Anne Enright - Das Familientreffen

  • Kurzbeschreibung von Amazon.de
    Die Gewinnerin des Booker-Preises 2007!


    Der Hegarty-Clan versammelt sich in Dublin, um Liam, das schwarze Schaf der Familie, zu Grabe zu tragen - doch schnell gerät der Anlass zur Nebensache. Nur Veronica wagt es, nach den Umständen zu fragen, die ihren Bruder in den Tod getrieben haben mögen. Ein beeindruckend intensiver Roman über die Frage nach Schuld und Verantwortung, nach der Liebe und ihren Folgen.


    Als Kinder haben sie sich stets alle Geheimnisse anvertraut, und auch als Erwachsene sind Veronica und ihr Bruder Liam noch immer aufs Engste miteinander verbunden. Doch dann stürzt Liam sich mit Steinen in den Hosentaschen ins Meer, und Veronica bleibt allein zurück mit der Frage nach dem Warum. Während sie im Dubliner Elternhaus die Beerdigung vorbereitet, überwältigen sie die Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihre Großmutter, die aus Vernunftgründen auf die Liebe ihres Lebens verzichtete, an ihre Mutter, die sich nach den vielen Geburten und Fehlgeburten nicht einmal die Namen all ihrer Kinder merken konnte. Und an jenen Tag, an dem ihrem Bruder Liam, gerade neun Jahre alt, etwas angetan wurde, vor dem sie ihn hätte beschützen müssen. Ein bewegender Roman, dessen sprachliche Finesse und eindrucksvolle Bildlichkeit einen bisher ungekannten Blick auf das verletzliche Wesen der menschlichen Seele zu werfen vermag.


    Über die Autorin (Amazon.de)
    Anne Enright wurde 1962 in Dublin geboren und lebt heute im irischen Bray, County Wicklow. Ihre Werke sind mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Doch erst mit dem Booker-Erfolgsroman gelang ihr der internationale Durchbruch - "Das Familientreffen" ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller.


    Meine Meinung ...
    ... ist schwierig in Worte zu fassen. Dieses Buch hat mich tief berührt und viele offene Fragen hinterlassen, die ich erst noch verarbeiten muss. Veronica leidet von den Geschwistern der Familie Hegarty am meisten. Sie war die Vertraute von Liam, die beste Freundin und die Hüterin des Geheimnisses. Oder wussten alle, was der nette Mr Nugent mit den Kindern der Familie anstellte? Offen darüber gesprochen wird nicht. Alle sind oberflächlich und trinken viel zu viel. Die Beerdigung des Bruders bringt sie alle wieder in das Haus und lässt die Geister der Vergangenheit frei. Veronicas Ehe droht zu zerbrechen. Sie ist nicht mehr fähig zu Nähe, Liebe und Vertrauen. Ihr Mann Tom geht immer wieder auf sie zu, doch sie macht die Nacht zum Tag, um ja nicht mit ihm in einem Bett schlafen zu müssen. So vergehen Monate ... Ada, ihre verstorbene Großmutter ist Mittelpunkt dieser Erzählung. Wusste sie von dem Missbrauch der Kinder? War Mr Nugent nur ein guter Freund? War er ihr Liebhaber? Warum hat sie sich damals für Charlie und nicht für ihn entschieden? Wusste sie von seiner pädophilen Seite? Ach, es ist so schwierig zu fassen. Dabei wundervoll zu lesen. Die gedrückte Stimmung der Familie ist zum Greifen nah.
    Veronica hat sich in ihrer Jugend selbst verletzt, geritzt und mit Nadeln gestochen, nur um endlich mal etwas zu spüren. Der Wunsch nach Schmerzen kommt jetzt wieder, alte Wunden werden aufgerissen. Sie sagt, sie hätte verlernt, etwas zu empfinden.
    Warum in der Beschreibung von Amazon vom schwarzen Schaf der Familie gesprochen wird, kann ich nicht sagen. Liam hat den Suizid gewählt, weil er mit seinem Leben nicht zurecht kam und Alkoholprobleme hatte. Ist man deswegen das schwarze Schaf der Familie? Ich denke, nicht :-k
    Ein großer Roman, der mich noch lange beschäftigen wird. Ich hoffe, dass noch andere BTler dieses Buch lesen und ich somit Antworten auf meine Fragen bekomme :-,
    Ich vergebe :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Vielen Dank für die ersehnte Rezi, liebe Steffi. :friends: Ich werde heute den neuen Fleischhauer beginnen und dann gleich zu diesem Buch greifen. Du machst mich ja nun noch neugieriger.

  • Vielen Dank Steffi :cheers:


    für die schöne Rezi. Das Buch ist mir auch schon aufgefallen und ich habe es nun auf die Liste gesetzt. :winken:

    Liebe Grüße
    Helga :winken:


    :study: [b]???


    Lesen ist ernten, was andere gesät haben (unbekannt)

  • Scheint ja ein sehr interessantes Buch zu sein. Ich habe es gleich auf meine SUB liste gesetzt! :thumright:

    "Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seinen Boden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken."


    Hermann Hesse

  • Hallo Steffi,
    danke für die sehr anregende Rezi. Sie hat auch meine Neugier geweckt und so landet das Buch auf meiner Wunschliste, aber meine SUB ist unendlich lang - es kann also dauern. :):roll:


    Liebe Grüsse
    Wirbelwind


    :study: Jakob Hein, Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Du machst mich ja nun noch neugieriger.


    dass ich es auch irgendwann lese.


    Das Buch ist mir auch schon aufgefallen und ich habe es nun auf die Liste gesetzt.


    Ich habe es gleich auf meine SUB liste gesetzt!


    Sie hat auch meine Neugier geweckt und so landet das Buch auf meiner Wunschliste


    Ich bin sehr gespannt auf Eure Meinungen und freue mich auf angeregte Diskussionen. Lasst Euch nicht so lange Zeit :wink::winken:

    "Ein Leben ohne Hund ist möglich, aber sinnlos ..."

    (nach Loriot)

  • Hätte ich das Buch in der Buchhandlung gesehen, hätte ich es mir wahrscheinlich nicht gekauft.
    Aber Deine Rezension Steffi, klingt wirklich interessant.
    Hab es mal auf meine Wunschliste gesetzt.

    "Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont."
    Konrad Adenauer


    :study: Ashley Audrain - Der Verdacht











  • Schon das Cover des Buches zeigt ein nebulöses, tristes Bild und das Buch spiegelt genau diese Stimmung wieder. In Erinnerungsfetzen und Assoziationen lässt uns Veronica an ihrem bisherigen Leben teilhaben. Manche Geschehnisse kennt sie nur durch Erzählungen, andere durch eigenes Erleben und sie schildert diese mit Härte, Wut und Resignation. Von Liebe ist sehr wenig zu spüren in dieser Familie, mehr von Sex und Begierde. Einzig unter den Geschwistern, speziell zwischen Liam und Veronica, gibt es eine gewisse Wärme und Vertrautheit. Ein ständiger Begleiter in diesem Buch ist auch der Alkohol, mit dem die Protagonisten dem Alltagselend zu entfliehen versuchen.


    Als Leser blieb ich zu allen Personen deutlich distanziert, ich war lediglich Beobachter und trotz der teilweise erschreckenden Umstände blieben meine Sympathien unverteilt. Viele Geschehnisse wurden nur angerissen, andere auf so neutrale Weise geschildert, dass ich mich fragte weshalb zeigt die Erzählerin an dieser Stelle keinerlei Gefühlsregungen?


    Das Familientreffen selbst fand lediglich im letzten Drittel des Buches statt und zeigte deutlich wie zerrissen die Familie eigentlich ist. Zwar gibt es Gemeinsamkeiten, die aber wohl lediglich in Erinnerungen bestehen.


    Ganz zum Schluss gibt es noch einen Hoffnungsschimmer, das Buch wird aber in meinem Gedanken immer mit einer gewissen Tristesse behaftet bleiben.


    Mein Fazit: „Das Familientreffen“ ist eine der düstersten Familiengeschichten, die ich je las. Deshalb ist das Buch nicht schlecht, irgendwie hat es mich in seiner Andersartigkeit auch in seinen Bann gezogen. Am Ende blieb ich mit vielen ungeklärten Fragen zurück, zu vielen, wie ich finde. Trotzdem habe ich dieses Buch gern gelesen.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Mein Fazit: „Das Familientreffen“ ist eine der düstersten Familiengeschichten, die ich je las. Deshalb ist das Buch nicht schlecht, irgendwie hat es mich in seiner Andersartigkeit auch in seinen Bann gezogen. Am Ende blieb ich mit vielen ungeklärten Fragen zurück, zu vielen, wie ich finde. Trotzdem habe ich dieses Buch gern gelesen.


    Ich war schon sehr gespannt auf Deine Meinung. Ich entdecke viele Übereinstimmungen. Besonders die vielen offenen Fragen ... Freut mich, dass es Dir trotz der Tristesse gut gefallen hat. :winken:

    "Ein Leben ohne Hund ist möglich, aber sinnlos ..."

    (nach Loriot)

  • Das klingt nach einem Buch nach meinem Geschmack :thumright:.
    Ich hoffe auf einige Büchergutscheine zum Geburtstag. Dann ist das Buch mein.

    Narkose durch Bücher - Das Richtige ist: das intensive Buch.
    Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt, zerrt und nicht mehr losläßt.


    :study: Sarah J. Mass - Throne of Glass / Die Erwählte :study:


  • Besonders die vielen offenen Fragen ...


    Wobei mich am meisten interessiert, was die Großmutter wusste. Hat sie das vielleicht selbst arrangiert? Bis dieses Geschehen zur Sprache kam, war sie so ein wenig wie die Lichtfigur in diesem Buch für mich.


  • Wobei mich am meisten interessiert, was die Großmutter wusste. Hat sie das vielleicht selbst arrangiert? Bis dieses Geschehen zur Sprache kam, war sie so ein wenig wie die Lichtfigur in diesem Buch für mich.


    Diese Frage hat mich durchgehend beschäftigt. Sie muss etwas gewusst haben und das finde ich das schreckliche an dieser Geschichte, dass anscheinend alle gewusst haben, was der "nette" Mr Nugent mit den Kindern der Familie macht und niemand etwas sagt, sondern alle in irgendeiner Art "flüchten", entweder in den Alkohol, in die Einsamkeit oder es einfach verdrängen. Mir ist auch nicht klar, warum sie sich für Charlie entschieden hat aber trotzdem mit Mr Nugent befreundet blieb. :-k Die Großmutter spielt eine zentrale Rolle in diesem Drama, vieles bleibt aber im Verborgenen. Da das Thema aber auch in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu ist, kann ich mir vorstellen, dass die Autorin absichtlich so distanziert blieb, gerade weil in vielen Familien so ein dunkles Geheimnis verdeckt und niemand angeklagt wird. Fragen über Fragen ... 8-[

    "Ein Leben ohne Hund ist möglich, aber sinnlos ..."

    (nach Loriot)

  • Ich empfand das Buch auch als sehr düster, finster, trist. Es spielt in Irland und ich sah mich zeitweise an "Die Asche meiner Mutter" versetzt, inhaltlich kamen mir auch Assoziationen zu Ian McEwans "Der Zementgarten".


    Es ist schwer, das Buch halbwegs vernünftig zusammenzufassen. Einzelne Abrisse, Erinnerungen, geschilderte Erzählungen aber auch der Fantasie Veronicas entsprungene Berichte ohne chronologische Abfolge gestalten dieses Buch. Der Alkohol und der Regen als ständige Begleiter. Sexueller Missbrauch wird nur an wenigen Stellen direkt angesprochen, hängt aber wie eine Glock über dem ganzen Buch. Das Buch hinterlässt einen beklemmenden, passagenweise abstoßenden und insgesamt sehr düsteren Eindruck!


    Die Figur der Ada ist eine sehr zentrale, doch wird sie von einer ungemeinen Distanz geschildert. Sie blieb mir bis zum Schluss fremd. Auch Veronica tut sich schwer, sie richtig einzuschätzen. Ihre Hin- und Hergerissenheit spürt man förmlich. Ich habe aber schon das Gefühl, sie wusste von den Vorgängen, schwieg aber dazu.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ich habe "The Gathering" im Original gelesen und muss sagen, dass es trotz meiner Sprachkenntnisse doch eine ziemliche Herausforderung war! Nichts für Englischanfänger.


    Mir geht es ähnlich wie euch:
    die Lektüre lässt mich mit vielen Fragen zurück. Rosalita schrieb:


    Zitat von "Rosalita"

    Es ist schwer, das Buch halbwegs vernünftig zusammenzufassen.


    Aus diesem Grund möchte ich hier nur ein paar Gedanken loswerden, die sich mir aufgrdrängt haben, auch wenn mir klar ist, dass es nur eine klitzekleine Auswahl der Themen und Fragen ist, die auftreten. Es ist eine persönliche Auswahl und vernachlässigt Liam und die Geschwister fast völlig, aber ich hoffe ihr verzeiht mir dies.


    In einem Interview mit Anne Enright habe ich gelesen, dass dieses Buch von vielen Lesern als "bleak" beschrieben wird.


    bleak = trostlos, öde, freudlos, nichtssagend


    Anne Enright wehrt sich gegen diese Bewertung und besteht darauf, dass sie den Roman eher als "grim" einstuft.


    grim = düster, hart, abstoßend, unerbittlich


    Als düster und unerbittlich habe ich ihn ebenfalls erfahren, weniger als öde und nichtssagend. Veronica Hegarty schreibt sich ihre Erinnerungen und Beobachtungen von der Seele und die Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken und Episoden fand ich durch den Erzählstil sehr gut umgesetzt. Sie berichtet über ihre Kindheit, springt dann in die Gegenwart, um sich kurze Zeit später über ihre Töchter und ihre trostlose Ehe auszulassen. All dies passt für mich gut zu einer Situation, in der man sich einerseits der Realität stellen will, aber nicht weiß, wie man zum Kern der Sache vordringen soll. Sie sagt an einer Stelle selbst (nach einem Drittel etwa), dass sie allmählich mit dem Abschweifen aufhören muss, um das eigentliche Thema anzuschneiden: Liams Mißbrauch.
    Ihre Art, dem Leser ihre Erinnerungen nahezubringen ist stellenweise fast atemlos und dann doch wieder wie zähes Kaugummi - als ob sie um jedes Wort ringen müsste. Das hat mich sehr fasziniert und sie ganz leise als Mensch herausgestellt und die anfängliche Distanz allmählich gemildert.


    Selbst wenn ich eure Beiträge vorher nicht gelesen hätte, hat man von Anfang an das Gefühl, dass es in ihrer Vergangenheit irgendeine Art sexuellen Missbrauch gegeben haben muss. Ihre argwöhnische Haltung gegenüber harmlosen Liebesbezeichnungen und der starke Bezug auf sexuelles haben mich misstrauisch gemacht. Ab einem bestimmten Punkt hatte ich sehr starkes Mitleid mit ihr als Mutterfigur, deren Kinder nun in dem Alter sind, in dem ihre eigene und Liams Kindheit so brutal zerbrochen wurden. Hier wird eine wichtige Frage gestellt, die sich hinter ihrer Aggression gegenüber Tom verbirgt und einmal auch herausplatzt: Was weiß sie schon über die Sehnsüchte ihres Mannes? Träumt er von seinen Töchtern und wünscht sich, die Grenzen der Vater-Tochter-Beziehung zu überschreiten? Irgendwo blitzt auch der Zweifel auf: "Werde ich wie meine Mutter und versinke im Hintergrund des Familienlebens oder werde ich stark genug sein, diese Katastrophe zu verhindern? Immerhin habe ich schon einmal schweigend zugesehen..."


    Die Mutter hat mich auch beschäftigt. Sie taucht gelegentlich auf und bleibt dennoch nur schemenhaft erkennbar. So wie es in Veronikas Kindheit war? Klar wird jedoch, dass sich das Hegartyuniversum um sie und ihre Befindlichkeiten dreht ("don't tell her"). Sie wird in der Erinnerung zum Kind, das von ihren Kindern beschützt, getröstet und beruhigt werden muss.


    Und nun zu Ada, Charlie und Mr. Nugent:


    Insgesamt habe ich "The Gathering" als eine Art Reise verstanden, die Veronica unternimmt, um sich und ihre Familie zu verstehen und zu einem gewissen Grad die Vergangenheit zu bewältigen. Um so wiederum eine Chance zu haben, ihren Töchtern eine glückliche Kindheit und ein echtes Familienleben zu bieten; aber auch um sich ihrem Wahnsinn und Zusammenbruch zu widersetzen.
    Der Roman ist sehr gekonnt konstruiert und wahrscheinlich müsste man ihn ein zweites Mal lesen, um noch mehr herauszuziehen, bzw. Verbindungen zu sehen, die erst nach der erstmaligen Lektüre möglich sind. Interessant wäre es sicher auch, das Buch im Rahmen einer Leserunde zu lesen und durch Diskussionen auch Aspekte anzusprechen, die einem allein entgehen.


    Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker und spannender erscheint mir insbesondere Veronika. Für mich ist "Das Familientreffen" ein echtes Highlight. :thumleft:

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Ich habe das Buch ja auch gelesen und ich habe mich gefragt, warum reden die Familienmitglieder bei dem Treffen nicht miteinander darüber? Sie reden zwar, aber nur Banalitäten. Warum kommen die Dinge, die wirklich wichtig waren und sind, nicht zur Sprache? Anne Enright beantwortet diese Frage ja sogar. Sie lässt die Protagonistin sagen, dass das Miteinander reden ja eh nichts mehr ändern würde. Würde es das tatsächlich nicht? Jeder Verhaltenstherapeut würde sich bei einer solchen Argumentation mit Grausen abwenden. Weil der genau weiß, dass das falsch ist. Anne Enright hat ein fantastisches Buch und ein Plädoyer für die Psychotherapie geschrieben.

    Wenn du einen verhungernden Hund aufliest und machst ihn satt, dann wird er dich nicht beissen. Das ist der Grundunterschied zwischen Hund und Mensch.
    Zitat: Mark Twain

  • Ich habe das Buch ja auch gelesen und ich habe mich gefragt, warum reden die Familienmitglieder bei dem Treffen nicht miteinander darüber? Sie reden zwar, aber nur Banalitäten. Warum kommen die Dinge, die wirklich wichtig waren und sind, nicht zur Sprache? Anne Enright beantwortet diese Frage ja sogar. Sie lässt die Protagonistin sagen, dass das Miteinander reden ja eh nichts mehr ändern würde.


    Das ist mir auch aufgefallen. Dafür, dass Liam der Mittelpunkt von Veroniks Überlegungen ist, bleibt er doch schwer greifbar und es gibt erstaunlich wenige Erinnerungen an ihn außer denen, die Veronika mitteilt. Man fragt sich, wie einsam er in dieser großen Familie tatsächlich gewesen sein muss?


    Jeder Verhaltenstherapeut würde sich bei einer solchen Argumentation mit Grausen abwenden. Weil der genau weiß, dass das falsch ist. Anne Enright hat ein fantastisches Buch und ein Plädoyer für die Psychotherapie geschrieben.


    Dem Gedanken stimme ich zu!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
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  • Ich bin gestern mit dem Buch fertig geworden - man muss es erst verarbeiten, bevor man was schreiben kann. Aber im Großen und Ganzen kann ich mich den obigen Meinungen anschließen. :wink:


    Eine düstere und traurige Familiengeschichte, distanziert erzählt - zu keinem der Protagonisten kann der Leser eine besondere Beziehung aufbauen.


    Zitat

    Zitat Steffi:
    Da das Thema aber auch in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu ist, kann ich mir vorstellen, dass die Autorin absichtlich so distanziert blieb, gerade weil in vielen Familien so ein dunkles Geheimnis verdeckt und niemand angeklagt wird. Fragen über Fragen .


    das kann ich mir auch gut vorstellen.


    Das Buch wirft Fragen auf, die einen auch hinterher noch beschäftigen.
    Auch überlege ich, ob Veronica nun auch missbraucht worden ist oder ob sie nur von Liams Missbrauch gewusst hat.
    Ich denke, sie ist missbraucht worden, auch wenn sie auf Seite 293 schreibt: "All dies entstammt einem Ort in meinem Kopf, wo Worte und Taten sich vermengen. Es entstammt den allerersten Anfängen, und ich weiß nicht, ob es wahr ist." und weiter unten:""In dieser Erinnerung oder diesen Traum..." Veronica will nur verdrängen/vergessen.
    Auch ihr Verhalten gegenüber Tom lässt dies vermuten (so, wie JuleBule schon schreibt)


    Die Frage, ob Lamb Nugent nun wirklich die große Liebe war, stellt sich mir auch - jedenfalls findet sich kein Beweis in dem Buch.


    Was hat die Großmutter gewußt und wieso ist die Mutter so konturlos geblieben? Warum ist sie so "schwach", hat sich nicht für ihre Kinder eingesetzt, weiß noch nicht mal die Namen ihrer Kinder?
    Dass die Familienmitglieder nicht miteinander reden können, über ihr Problem sprechen können, ist tragisch.


    Es lohnt sich sicher, das Buch ein zweites Mal zu lesen.

  • Der allgemeinen Begeisterung kann ich mich hier leider nicht anschließen (ich habe es übrigens im englischen Original gelesen).


    Veronica fliegt nach England, um in Brighton die Leiche ihres Bruders zur Überführung in die irische Heimat abzuholen. Der Tod von Liam ist trauriger Anlass, dass sich die Großfamilie Hegarty einmal wieder trifft - die neun Geschwister, die von den zwölfen noch leben, und ihre Mutter, die schon vor langer Zeit in geistige Umnachtung abgedriftet ist.


    Gemeinsam haben Veronica und Liam viel erlebt, wohnten eine Zeitlang mit der kleinen Schwester Kitty bei Großmutter Ada, die wiederum in Lamb Nugent einen heimlichen Verehrer hatte. In dieser Zeit liegt womöglich auch der Schlüssel zu Liams späterem Alkoholismus und seiner Unfähigkeit, im "normalen" Leben zu bestehen.


    Mit Veronicas Ehe steht es momentan auch nicht zum Besten. Zwar liebt sie ihre beiden wohlgeratenen kleinen Töchter über alles, doch zwischen ihr und ihrem Mann Tom ist eine Mauer entstanden, die sich nur schwer überwinden lässt.


    Ich liebe Geschichten über irische Großfamilien, weil ihnen meist trotz tragischer Ereignisse und katholischer Prüderie etwas Lebensbejahendes anhaftet und nicht selten auch ein herrlicher schwarzer Humor.


    Das sucht man hier alles vergebens, Anne Enright zeichnet ein eher düsteres Bild dieser Familie, und zwar nicht als anschauliches Gemälde, sondern eher als Mosaik von Scherben ihres Familienlebens, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wüst durcheinandergeworfen werden und man zwischen haufenweise bemühten Sprachbildern ab und zu das Glück hat, auf kleine Satzperlen zu stoßen, in denen es der Autorin zu zeigen gelingt, was die bei aller Verschiedenheit und Disharmonie verschworene, gewachsene Einheit einer Familie ausmacht.


    Absolut überflüssig fand ich die vielen Fäkalien in den verwendeten Metaphern und die Beschreibung jeglicher Sexualität mit groben, gefühllosen Worten.


    Zwischendurch habe ich mich mehrmals gefragt, ob ich diesen wirren Wust von Erinnerungen, von denen Veronica nicht weiß, ob sie überhaupt ihre eigenen sind, und Feststellungen, dass sie sich an X und Y und Z ja gar nicht erinnern kann, überhaupt zu Ende lesen möchte. Den Schluss fand ich dann aber erstaunlich zart gelungen.


    Leider kein lohnender Booker-Preisträger (für mich).