Kazuo Ishiguro - Damals in Nagasaki / A Pale View of Hills

  • Originaltitel: A pale view of hills


    Schon wieder ein Roman über ein Einwandererschicksal. Seit Anfang des Jahres scheine ich unbewusst bei meinen Einkäufen ein Händchen für solche Geschichten zu haben. Da ich den Roman kaufte, ohne auf den Inhalt zu achten - ISHIGURO auf dem Einband reicht bei mir inzwischen für die Kaufentscheidung...


    Die Japanerin Etsuko lebt in England und genießt den Besuch ihrer Tochter Nikki - auch wenn der Anlass des Besuchs ein trauriger ist: Etsukos erste Tochter Keiko, noch in Japan geboren hat sich das Leben genommen. Etsuko wird von Träumen geplagt und ihre Erinnerungen führen sie zurück in das Nachkriegs-Nagasaki ihrer Jugend. Diese Erinnerungen werden dem Leser in der Form von Rückblenden präsentiert und nach und nach enthüllt sich Etsukos Vergangenheit. Einen besonderen Stellenwert nimmt in ihren Überlegungen die rätselhafte alleinerziehende Nachbarin Sachiko ein. Während Etsuko mit ihrem Mann Jiro in einem der Wohnblocks der neuen Siedlung lebt, üben Sachiko und ihre Tochter Mariko in ihrem alleinstehenden Häuschen eine fesselnde Faszination auf Etsuko aus. Wie Sachiko immer wieder betont, ist ihre Anwesenheit in diesem höflichen Umfeld nur vorübergehender Natur. Sie plant, mit ihrem amerikanischen Liebhaber in die USA auszuwandern, doch erlebt eine Anzahl an Rückschlägen. Etsuko, zu diesem Zeitpunkt schwanger mit Keiko, macht zaghafte Versuche, die ältere Frau als Freundin zu gewinnen. Die Kontraste zwischen den beiden Frauen sind groß und man fragt sich bis zum Schluss, wie Etsuko letztendlich in England landete...



    Wie man es von ihm gewohnt ist, ist auch "Damals in Nagasaki" ein ruhiger, melancholischer und oberflächlich einfach zu lesender Roman, der den schnellen Leser wohl etwas unbefriedigt zurücklassen wird. Beginnt man sich mit der Thematik und den versteckten Botschaften auseinanderzusetzen, entdeckt man jedoch eine Fülle an Zusammenhängen, die einen Reiz zum Entblättern der Schichten auslösen.


    Nach der Lektüre habe ich ein wenig nach anderen Meinungen recherchiert und bin dabei auf einen interessanten Ansatz gestoßen, den ich selbst zwar nicht hundertprozentig überzeugend finde, aber der nachvollziehbar ist:



    Dieses Spiel mit der Fantasie des Lesers jedoch ist umwerfend konstruiert und die Tatsache, dass beide Auffassungen nebeneinander bestehen können, sind für mich Beweis für Ishiguros Können.


    Ein faszinierender, tiefgehender Debütroman, den ich sicher nochmal lesen werde!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • ISHIGURO auf dem Einband reicht bei mir inzwischen für die Kaufentscheidung.


    Kann ich gut verstehen. Daher wieder ein Neuzugang auf meiner Wunschliste.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)




  • Kann ich gut verstehen. Daher wieder ein Neuzugang auf meiner Wunschliste.


    Marie


    Du wirst es sicher nicht bereuen. Zur Zeit ist noch "An artist of the floating world" ("Der Maler der fließenden Welt") auf meinem SUB, zu dem ich hoffentlich auch bald komme und dann vorstellen werde.

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Schon wieder ein Roman über ein Einwandererschicksal. Seit Anfang des Jahres scheine ich unbewusst bei meinen Einkäufen ein Händchen für solche Geschichten zu haben. Da ich den Roman kaufte, ohne auf den Inhalt zu achten - ISHIGURO auf dem Einband reicht bei mir inzwischen für die Kaufentscheidung...!


    Mich wundert bei Dir weder die Verlockung durch Einwandererschicksale :wink: , noch dass Ishiguro inzwischen für Spitzenqualität steht :thumright: . Ich sehe es genauso und habe inzwischen - glaube ich - alles gelesen, was auf dem Markt ist. Und Du wirst den Vorteil haben, ihn auf Englisch geniessen zu können (was ich auch getan habe).


    Wie man es von ihm gewohnt ist, ist auch "Damals in Nagasaki" ein ruhiger, melancholischer und oberflächlich einfach zu lesender Roman, der den schnellen Leser wohl etwas unbefriedigt zurücklassen wird. Beginnt man sich mit der Thematik und den versteckten Botschaften auseinanderzusetzen, entdeckt man jedoch eine Fülle an Zusammenhängen, die einen Reiz zum Entblättern der Schichten auslösen.


    Ja, ich unterstreiche Deine Bemerkungen zu Ishiguros Schreibweise. Das sieht alles so relativ einfach aus. Und auch mir erschien das Englisch fast verwirrend einfach. Da gibt es keine absolut koùmplizierten Konstruktionen und Vokabeln. Doch was der Autor in aller Einfachheit beschreibt zeigt eine ganz andere Meisterschaft!


    Du kannst Dich auch schon auf "The artist in a floating world" freuen...!


    Ich weise auch gerne auf untenstehendes Buch hin, das jedem Ishiguroliebhaber gefallen könnte: Convrsations with Kazuo Ishiguro von Brian Shaffer und Cynthia Wong.

  • Hallo tom! Schön von dir zu lesen! Ich hatte mir einen Kommentar von dir erhofft, da ich das Buch in deinem Regal gefunden habe.



    Mich wundert bei Dir weder die Verlockung durch Einwandererschicksale :wink: , noch dass Ishiguro inzwischen für Spitzenqualität steht :thumright: .


    :lol: durchschaut :lol:



    Du kannst Dich auch schon auf "The artist in a floating world" freuen...!


    Ach wie schön! Ich lege jetzt bewusst eine kleine Ishiguro-Pause ein, aber bin mir sicher, den Roman noch in diesem Halbjahr zu lesen! Und danke schön für die Buchempfehlung. Schon auf die Wunschliste geklickt!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
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  • A pale view of hills/Damals in Nagasaki


    Der Nobelpreis für Ishiguro war Anlass für mich, einen Reread zu starten. Ich landete mal bei diesem seinen ersten Roman, immerhin aus dem Jahre 1982. Er ist tatsächlich hier seit achteinhalb Jahren nicht mehr kommentiert worden !


    Und schon finden wir einige « typische » Elemente des Sprachstils als auch der Themen des Briten. Wenn die Erinnerung an die lang zurückliegende Nagasaki-Zeit für die « jetzt » in Großbritannien lebenden Etsuko nun hochkommt, so steht es ja offensichtlich in Zusammenhang mit den aktuellen Umständen in ihrem Leben. Sie ist, so oder so ( Fezzig spoilerte eine Variante), vielleicht ein « Alter Ego » zur geheimnisvollen Sachiko. Gleichen sich ihre Schicksale ?!!


    Vergangenheit(en) und Gegenwart vermischen sich. Denn tatsächlich ist auch diese Vergangenheit an sich vielschichtig : Erinnerungen (?) insbesondere an einen Sommer Anfang der 50iger Jahre, in dem Etsuko (mit Keiko) schwanger war, und sie Sochiko und ihre Tochter Mariko kennenlernt. Doch im Hintergrund, man muss da schon aufpassen, die zurückliegende Katastrophe des Krieges : sicher, Zerstörung und Unglück, Unterbrechungen von Beziehungen, Tod und Traumata einerseits, aber auch Kompromisse, unhinterfragter Patriotismus, « Treue zu den Werten » andererseits. Faschistoide Züge. Schlechte Aufnahme hier (Michiko spricht davon, insbesondere als Braut eines Amerikaners?!), oder auch da : Etsuko als Ausländerin in England, bzw ihre Tochter Keiko, die « niemals innerlich in diesem Land ankam »…


    Wie Ishiguro hier die verschiedensten Fäden verwickelt, anreisst, ist hohe Kunst. Er hat eine Art – wie auch in seinen anderen Werken – das Schreckliche, das Vernachlässigte, Verdrängte, mit einer Selbstverständlichkeit zu erzählen, mit einer Beiläufigkeit, dass man es bei schnellem oder oberflächlichem Lesen vielleicht garnicht wahrnimmt. Ja, man kann sich leicht vorstellen, dass der ein oder der andere Leser sagt : Oh, hier passiert ja garnichts Besonderes… Zwischen den Zeilen : Unausgesprochenes, Tabu-Themen, Verheimlichtes, Beschwichtigtes, Abgewunkenes, Verdrängtes, Vermeidungsstrategien.


    Man mag all das auf einer sehr persönlichen Ebene feststellen, aber auch in Hinweisen auf die grosse Geschichte. Man trägt die Wunden, auch Nostalgien, weiter, ist bewohnt von Traumatismen und verdrängter Anteilnahme an Schuld. Und insofern erinnert hier eben vieles zB an « Was vom Tage übrigblieb » etc.


    Das « pale » = fahle Licht des englischen Titels erinnerte mich an den Nebel in « Der begrabene Riese ». Wie erwähnt ist die Sprache Ishiguros anscheinend schlicht, aber von grösster Eleganz. Ein Genuß !


    Auffallend – wie in anderen Romanen – der Gebrauch des Wortes « lachte », das alles ausdrückt, ausdrücken kann. Wäre wert, eine Studie drüber zu machen…


    Natürlich sind die Themen noch viel weiter gefächert...


    Leute – zugreifen !

  • Der Originaltitel heißt "A Pale View of Hills" - vielleicht könnte das noch einer der Mods netterweise korrigieren?

  • Ich war damit leider nicht so glücklich ... vielleicht bin ich aber auch nur zu doof?


    Etsuko bekommt nach langer Zeit einmal wieder Besuch von ihrer Tochter, doch viel zu sagen haben sich die beiden Frauen nicht, selbst im Angesicht eines tragischen Todesfalles schweigen sie mehr, als ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.


    Etsukos Gedanken schweifen immer wieder zurück in die Vergangenheit. Damals in Nagasaki, nur wenige Jahre nach dem verheerenden Atombombenabwurf, hat sich die Stadt wieder aus der Asche erhoben, das Leben geht weiter, doch die grausamen Erinnerungen bleiben. Etsuko war damals jung verheiratet, ihr Mann dabei, die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen, das erste Kind war unterwegs.


    In einer ärmlichen Hütte in der Nachbarschaft hauste Sachiko, eine alleinerziehende Mutter mit einer schwierigen Tochter, der Etsuko ab und an half oder ihr Ohr lieh. Sachiko, die von einer goldenen Zukunft mit ihrem amerikanischen Liebhaber träumte und die abwechselnd brutal realistisch oder kindlich naiv sein konnte.


    Die beiden Frauen in diesem frühen Werk von Ishiguro stehen stellvertretend für eine ganze Generation junger Menschen aus Nagasaki, deren Erwachsenenleben im Schatten der Bombe begann und die schon früh lernen musste, mit zerstörten Zukunftsplänen und schlimmen Verlusten zu leben. Während Sachiko sich allein durchs Leben schlägt, allen Umständen zum Trotz an der Hoffnung auf bessere Zeiten festhält und dabei häufig überstreng mit ihrer traumatisiert wirkenden Tochter umgeht, wirkt Etsuko oft passiv, übermäßig angepasst, schafft es nur selten, den Mund aufzumachen oder zu handeln, wenn es eigentlich angebracht wäre.


    Der Erzählton - sie ist die Stimme der Geschichte - passt sich ihrer Art an, ist ruhig, langsam, die Dialoge oft ein wenig gestelzt und in ein Korsett von Höflichkeitsfloskeln gepresst. Die Handlung schwankt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, nur ganz allmählich enthüllen sich kleine Details, auch die große nukleare Katastrophe wird lange nur zwischen den Zeilen erwähnt.


    Vielleicht liegt es daran, dass so vieles unausgesprochen bleibt, dass das Buch auf mich einen unausgegorenen Eindruck macht. Verstörende Dinge geschehen, doch es wird nie gänzlich klar, warum; Begonnenes wird nicht zu Ende geführt, was mich am Schluss ratlos und etwas unzufrieden zurückgelassen hat. Es gibt zwar einige sehr eindringlich gezeichnete Szenen, ein schlüssiges Gesamtbild konnte ich für mich daraus aber leider nicht zusammensetzen. Oder ich habe schlichtweg die Pointe, so es denn eine gab, nicht verstanden.