Charles Lewinsky - Melnitz

  • „Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück“. Mit diesem Satz beginnt und endet der Roman über das Leben einer jüdischen Familie in der Schweiz zwischen 1871 und 1945. Wer sich partout nicht begraben lässt, ist Onkel Melnitz. Als ruheloses Gespenst der Erinnerung an die von Verfolgung und Leid geprägte Geschichte der Juden geistert er durch die Handlung, mischt sich mal mit stichelndem Spott, mal mit beißender Ironie in die Entscheidungen seiner Sippe ein und warnt sie davor, sich Illusionen hinzugeben, denn „ein Jude bleibt ein Jude bleibt ein Jude“. Am Ende wird er Recht behalten.


    Die Erzählung setzt 1871 ein, in Endingen, einem von zwei Schweizer Dörfern, in denen Juden sich dauerhaft niederlassen durften. Hier lebt Salomon Meijer mit seiner Frau Golde, seiner verwöhnten Tochter Mimi und der Ziehtochter Channele mit den zusammengewachsenen Augenbrauen und dem nüchternen Verstand. Der knorrige Patriarch hat es als Viehhändler zu einem gewissen Wohlstand gebracht und ist stolz darauf, überall als ehrlicher Mann zu gelten. Doch das fest gefügte, von religiösen Traditionen geprägte Leben der Familie ändert sich grundlegend, als am Ende der Trauerwoche für Onkel Melnitz eines Nachts ein aus Kriegsgefangenschaft entflohener französischer Soldat an die Tür klopft und sich als entfernter Verwandter vorstellt. Janki Meijer will sich nicht mit einer stillen Existenz am Rande der Gesellschaft zufrieden geben. Er träumt von einem eigenen Geschäft, von Erfolg und Ansehen. Wenig später ist er nicht nur der Schwiegersohn Salomon Meijers, sondern auch Besitzer eines Stoffladens in der nahe gelegenen Kleinstadt Baden. Damit beginnt der wirtschaftliche Aufstieg der Familie, aber auch ihr ständiger Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Die Meijers haben Glück, in der Schweiz ist der Antisemitismus nicht mörderisch. Doch auch hier werden die Juden nur geduldet und müssen mit Ausgrenzung, Feindseligkeiten und Demütigungen leben. Vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens folgt der Roman den Lebenswegen von fünf Generationen, deren Schicksal, vom altmodischen Opa Salomon bis zu dessen kämpferischen Ururenkel Hillel, immer auch exemplarisch für das Schicksal der Juden in dieser Epoche ist. Scheint sich ihre Hoffnung auf Gleichberechtigung in der wirtschaftlichen Blütezeit nach dem deutsch-französischen Krieg zunächst zu erfüllen, bedeutet das antisemitisch motivierte Schächtverbot 1893 einen herben Rückschlag. Auch von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, den Weltkriegen, den Judenpogromen in Osteuropa, dem Nationalsozialismus und der Massenvernichtung, bleibt die Familie nicht verschont. Wenn am Schluss Onkel Melnitz gar nicht mehr weggeht, in jedem Haus wohnt, an jedem Tisch sitzt, in jedem Bett schläft, werden auch die Hoffnungen und Pläne der Familie Meijer gescheitert sein.


    „Melnitz“ ist eine facettenreiche, historisch detailgetreue Familienchronik mit nicht sehr differenziert gezeichneten, aber einprägsamen Figuren, lebendigen Dialogen und hintergründigem Humor. Obwohl sie spannend zu lesen ist, werden dramatische Töne vermieden. Die Meijers sind durchschnittliche Leute und führen ein durchschnittliches Leben, in dem wohltätige Kleidersammlungen, Veranstaltungen des Turnvereins und kleine Familienfeste schon die Höhepunkte bilden. Was ihnen an Glück und Leid widerfährt, und das ist im Laufe eines dreiviertel Jahrhunderts nicht wenig, wird mit Gelassenheit, Witz und Melancholie geschildert. Einen breiten Raum nimmt die Beschreibung jüdischer Sitten und Gebräuche ein, die der Geschichte Authentizität verleihen und trotz ihrer zunächst etwas exotischen Wirkung den Leser immer vertrauter mit der Familie werden lassen. Gekonnt verwebt Lewinsky die individuelle Geschichte seiner Figuren mit dem Schicksal der Juden in der Schweiz und in Europa. Bei aller Unterhaltsamkeit ist in dieser opulenten Familiensaga das pessimistische Weltbild stets spürbar. Auch im hanswurstartigen Auftreten des Widergängers Onkel Melnitz mit seinem meckernden Lachen und seinem um den knochigen Körper schlotternden schwarzen Anzug schwingt immer ein Moment des Grauens mit. Obwohl man bisweilen vorhersieht, was kommen wird, und die jüngeren Generationen etwas blass bleiben, ist „Melnitz“ ein gut gemachter, lesenswerter Schmöker.


    Zum Autor: Charles Lewinsky, geboren 1946, lebt in Zürich. Er arbeitet als Dramaturg, Regisseur und Redakteur sowie seit 1980 als freier Autor. Neben Hörspielen und Theaterstücken schreibt er Romane und Erzählungen, u.a. "Die Talkshow", "Johannistag", "Zehnundeine Nacht".


    Gruß mofre

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    :study: James Wood - Die Kunst des Erzählens















  • Ach Mist, natürlich muss es 1871 heißen. Vielleicht könnte Brigitte formerly known as Bonprix :loool: das verbessern? Ich danke Euch beiden.


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  • Danke, Brigitte. Du bist genau so hilfsbereit zur Stelle wie Bonprix! :applause:


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  • Dieses Buch subt seit Weihnachten bei mir. Ich bin gespannt, ob ich es dieses Jahr schaffe, es zu lesen. Jedenfalls hat mich deine Rezi neugierig darauf gemacht.

  • Ausgangspunkt ist eine kleine Schweizer Stadt im Jahre 1871. Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich geht dem Ende entgegen, und die kleine jüdische Familie Meijer lebt davon weitgehend unberührt ihr beschauliches Leben im Städtchen, geprägt von den Traditionen ihres Glaubens und den gegensätzlichen Mädchen im Haushalt, der modebewussten, eleganten Miriam, Mimi genannt, und der eher praktisch veranlagten Hanna, die überall nur als Chanele bekannt ist.


    Eines Abends taucht jedoch ein junger Mann auf, einen blutigen Verband um den Kopf, und stellt sich als Janki Meijer vor, einen entfernten Verwandten, der auf französischer Seite gekämpft und sich nun in die Schweiz durchgeschlagen hat. Freundlich, aber auch ein wenig skeptisch wird er von der Familie aufgenommen und beschließt, auf Basis seiner Erfahrungen als Assistent eines berühmten Pariser Schneiders ein Modegeschäft zu eröffnen ...


    Dies ist der Beginn einer breit angelegten Familiengeschichte, in der man Kitsch und Schmalz zum Glück vergeblich sucht, ein detailreiches und farbenprächtiges Gemälde. Mit Herz und Humor beschreibt Charles Lewinsky das Leben einer jüdischen Familie zwischen 1871 und 1945, Liebe und Leid, Intrigen und Zusammenhalt, Integration und Anfeindungen, Geschäftsleben und religiöses Brauchtum, Tragisches und Komisches.


    Zahlreiche jiddische und auch einige schweizerische Ausdrücke tragen zur Authentizität bei, die jiddischen Wörter und Redewendungen sind in einem umfangreichen und interessanten Glossar erläutert.


    Die vielen Meijers, die man im Laufe des Buches kennenlernt, sind Menschen wie du und ich, mitten aus dem Leben gegriffene Figuren, sehr lebendig und glaubwürdig, als könnten sie einem auf der Straße begegnen, wenn man eine Zeitreise unternähme.


    Ein rundum gelungener Wälzer, der die Ereignisse der Zeitgeschichte wunderbar mit der Chronik der Familie Meijer verwebt. Selbst die Sprache ist ein Genuss, wort- und bildreich und oft mit einem kleinen ironischen Augenzwinkern.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Eine empfehlenswerte, trotz der nahezu 800 Seiten doch kurzweilige Geschichte. Inhaltlich haben @mofre und @Magdalena das Wesentliche geschrieben, sodass ich nur den Thread entstauben und wiederbeleben möchte. Langweilig fand ich den Roman zu keiner Zeit, allerdings war mein Eindruck nach 300 Seiten eher durchschnittlich. Ganz netter Familienroman, rasch runter zu lesen, aber vermutlich ebenso rasch wieder vergessen. Mit der zweiten und dritten Generation allerdings gefiel mir die Geschichte immer besser, wurde etwas komplexer und insbesondere Onkel Melnitz schafft es, den Roman aus der Masse herauszuheben.
    Froh war ich zudem über das Glossar und den Familienstammbaum am Ende des Buches, denn mit den zahlreichen jidischen Ausdrücken war ich bislang nicht vertraut.


    Das war mein erstes Buch von Charles Lewinsky; "Gerron" liegt schon auf dem SUB - ich freue mich drauf!

  • entstauben und wiederbeleben

    Das will ich auch!


    Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Ein Schmöker der guten Art, finde ich - ein Familienepos und ein Geschichtsepos! Fünf Generationen einer jüdischen Familie in der Schweiz werden dem Leser vorgeführt, ihr tägliches Leben, ihre Einbindung in die jüdische Gemeinschaft, ihre Feste, ihre Geschäfte, ihr Familienleben. Und auch die Vorurteile, denen sie ausgesetzt sind und die ihnen die Integration in die Gesellschaft trotz Taufe) verwehren. "Jud bleibt Jud."

    Mir hat sehr gut gefallen, wie süffisant der Autor die offizielle, menschenverachtende und antisemitische Haltung der Schweiz während der 30er Jahre beschreibt.


    Onkel Melnitz, die Titelfigur, halte ich für einen guten Kunstgriff! Er ist ein Wiedergänger und stirbt so lange nicht, wie er lebendig bleiben muss, sagt er. Er ist ein Misanthrop, ein Pessimist und verkörpert das Bild des ewigen Juden, des Ahasver, der ruhelos und heimatlos durch die Zeiten streift, immer auf der Suche nach dem verheißenen Land. Melnitz ist zugleich das kollektive Gedächtnis des Judentums und erinnert daran, dass es Ausgrenzungen, Verfolgungen etc. immer gegeben hat.


    Trotz dieser trüben Dinge erzählt der Roman seine Geschichte in gelassenem Ton; es gibt keine Schuldzuweisungen, keine Aufgeregtheiten. Erzählweise und Sprache sind geprägt von einem heiteren, gelassenem Humor.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).