Atiq Rahimi – Stein der Geduld / Syngué sabour

  • Der Autor stellt uns in einen kurz angedeuteten Raum, der gut für ein Theaterspiel geeignet zu sein scheint: die Nennung von Afghanistan (oder anderswo...), ein Zimmer, ein Mann, eine Frau (ohne Eigennamen), als Hintergrundgeräusche ein Konflikt. Der Mann ist anscheinend durch eine Verletzung komplett apathisch: keine Bewegung, kein Ton, nur die rhythmische Atmung. Die Frau, seine Frau, pflegt ihn, ist hin und hergerissen zwischen Aufgabe und Anklage, Dabeibleiben und Weggehen. Zunächst ist es das Beten des Gottesnamens gemäß der Tradition, die ihrer Gegenwart mit den Atemzügen des Mannes einen Rhythmus geben. Immer mehr lösen sich ihre Lippen zu einem befreienden Erzählen und Klagen des Erlebten: Geschichte der Unterdrückung einer Frau in einer religiös, sozial und sexuell von Männern beherrschten Welt.


    Der Titel greift eine persische Mythologie auf: dem „geduldigen Stein“, vor einen gelegt, werden alles Unglück und Leiden anvertraut, alles, was man keinem anzuvertrauen wagt. Und der Stein hört zu, saugt die Worte und Geheimnisse auf wie ein Schwamm bis er eines Tages berstet. An jenem Tage würde man Befreiung erfahren.


    Ja, nach Jahren des Hinnehmens ist nun die Frau jene, die einerseits – eine Neuheit in ihrem Leben – den Leib ihres Mannes einerseits in ihrer ganzen Obhut hat, und zur selben Zeit endlich mal sein Ohr (es bleibt fragwürdig, inwieweit der Mann wirklich hören kann...) gewinnt für all ihr inneres Erleben und Spüren. Ihr Mann wird zu ihrem „Stein der Geduld“. Wie viel Leid kommt da hoch, und doch bleibt da wie ein Wechselspiel zwischen tiefster Anklage und einer jetzt erst möglichen Zärtlichkeit und Fürsorglichkeit, vielleicht gerade weil der Mann keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen hat.


    Das Ende des Buches bleibt der Interpretation des Lesers überlassen: Traum, Wirklichkeit? Befreiung?


    Die Sprache spiegelt die Wiederholungsgebete des Namens Gottes als auch das unheimlich werdende gleichförmige Atmen des apathischen, bewegungslosen Mannes wieder. Sie hat beizeiten etwas Hämmerndes, Einschneidendes. Sie spielt nicht mit großen Wortneuschöpfungen, sondern gerade durch ihren Rhythmus.


    Nach dem Lesen bleiben Fragen und Bilder des Buches noch lange in einem lebendig. Wann werden die Frauen und Männer dieses Landes – und aller Länder – Befreiung und Trost finden?


    Hier Atiq Rahimi hat Alixe den afghanischen Schriftsteller Atiq Rahimi schon vorgestellt und auch dieses Buch erwähnt.


    --------------------------------------------------------------------------------
    Détails sur le produit
    Broché: 155 pages
    Editeur : POL (25 août 2008)
    Collection : FICTION
    Langue : Français
    ISBN-10: 2846822778
    ISBN-13: 978-2846822770


    Demnächst auf Deutsch als „Stein der Geduld“.

  • Ich sah gerade, dass dieses Buch schon im September unter dem Titel "Stein der Geduld" in deutscher Übersetzung erschienen ist! Also nochmals nun eine herzliche Empfehlung an die deutschsprachigen Leser!!!

  • tom,
    danke für die Erinnerung - jetzt weiß ich wieder, welches Buch meine Wunschliste noch fehlt. Auch wenn es bis zum Lesen bestimmt noch dauern wird. :wink:

  • Die Lektüre dieses Buches hat mich sehr beschäftigt. Diese Frau welche ihren Gefühlen mit Worten welche sie nie gewagt hätte auszusprechen im täglichen Leben Ausdruck verleiht, zeugt von einer Unterdrückung welche fast unvorstellbar ist. Dazu kommt das Unwirkliche dessen was draussen geschieht.
    Man spürt die Angst die sie hat, dennoch ist sie sehr mutig. Ihre Worte bedeuten Befreiung auch wenn sie nicht weiss wohin diese führt.
    Für den Leser bietet dieses Buch eine Möglichkeit die Wirklichkeit zu sehen wie sie tatsächlich ist.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

    Einmal editiert, zuletzt von serjena ()

  • Schade, dass dieses Buch nicht mehr Leser hat oder mehr Reaktionen hervorruft... Danke, Serjena, uns an dieses Buch zu erinnern.


    Und es ist seltsam, dass ich vorgestern daran dachte, hier etwas anzufügen, was mir in dieser Woche aufgefallen ist: Durch Zufall fand ich dieses Thema, dieses Motiv des "Steines der Geduld", bzw des "Geduldssteines" wieder in folgendem Buch, von dem ich hier kurz sprach: Emine Sevgi Özdamar - Mutterzunge: Erzählungen


    So ist das Bild also i, jenen Kulturwelten verbreiteter?!


    Ich erinnere auch an eine fernostasiatische Variante. Im Film "Yi-Yi" spricht zum Abschluß ein Hauptakteur sein Leiden in eine Mauerwand.


    Vielleicht ist die Klagemauer, auf der jüdischen Seite, auch ähnlich interpretierbar...?!

  • Irgendwo in Afghanistan: Eine Frau sitzt am Bett ihres Mannes. Er hat eine schwere Kopfverletzung und liegt im Koma.
    Die Frau beginnt zu erzählen. Sie sieht den Mann als ihren Stein der Geduld an.
    In der afghanischen Mythologie ist der Stein der Geduld, ein Stein, dem man alles sagen kann, sämtliches Leid und Unglück, sämtliche Geheimnisse, die einen bedrücken. Irgendwann ist der Stein voll und zerspringt und dann würde man befreit sein von den Problemen.


    Der Erzählstil ist ungewöhnlich. Das Buch ist wie ein Theaterstück inszeniert. Beschrieben werden nur die Ereignisse, die direkt im Zimmer des Mannes stattfinden. Wenn die Frau das Zimmer verlässt, um Essen zu kochen, Besorgungen zu machen, dann bekommt man das nur am Rande mit, wie aus weiter Ferne. Innerhalb des Zimmers wird alles genau beschrieben, auch die Fliegen und die Spinne in der Ecke. Und von draußen hört man die Schüsse der Kämpfenden, das Husten und die Schreie der Nachbarin.


    Und die Frau erzählt ihrem Mann von ihren Gefühlen. Wie es für sie war, als kleines Mädchen zu erleben, wie die Mutter vom Vater geschlagen wird. Wie sie verheiratet wurde - eine Ehe, die in Abwesenheit des Mannes geschlossen wurde, da er zu der Zeit gerade irgendwo gekämpft hat. Und wie sie deshalb ihre verheirateten Freundinnen nicht mehr sehen durfte, denn das schickt sich nicht für eine jungfräuliche Braut.


    Wie auch die anderen Bücher von Atiq Rahimi ist auch dieses recht dünn, mit gerade mal 170 Seiten. Aber dafür ist es unglaublich dicht und intensiv erzählt. Vieles bleibt unklar. Es gibt keine Namen, es wird immer nur von dem Mann und der Frau gesprochen. Auch der Ort selber bleibt unklar. Allerdings fand ich das Buch dadurch nur noch eindringlicher.
    Ob der Mann hört, was seine Frau sagt, bleibt unklar. Ich bin mir über das Ende nicht ganz sicher - träumt die Frau? Oder ist es Realität?
    Auf jeden Fall ist es sehr bedrückend - kein Buch, das einem wenigstens noch ein bisschen Hoffnung gibt.
    Was die Bewertung angeht, da habe ich lange hin und her überlegt. Letzten Endes vergebe ich doch nicht die volle Punktzahl, denn obwohl mich das Buch wirklich sehr beeindruckt hat, mir fehlt noch etwas. Was dieses etwas sein soll, weiß ich allerdings auch nicht, bzw. kann es nicht in Worte fassen. Auf jeden Fall ist es sehr beeindruckend und gefiel mir noch etwas besser als die anderen Bücher von Atiq Rahimi, die ich bisher gelesen habe.


    Fazit: Kurz, knapp, karg, aber sehr beeindruckend.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Man denkt während des Lesens an ein Theaterstück: Ein Raum, in dem sich alles abspielt. Selbst wenn die Frau weggeht, selbst wenn keine Figur außer dem Mann im Koma mehr im Haus ist: Der Leser bleibt in diesem Raum und nur in diesem Raum. Die Zahl der Akteure ist begrenzt. Außer Mann und Frau noch zwei Männer in kurzen Passagen. Dennoch entfaltet sich das gesamte Leben der Frau; sie ist zum ersten Mal ihrem Mann gegenüber ehrlich. Seine Bewusstlosigkeit schützt sie.

    Das Ende des Buches bleibt der Interpretation des Lesers überlassen: Traum, Wirklichkeit? Befreiung?

    Meiner Meinung nach ist der Schluss die logische Pointe des Stein-Motivs und zwar:

    Und der Stein hört zu, saugt die Worte und Geheimnisse auf wie ein Schwamm bis er eines Tages berstet. An jenem Tage würde man Befreiung erfahren.


    Von Atiq Rahimi habe ich "Erde und Asche" gelesen, das mir wesentlich mehr unter die Haut ging.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • In diesen Tagen lese ich ein kleines Büchein mit sieben Kurzgeschichten (=Miniaturen teils) des persischen Autors Sadegh Tschubak. Leider auf Französisch... Jedoch ist in der hervorragenden Einführung auch eine längere biographische Notiz drin, in der von einem Hauptwerk des Autors gesprochen wird, was mir unbekannt ist, aber in jener Zeit wohl Aufmerksamkeit erregte. Und es hat eben diesen Titel "Stein der Geduld"/Sange sabur!


    Ob Rahimi also hier auch einem großen Schriftsteller eine Hommâge gibt?


    Sadegh Chubak (=Tschubak) wrote his novel The Patient Stone which is a great modern novel in Persian literature. This novel details the events in a neighborhood. One of the neighbors called ‘Gowhar’ is lost and the characters talk about her from their own point of view. Gowhar is the wife of Hajj Ismail the merchant. Since her child has a nosebleed in the shrine, she is accused of adultery and driven out of her home. Now she earns her living on a temporary-basis marriage with different men. The story begins with her loss and ends with the discovery of her body among the victims of Seif al-Qalam, the killer of whores. All the characters of the novel are infernally captivated by their desires and deterministic powers. They are all exposed to threats of death, rape, and violence. The destructive influence of superstitions is clearly discernible in their lives. The novel is divided into 26 sections, each section narrated through free association. Gowhar is absent in the novel but she constitutes the main talk of the characters. Gowhar which literally means jewel can be taken as a symbol for the lost jewel of humanity in the society. Chubak depicts a very brutal world in which people are extremely mortified and they cannot bear the sight of each other.

  • Ich finde mich in vielen eurer Beiträge wieder. Die Erzählung ist so dicht und wurde sehr beklemmend, da sich alles in nur einem Raum abspielt. Dazu noch die Geräusche wie Schüsse oder Panzer, die Schreie und das Husten der Nachbarin. Alles äußerst erschreckend. Und langsam entfaltet sich das ganze Leben der Frau vor einem. Sie spricht sich alles von ihrer Seele, alles erlittene und traurige, ihre Wünsche und Sehnsüchte, aber auch ihre aufgestaute Wut. Kein Geheimnis bleibt verborgen. Alles bricht aus ihr heraus. Geschützt nur dadurch, dass ihr Mann im Koma liegt.

    Diese Unterdrückung, die die Frau aushalten musste (und vermutlich auch noch muss, denn ändert sich wirklich was?) macht einen sprachlos. Unfassbar, dass sich das so ähnlich wieder und wieder abspielen dürfte.


    Was die Bewertung angeht, da habe ich lange hin und her überlegt. Letzten Endes vergebe ich doch nicht die volle Punktzahl, denn obwohl mich das Buch wirklich sehr beeindruckt hat, mir fehlt noch etwas. Was dieses etwas sein soll, weiß ich allerdings auch nicht, bzw. kann es nicht in Worte fassen.

    So erging es mir auch. Obwohl das Buch sehr klug aufgebaut ist, mich auch äußerst beeindruckt, fehlt mir irgendwas und auch ich kann es nicht in Worten fassen. Ich habe mich dann für 4-Sterne entschieden.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024