Wilhelm Genazino - Ein Regenschirm für diesen Tag

  • Klappentext:
    Geld verdienen kann man mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten. Zum Beispiel, indem einer seinem Bedürfnis nach distanzierter Betrachtung der Welt folgt, als Probeläufer für Luxusschuhe. Er durchstreift die Stadt mit englischem Schuhwerk, trifft dabei zwangsläufig auf eine seiner offenbar zahlreichen früheren Freundinnen, verfaßt Gutachten, für die er 200 Mark bekommt. Doch das Arrangement bröckelt. Seine letzte Freundin, Lisa, verläßt ihn, weil sie seine Weigerung, an der Welt mehr als nur flaneurhaften Anteil zu nehmen, nicht mehr erträgt. Und als das englische Schuhhonorar auf 50 Mark herabgesetzt wird, ist Not am Mann.


    Ein namenloser Ich-Erzähler geht durch die Straßen. Er macht sich Gedanken zu merkwürdigen Beobachtungen, er fühlt sich weder unter anderen Menschen, noch in seinem eigenen Leben daheim, er seziert jede kleine Begebenheit, jede noch so unbedeutende Begegnung im Hinblick auf seine eigene Befindlichkeit.
    Ich würde den Protagonist nicht mit dem neudeutschen Wort "Loser" charakterisieren. Das Wort klingt nach schicksalhafter Depression, nach unverschuldetem Abstieg. Nein, der Mann ist einfach ein Faulenzer. Ein hochintelligenter, ein Wort- und Ideenschöpfer, ein Möchtegern-Philosoph, ein Voyeur, der sich bei den banalsten Alltäglichkeiten aufhält und sie zum Mittelpunkt seines Denkens macht. - Wer kommt schon auf die haarsträubende Idee, seiner Schwermut einen Vornamen zu geben? - Gertrud nennt er sie.
    Handlung des Buches? Keine.


    Das könnte natürlich ins Auge gehen, sprich: den Leser langweilen, nerven (würde ich sogar verstehen). Aber mir gefiel das pausenlose Selbstgespräch mit ständigem ironischem Blick auf all das, was den Leuten so wichtig und bedeutsam scheint (Liebe, Beruf, Arbeit, Feiern). Oder so unwichtig, dass sie keinen Gedanken an ihr Tun verschwenden (Wäsche aufhängen, Sex haben, Apfel essen). Unter den Blicken des Schuhtesters bekommt dies alles eine zusätzliche Dimension. "Guter Gott, wie mir dieser Zwang zum bedeutungsvollen Sehen auf die Nerven geht. Beinahe kann ich mir zuhören, wie ich mich selbst ermahne: Ein Kahn ist ein Kahn und sonst nichts. Kurz darauf ... "(S. 158 ) gehts natürlich mit dem beudetungsvollen Sehen weiter.


    Lesenswert. Ironisch-witzig. Originell.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Vor einigen Wochen habe ich diesen Genazino nun auch gelesen.


    Und wieder muss ich sagen: Genazino ist wirklich nicht für jeden etwas. Die Intensität und Absurdität mit der er in die einfachsten Alltagsgedanken eindringt und sie verdreht, mag einige nerven und zu an den Haaren herbeigezogen vorkommen. Aber ich finde, dass Genazino den Blick für das Kleine, Schöne im Leben schärft.
    Aber einfach weglesen kann man einen Genazino nicht. Nach einigen Seiten ist man immer satt und muss pausieren. Oder geht das nur mir so?


    Trotz der wirklich wieder großen, kleinen Beobachtungen ging mir dieses mal aber die Nutzlosigkeit, Faulheit und Sprunghaftigkeit des Protagonisten ein wenig auf die Nerven.
    Deswegen: :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    Ich :study:
    J.M.Coetzee - Das Leben der Tiere
    Erzählungen von Franz Kafka
    Gedichte von Allen Ginsberg und Cummings

  • Endlich habe ich mal was von Genazino gelesen und kann nun verstehen, dass er für einige ein beliebter, für andere eventuell ein nerviger, Autor ist.


    Anfänglich sah ich in diesen aneinander gehängten Perlen auf einer Schnur „nur“ das Anekdotenhafte, Lustige. Denn das ist schon klar, dass man viel schmunzeln kann. Einen „roten Faden“ sah ich zunächst nicht, es sei denn die Verbindung durch die Beobachtungen beim Flanieren und den assoziierten Erinnerungen.


    Später wird einem zunehmend auch etwas Schwermütig-Trauriges klar. Beides kann halt in unserem Leben nebeneinander stehen.


    Nicht ganz verstanden habe ich mehrere, fast seltsam anmutende Bezüge (5-7) auf behinderte Mitmenschen und Tiere (!), die ich nicht ganz einordnen kann und die – wenn man nicht vom Wohlwollen des Autors ausgehen mag – auch falsch verstehen kann. Ich verstand es dann so, dass er sich selber vielleicht ebenfalls auf einer gewissen Ebene als "behindert" sind?
    Auf jeden Fall sehr auffällig.


    Die Lesarten von Marie und Shia erweitern nun noch mein eigenes Lesen – danke!