André Heller - Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

  • Paul Silberstein ist der Sprössling eines Wiener Süßwarenfabrikanten. Sein zum Katholizismus konvertierte jüdische Vater ist ein Misanthrop der besonderen Art, tyrannisiert die Umwelt und macht seiner Familie das Leben zur Hölle. Das ungeliebte Kind wird in ein erzkatholisches Jesuiten-Internat geschickt und leidet unter den dort herrschenden Erziehungspraktiken und Zwängen. Paul flüchtet in seine Phantasiewelt, schottet sich völlig ab. In seinen Tagträumen steigt er mit der Jakobsleiter in den Himmel oder stellt sich vor, als erster Mensch in einem Asbest-Anzug in das Innere des Vesuvs zu kriechen.


    Der plötzliche Tod seines Vaters gibt Pauls Leben – und dem seiner Familie – eine überraschende Wendung.
    Anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten treffen die Silberstein-Brüder ein, Onkel Bel, Onkel Monte und Onkel York – benannt nach jenen Städten, in denen sie sich aufhalten. Die Beerdigung wird zur Farce, Anekdoten werden zum Besten gegeben, mal traurig, mal lustig, aber immer sehr bezeichnend. Den Ratschlag seines Onkels „Hör zu: Geboren wird man als Entwurf zu einem Menschen, und dann muss man zeit seines Lebens aus sich einen wirklichen Menschen machen." macht sich Paul zu eigen und beginnt, sein Leben endlich in die eigene Hand zu nehmen.


    André Heller hat mit Paul Silberstein sein Alter Ego geschaffen und gibt mit diesem Büchlein Einblick in seine schwierige Kindheit. Er klagt nicht an, er jammert nicht. Überraschend heiter, mit viel Wortwitz und Charme präsentiert er die Anekdoten und überlässt es dem Leser zu urteilen, was sich tatsächlich begeben hat, und was der schriftstellerischen Freiheit zuzuschreiben ist. „Diese Erzählung greift einige Themen und Begebenheiten auf, die meine Kindheit für mich bereithielt. Die Oberhand beim Schreiben hatte allerdings die Phantasie.“


    Franz André Heller (* 22. März 1947 in Wien) ist ein österreichischer Chansonnier, Aktionskünstler, Kulturmanager, Autor und Schauspieler.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • An zwei Dingen lag es wohl, dass ich dieses Buch vergangene Weihnachten gleich zwei mal von meiner Familie geschenkt bekam: zum einen daran, dass aufmerksame ZuhörerInnen meine Wünsche gut wahrgenommen haben, und zum anderen daran, dass zwei Familienmitglieder innerhalb weniger Stunden im selben Buchladen waren, wo Andre Heller unübersehbar und in Augenhöhe präsentiert wurde.


    Ich habe "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" mit großem Vergnügen gelesen. An manchen Stellen auch erschaudernd und mit aufkeimenden Tränen im Augenwinkel, wenn Heller ausgesprochen traurige und dramatische Momente in einem Kinderleben schildert. Sätze wie: "Einige Mitschüler wren klug genug zu weinen", können mich sehr amüsieren. Zumindest im sozusagen richtigen Zusammenhang. Was hier bedeutet: es handelt sich um Schüler eines katholischen Internates, und sie weinen klug als Reaktion auf die Nachricht: "Der heilige Vater ist tot." Die Heulsusen bekommen dann auch ein Stolwerck Bonbon von Schwester Imaculata, der einzigen sichtbaren und lebendigen Frau im Kollegium. Als Belohnung.


    Dass Heller es offen läßt, welche Begenheiten seiner reichhaltigen Fantasie entspringen, und was an der Erzählung autobiographisch ist, finde ich gut. Wäre es rein als Biographie überschrieben, hätte mir das Buch wahrscheinlich einiges an Beklemmung beschert. So hat es mich gut unterhalten, und mir gleichzeitig zu einigen nachdenklichen Momenten verholfen.


    Da ich nicht stereo lese, habe ich übrigens eines der beiden Hardcover Bücher gegen zwei Taschenbücher, ebenfalls österreichischer Autoren eingetauscht. (Glavinic und Henisch) Leute lest ÖsterreicherInnen, hier gibt es so manchen Schatz zu heben.

  • Das war sehr unterhaltsame Kost! :cheers:
    Andre Heller hat in seiner "Biografie plus Fantasie" so herrlich groteske und skurrile Gestalten geschaffen.
    Was hier passiert hat einen Touch von John Irvings Stil.
    Für mich hätte es dicker sein können das Buch!


    Ein dickes Busserl noch an meine Wichtelmama Mara, die mich Weihnachten 2009 mit diesem Buch verwöhnt hat! :kiss:


    :winken: Liebe Grüße
    Cheriechen

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti