueber den Markt mit der gruessenden Hand am Eingang gibt es mehrere Berichte von Haendlern und Reisenden (es ist auch eine Landschaft, durch die zahlreiche Pilger, zogen).
    Hier war also die Alltagsrecherche erfreulich und spannend.
    Aber wie gesagt, ich hab's auch schon ganz anders erlebt, weshalb ich mich in Zukunft immer vorher bei Fachleuten erkundige, ehe ich "Ja" zu einem Projekt sage. Ich weiss, es gibt eine Menge Kollegen, die aus wenigem viel machen koennen, aber zu denen gehoere ich leider nicht. Ich brauche eine Vielzahl von Details, um auf Ideen zu kommen, um selbst ein Bild vor Augen zu haben - von allein produziert mein Kopf eher wenig.


    Frauke, ich freu mich, dass mein Buch Dir ein bisschen Schlaf rauben durfte!


    Alles Liebe von Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
    www.charlotte-lyne.com

  • Zeiten von Krieg, Not und Umbruch nach (ich betone noch einmal, dass es sich hier um meine Schlussfolgerung/Meinung handelt und dass ich selbstverstaendlich nicht andere Moeglickeiten in Abrede stellen will!) sind dies auch immer Zeiten, in denen die gaengige Moral sich aendert - manche Historiker sprechen sogar von "moralischen Verfall", d.h. Dinge, die kurz zuvor noch geahndet oder zumindest verbal verurteilt worden waeren, werden ploetzlich geduldet, scheinen keine Rolle mehr zu spielen.

    Das glaube ich auch. Meine Eltern haben mir erzählt, dass während des Zweiten Weltkrieges eine Menge Dinge abgelaufen sind, die man sich in Friedenszeiten nicht hätte vorstellen können. So galten z.B. in Bezug auf eheliche Treue andere Maßstäbe als sonst. Wenn jeder Tag der letzte sein kann, will man vermutlich noch alles genießen, was sich bietet.


    Trotzdem wundere ich mich über Dorothys Verhältnis mit Gocelin. Erstens habe ich nicht den Eindruck, dass sie ihn besonders attraktiv findet, sondern dass sie eher von seiner "schwächlichen" Verehrung genervt ist. Zweitens wundere ich mich, dass sie das Risiko einer Schwangerschaft eingeht, Koitus interruptus ist schließlich nicht gerade eine sichere Verhütungsmethode und ich kann mir nicht vorstellen, dass man entspannt genießen kann, wenn man sich die ganze Zeit darauf konzentriert, den Mann rechtzeitg abzuwerfen. :mrgreen: Was hat sie also davon???
    An ihrer Stelle hätte ich auch Bedenken gehabt, in den Verdacht der Hexerei zu geraten, wenn ich verdächtigerweise Übermenschliches leiste (Erfolge einstreiche, die damals einer Frau nicht zustanden) und dann noch "fleischliche Sünden" begehe, die ebenfalls eher den Männern zugestanden wurden.


    Inzwischen wird sie ja auch von Gilbert angebaggert. Will er sie eigentlich nur, weil er bei Aimery Interesse an ihr vermutet, oder ist er wirklich von ihr beeindruckt?
    Sehr unsympathisch finde ich übrigens Isemay, über die hier noch niemand ein Wort verloren hat. Ich stimme Dorothy in ihrer Schuldzuweisung für den Tod des kleinen Clement zu. Der Kleine könnte noch leben, wenn die dumme Gans auf ihn aufgepasst hätte, statt mit Ronald durch die Stadt zu ziehen.
    Ich hätte sie hochkant rausgeschmissen!

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Trotzdem wundere ich mich über Dorothys Verhältnis mit Gocelin. Erstens habe ich nicht den Eindruck, dass sie ihn besonders attraktiv findet, sondern dass sie eher von seiner "schwächlichen" Verehrung genervt ist. Zweitens wundere ich mich, dass sie das Risiko einer Schwangerschaft eingeht, Koitus interruptus ist schließlich nicht gerade eine sichere Verhütungsmethode und ich kann mir nicht vorstellen, dass man entspannt genießen kann, wenn man sich die ganze Zeit darauf konzentriert, den Mann rechtzeitg abzuwerfen. :mrgreen: Was hat sie also davon???


    Ich denke, Dorothy will einfach dem anstrengenden Alltag und den vielen Menschen in ihrem Haus entkommen. In gewisser Weise mag sie es ja auch, begehrt zu werden. Als sich dann die Gewohnheit einschleicht,


    Habe jetzt den fünften Teil abgeschlossen.
    Ich habe das Gefühl, als blicke ich beim Lesen in die Vergangenheit. Wunderbar! Viele andere Autoren lassen so dermaßen unwahrscheinliche Dinge geschehen, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Gut, ich schaue darüber hinweg, wenn es nur ab und zu passiert, es stört mich aber trotzdem. Dieses Buch ist ein gutes Beispiel, daß es auch anders geht!!! Super! :thumleft:


    Gilberts


    Sehr gespannt bin ich darauf, wann das Domus Dei mehr in den Mittelpunkt rückt. :bounce:


    Mache mich jetzt an den sechsten Teil! :study:


    Liebe Grüße, Frauke

    Ich :study: gerade:
    "Das Lied von Eis und Feuer 4 - Die Saat des goldenen Löwen" von George R.R. Martin (Kindle)




  • Sehr gespannt bin ich darauf, wann das Domus Dei mehr in den Mittelpunkt rückt. :bounce:


    Da bist Du im 6.Teil goldrichtig, und es wird ja auch Zeit, nachdem das Domus dei dem Buch immerhin den Namen gegeben hat.

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    (Francis Bacon)
    :study:
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  • Ja, Frauke - so war es gedacht.
    Sie will sich bei Gocelin auch mal nur fallen lassen (als sie merkt, dass auch Gocelin zu denen gehoert, die sie wie kleine Kinder brauchen, ist es sozusagen zu spaet).
    Ausserdem habe ich mir vorgestellt, dass man einen ungeheuren Zorn bekommt, wenn man geglaubt hat, "moralisch alles richtig zu machen", jedes kleinste, unsinnigste Gebot zu befolgen - und dann geschieht einem doch das Schlimmste, das eine, das man nicht aushalten kann. Ich glaube, dass das in einem Menschen einen ungeheuren Bruch erzeugt, der viel Zeit und Kraft braucht, um zu heilen - und dass dieser Bruch leicht den Wunsch erzeugt, "etwas richtig Schlechtes" zu tun. Da Gutsein ja ohnehin nichts nuetzt ... Den eigenen Weg zwischen beiden, der dann sie selbst ist, den muss Dorothy erst finden, und darin sollte sie auch symbolisch fuer ihre Epoche stehen, in denen den Menschen wegbrach, woran sie glaubten und woran sie sich festhielten. Was furchtbar fuer sie war. Was ihnen aber auch die Chance gab, sich ganz neu zu orientieren. Fuer mich beginnt an dieser Stelle in der Geschichte die (Wieder-)besinnung auf das Individuum, der Weg in die (englische - in Italien begann sie ja schon) Renaissance.


    Alles Liebe von Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
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  • Nachdem ihr hier schon ziemlich weit seid (einige sogar schon fast fertig wie ich lese), kann ich sagen, das sich auch in diesem Teil angekommen bin bzw. schon einige Seiten gelesen habe (ich bitte um etwas Geduld). Schön fand ich auf jeden Fall die Beschreibungen von Agnes, auch wenn das jetzt komisch klingt. Ich fand sie ja genauso widerlich wie ihren Bruder, aber die paar Seiten, die ich bis jetzt gelesen habe, haben mich ein kleines bisschen (zumindest zeitweise) mit ihr versöhnt. Schön fand cih auch die Beschreibung, dass Clement sie trotzdem geliebt und geküsst hat, was seine Reinherzigkeit absolut beweist. :love: Ja, OK, er tut mir leid, weil er sich in SO EINE verliebt hat, aber er ist treu, das war damals garantiert selten.


  • Ich habe das Gefühl, als blicke ich beim Lesen in die Vergangenheit.

    Ja, Frauke, so empfinde ich das auch. Das Kopfkino geht ganz automatisch mit dem Griff zum Buch los und wenn das Buch nicht dabei, wandern die Gedanken zurück. Am besten gefallen mir die Personen. Sie sind alle jenseits von schwarz und weiß. Jeder einzelne hat gute und auch schlechte Seiten, wie im realen Leben. :thumleft:

  • Das ist sehr nett, was Ihr ueber mein Buch sagt, und macht mir den Abend schoen.
    Ich gebe zu, dass ich Agnes und Clement auch sehr gern mochte, Clement hat mich geruehrt.


    Alles Liebe von Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
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  • Ja, Frauke, so empfinde ich das auch. Das Kopfkino geht ganz automatisch mit dem Griff zum Buch los und wenn das Buch nicht dabei, wandern die Gedanken zurück. Am besten gefallen mir die Personen. Sie sind alle jenseits von schwarz und weiß. Jeder einzelne hat gute und auch schlechte Seiten, wie im realen Leben. :thumleft:

    Bei mir funktioniert dieses Kopfkino sowieso nur bei Büchern, die mir gefallen - so selektiere ich die Bücher aus, die mir nicht zusagen. 8) Und hier funktioniert es viel besser als gedacht. Ich weiß ja aus dieser Epoche fast nix, aber kann mir die Stadt, ihre Bewohner, die Schiffe etc. kristallklar vorstellen! :love:

  • Sie sind alle jenseits von schwarz und weiß. Jeder einzelne hat gute und auch schlechte Seiten, wie im realen Leben. :thumleft:

    Ich liebe solche Charaktere! :love: Bücher, in denen zusehr schwarz und weiß getrennt wird, lege ich schnell zur Seite! [-(

    Ich :study: gerade:
    "Das Lied von Eis und Feuer 4 - Die Saat des goldenen Löwen" von George R.R. Martin (Kindle)




  • Stressige Tage, in denen ich nicht viel zum lesen gekommen bin, liegen hinter mir und so konnte ich heute den fünften Teil beenden.

    Die Kritik, Gilbert mutiere zum Super-Boesewicht, muss ich mir wohl anziehen. Er war als solcher nicht gemeint (und ich bin sehr erleichtert, dass Karthause die Stimme erhebt und ihn nachvollziehbar findet), aber aus den bisherigen Leserreaktionen, aus denen so gut wie keine Sympathie, kaum Mitleid und auch kaum Verstaendnis spricht, muss ich schliessen, dass ich das Ziel, ihn in seinen Motiven verstaendlich zu gestalten, nicht erreicht habe...

    ...er ist auch ein Weggestossener, Alleingelassener, unsaeglich Enttaeuschter.

    Diese Begriffe assoziiere ich viel eher mit Aimery, obwohl das Leben beider mehr Parallelen aufzeigt, als ihnen lieb sein dürfte. Beiden fühlen sich einsam, keiner bekam von Vater die Liebe und Anerkennung, die er sich gewünscht hätte.

    Es ist nicht so, als würde ich Gilberts Beweggründe gar nicht nachvollziehen können, doch er ist in seinem Denken und Tun unheimlich auf Aimery fixiert, sodass bei all dem Neid und Hass andere, vielleicht auch positive Aspekte seines Wesens wenig zur Geltung kommen. Wenn man bedenkt, dass Helewises Tod schon so viele Jahre zurück liegt, kommt mir sein Schmerz noch sehr frisch vor.

    Aimerys Liebe zu seiner Arbeit, die Erfüllung durch das Handwerk, die ihn so sympathisch macht, geht Gilbert beispielsweise völlig ab. Er hat weder Talent noch das Herzblut für den Bau eines Schiffes, seine Motivation entspringt lediglich dem Wunsch, Aimery eins auszuwischen. Gilbert gibt vor jemand zu sein, der er nicht ist. Ein Schauspieler, der sich gut verkaufen kann. Am ehesten lässt sich mein Gefühl ihm gegenüber noch mit Angst beschreiben. Angst, weil er skrupellos und besessen ist von dem Gedanken an Rache.

    Jetzt im letzten Teil kommt Gilbert ein wenig besser zur Geltung. Allerdings hab ich mich die ganze Zeit gewundert, wieso er automatisch davon ausgeht,

    Trotzdem wundere ich mich über Dorothys Verhältnis mit Gocelin. Erstens habe ich nicht den Eindruck, dass sie ihn besonders attraktiv findet, sondern dass sie eher von seiner "schwächlichen" Verehrung genervt ist.

    Darüber hab ich mich auch gewundert. Aber es war ja auch nicht so, als wär sie besonders aktiv gewesen, sie hat es halt geschehen lassen, um Trost und Ablenkung zu erfahren. Das war für mich ein Abschnitt, über den ich recht emotionslos drüber gelesen habe.

    und dass dieser Bruch leicht den Wunsch erzeugt, "etwas richtig Schlechtes" zu tun.

    Ich hab gar nicht so den Eindruck, als würde sie es als etwas richtig Schlechtes empfinden. Hat sie einmal an Matilda gedacht, mit der sie jahrelang Tür und Tür gelebt hat? Nicht, das ich wüsste. Aber die ist ja zum Glück auch bekloppt und unzurechnungsfähig – wie bequem :roll:

    Wenn Dorothy auf Aimery trifft könnt ich ihr wegen ihrer Art jedes mal den Kopf abreißen. Sie verachtet die anderen, die sich gehen lassen, die jammern und unselbstständig sind. Doch behandelt sie Aimery – der für Geld sorgt, Ruhe bewahrt, Dinge in die Hand nimmt – noch schlechter.

    Deswegen fand ich den plötzlichen Sinneswandel ihm gegenüber dann auch ziemlich unglaubwürdig. Während seiner Abwesenheit verschwendet sie kaum einen Gedanken an ihn. Zwar hat sie Angst, dass er umkommen könnte, ihre Sorgen sind aber eher materiell geprägt. Im einen Moment zickt Dorothy undankbar „Was soll uns scheren, ob der tot ist, er schert sich um uns keinen Deut“ und im nächsten Moment fällt Gocelin und ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie Aimery ja so sehr liebt. Für mich zu plötzlich und nicht nachvollziehbar, hier fehlt eindeutig das berüchtigte etwas mehr. Es heißt zwar immer, was sich neckt das liebt sich, aber Aimery gegenüber verhält sich Dorothy meist einfach aggressiv dominant.. Dorothy befiehlt… Dorothy herrscht..

    Da fällt mir ein, dass sie nie kommentiert hat, was sie eigentlich davon hält, als Namenspatin für Aimerys Schiff herzuhalten.

    Sehr unsympathisch finde ich übrigens Isemay, über die hier noch niemand ein Wort verloren hat. Ich stimme Dorothy in ihrer Schuldzuweisung für den Tod des kleinen Clement zu. Der Kleine könnte noch leben, wenn die dumme Gans auf ihn aufgepasst hätte, statt mit Ronald durch die Stadt zu ziehen.

    Isemay hat die Kleinen ja in Symonds Obhut gelassen,.. ich kann sie verstehen.. jung.. verliebt – wie hätte sie ahnen können, dass ihre Nachlässigkeit grad an diesem Tag zu solch einem Unglück führt. Hier ist Dorothy allerdings nicht konsequent, soll sie die beiden doch rausschmeißen, wenn sie sie so sehr hasst, genauso Symond, dessen Anwesenheit ich als richtig unangenehm empfinde – aber dazu gefällt sie sich wohl zu sehr in der Rolle der Mutter Teresa.

    Mir selbst hat beim Wiederlesen uebrigens am wenigsten gefallen, dass ich den Hetfend so einseitig gestaltet habe. (Sowas zuzugeben, ist vermutlich nicht so besonders schlau, aber ...) Es ist eine Nebenfigur, so sehr viel Platz durfte er nicht einnehmen, aber er waere wichtig genug gewesen, ihn differenzierter zu zeichnen.

    Eben weil er eine Nebenfigur ist, ist mir das nicht so arg aufgestoßen, auch wenn mit der Zeit auffällt wie begrenzt sein Wortschatz eigentlich ist. Es gibt ja keinen Satz, in dem er nicht sein Lieblingswort Sau unterzubringen weiß :loool:


    So, jetzt ist mein Bericht ja ziemlich ausgeartet und ich hab noch gar nix zum eigentlichen Verlauf der Geschichte geschrieben.


    Die erste Zeit nach dem Überfall, die Bemühungen um Wiederaufbau und den Anschein von Normalität wieder herzustellen fand ich wieder sehr gut gelungen. Durch Dorothy bekommt man ein gutes Gefühl davon, wie es sein muss, nach diesem schrecklichen Erlebnis wieder ganz von vorne anfangen zu müssen. „Jetzt lebt keiner mehr, der mich kannte, gibt es mich dann noch?“
    Vor allem die Beschreibung des quälenden Hungers ist mir im Gedächtnis geblieben. Das pochende Kopfweh.. die Gedanken, die immer ums Essen kreisen und darum, den nächsten Tag zu überstehen.. wie Dorothy sich gierig und lustvoll auf das kleine Stück Schinken stürzt.. sehr plastisch.


    Aimery hat mit der Einberufung in den Rat und den Kriegs-Vorbereitungen enorm an Ansehen gewonnen. Ich mochte die strategischen Überlegungen, wie, mit welchen Waffen und in welcher Formation am Besten angegriffen werden sollte. Sowas kann auch leicht in die Hose gehen und in langweiliges Fachsimpeln ausarten, dir gelingt es aber immer sehr gut, dein Wissen unaufdringlich in die Handlung einzuarbeiten.

  • Ich hatte mit der Figur der Isemay Schwierigkeiten und finde im Nachhinein, ich habe sie - weil sie mir einfach nicht angenehm war - ziemlich stiefmuetterlich behandelt. Denn ich sehe es so, wie Du es beschreibst: Sie war jung und verliebt und hat einen laesslichen Fehler gemacht, wie ihn alle Leute mal machen. Dass daraus etwas Entsetzliches wurde, ist nicht ihre Schuld.


    So abrupt wie Du Dorothys Erkenntnis erlebt hast, haette sie nicht wirken sollen - Fehler des Autors! Ich wollte gern, dass sie zwar nicht weiss, was mit ihr passiert, weil es in die Kategorie Weil-nicht-sein-kann-was-nicht-sein-darf (ja wirklich in den Bereich des Unvorstellbaren) gehoert, dass dem Leser aber klar ist, dass ihre Gedanken in extremer Weise um Aimery kreisen. Es ist wiederum eine Stelle, an der ich mich frage, ob ich aus Angst, etwas zu offensichtlich, zu aufdringlich zu machen, etwas zu sehr zurueckgenommen habe.


    Deiner Schilderung von Gilbert (Schmerz, den er staendig "frisch haelt", weil er davon besessen ist, weil er seine Aufmerksamkeit auf nichts anderes ueber laengere Zeit lenken kann) kann ich wieder nur zustimmen.


    Herzliche Gruesse von Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
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  • Diese Begriffe assoziiere ich viel eher mit Aimery, obwohl das Leben beider mehr Parallelen aufzeigt, als ihnen lieb sein dürfte. Beiden fühlen sich einsam, keiner bekam von Vater die Liebe und Anerkennung, die er sich gewünscht hätte.

    Es ist nicht so, als würde ich Gilberts Beweggründe gar nicht nachvollziehen können, doch er ist in seinem Denken und Tun unheimlich auf Aimery fixiert, sodass bei all dem Neid und Hass andere, vielleicht auch positive Aspekte seines Wesens wenig zur Geltung kommen. Wenn man bedenkt, dass Helewises Tod schon so viele Jahre zurück liegt, kommt mir sein Schmerz noch sehr frisch vor.

    Aimerys Liebe zu seiner Arbeit, die Erfüllung durch das Handwerk, die ihn so sympathisch macht, geht Gilbert beispielsweise völlig ab. Er hat weder Talent noch das Herzblut für den Bau eines Schiffes, seine Motivation entspringt lediglich dem Wunsch, Aimery eins auszuwischen. Gilbert gibt vor jemand zu sein, der er nicht ist. Ein Schauspieler, der sich gut verkaufen kann. Am ehesten lässt sich mein Gefühl ihm gegenüber noch mit Angst beschreiben. Angst, weil er skrupellos und besessen ist von dem Gedanken an Rache.

    Dem kann ich mir absolut anschließen.

    Jetzt im letzten Teil kommt Gilbert ein wenig besser zur Geltung. Allerdings hab ich mich die ganze Zeit gewundert, wieso er automatisch davonausgeht,

    Hier habe ich mir (bis hin zur Geburt :wink: ) überlegt, wie er wohl reagieren würde, wenn es denn gerade anders herum kommt... :-k


    Das Verhalten Dorothys Aimery gegenüber... hm... ich weiß nicht... Anderen gegenüber redet sie ja ziemlich barsch über ihn daher, das hätte ich evtl. als "Schutzmauer für ihr Innerstes" interpretiert. Aber ihm gegenüber ist sie ja zunächst auch so grob und ja, herrisch... :-k Mich wundert diese Zuneigung überhaupt nicht, aber dafür ein paar Mal das Verhalten ihm gegenüber.

    Liebe Lesegrüße
    Eure Süße
    :study::)


    Erinnerungen, die unser Herz berühren, gehen niemals verloren.

  • Aber ihm gegenüber ist sie ja zunächst auch so grob und ja, herrisch... :-k Mich wundert diese Zuneigung überhaupt nicht, aber dafür ein paar Mal das Verhalten ihm gegenüber.


    Ich nehme an, dass ihr sein ewiges Gezaudere und die (ungerechtfertigten) Schuldgefühle mächtig auf den Keks gehen. Ich würde ihn auch gern mal kräftig durchschütteln. ;)

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Aber nicht zu grob sein, nein, Enigma?


    Sie versteht ihn oft einfach nicht, das macht sie nervoes und ja - es geht ihr auf den "Keks". Er gehoert in ihrer Weltsicht allzu oft zu den Verfechtern der Devise "Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht?" Aber deshalb schleifen sie sich auch aneinander ab und strecken sich ein bisschen weiter, als sie's getan haetten, wenn sie ueber den eigenen Tellerrand nicht haetten schauen muessen.


    Alles Liebe von Charlie

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  • Ich bin jetzt mit dem Buch fertig und habe mich bis zum Schluss über Aimerys Schuldkomplex gewundert. Wie ich es mir gedacht hatte,


    Ich hoffe, dass Dorothy ihm in den kommenden Jahren den Kopf noch etwas zurechtrückt.
    Ist vielleicht eine Fortsetzung geplant, oder muss man sich von den Fletchers für immer verabschieden?

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  • Ich bin kein Fortsetzungsmensch, Enigma. Ich mag sie lesend nicht (Ausnahmen bestaetigen die Regel) und schreibend auch nicht.
    Zum Thema Schuldkomplex - nein der ist nicht "nur deshalb" entstanden, sondern sitzt tiefer und ist aelter, ansonsten kann man, denke ich, Menschen keinen so schweren Schuldkomplex einpflanzen - vielleicht noch mehr im letzten Ordner? Hier kann ich mich sonst bestimmt wieder mal nicht beherrschen und sabbele alles aus.


    Alles Liebe von Charlie

    "Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nee, in Paris regnet's ja jetzt auch." Ararat - "Und sie werden nicht vergessen sein" Knaur, 1. März 2016
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