Franz Werfel - Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd

  • "In Fräulein Linek war ein großer Durst nach Ewigkeit und Seligkeit" - so formuliert es im Epilog der Kaplan Johannes Seydel, dem die alte Magd sich auf ihrer Pilgerfahrt nach Rom anvertraut hatte. Die ewige Seligkeit war das Ziel dieser "schlichten, volksfrommen Seele" gewesen, und sie hatte geglaubt, sie könne es sicher erreichen, wenn sie ihrem Neffen zum Theologiestudium verhelfe, ihm alle ihre Ersparnisse hierfür gebe. Siebzig Jahre alt geworden, will sie sich in seiner Pfarre zur Ruhe setzen - da muß sie erfahren, daß er sie betrogen hat, daß er gar kein Geistlicher geworden ist. Die Einsicht, daß Gnade sich nicht erzwingen läßt, fällt ihr, der Einfältigen, schwer. Während der Audienz bei Papst Pius XI. bricht sie ohnmächtig zusammen - man betet für sie. - "Der veruntreute Himmel ist der große Fehlbetrag unserer Zeit", resümiert der Erzähler dieser Geschichte einer Magd nach ihrem Tode im Gespräch mit dem Kaplan.


    Das Buch hat drei Teile. Im ersten spielt die Teta Linek nur eine untergeordnete Rolle, das ist eigentlich die Geschichte der Familie bei der sie angestellt war. Im zweiten Teil sucht sie sich Gewissheit zu verschaffen über ihren Neffen, dem sie die Priester-Ausbildung u.a. bezahlt hat, und sie verliert die Hoffnung auf nen schönes Jenseits. Im dritten Teil folgt die Pilgerreise nach Rom, ihre Beichte (die Frage nach der Mitschuld an der Verkommenheit ihres Neffen belastet sie).


    Wenn man an der realen Welt verzweifelt, dann flüchtet man sich bisweilen in die Religion. Die Verzweiflung an der Realität, diese Realität ist Hitler-Deutschland mit seinen Nazi-Horden und Konzentrationslagern und ist dss angeschlossene Österreich und ist der von den Faschisten gewonnene spanische Bürgerkrieg, ist bei Werfel, der im Exil weilt, womöglich tatsächlich gegeben. Jedenfalls wirkt das Buch als Zeichen seiner Zeit, als Flucht aus der Realität, hin zur unsterblichen und unvergänglichen metaphysischen Welt. Deren eindrucksvollste Vertreter auf Erden lassen sich ja auf Seiten der römisch-katholischen Kirche - da wird Mystik noch gelebt. So wird dieses Buch eben zu einem Dokument der Hoffnung; zur Hoffnung auf eine bessere Welt, die nach der finsteren Zeit wieder anbrechen wird und das Mittel, das diese Hoffnung real machen kann, das ist ein tiefer, inniger Glaube und eine, im Roman selbst wie auch in der Realität als einfach und primitiv verschriene, absolute Religiosität. Das hat das Fräulein Linek. Was sich in dieser, ihrer, Lebensgeschichte allerdings, dank des geistlichen Beistandes des Kaplans Seydel, noch ergibt ist ein gewisses christliches Mitleid, allerdings nicht uneigennützig, das das allzu selbstsüchtige Streben nach einem guten Platz im Himmel und einer recht kurzen Zeit im Fegefeuer ablöst.
    Was dem Zeitgenossen nach Meinung des "Ichs" (der Schriftsteller Theo, der über das Leben der Teta Linek schreibt) fehlt, ist der Glaube an Ewiges und Unzerstörbares - und weil ers nicht glaubt, deswegen zerstört und mordet er. Auch wenn ich Werfel da nicht zustimmen kann (auch nicht in anderen Dingen z.B. dieser gewissen Glorifizierung der Röm.-Kath.-Kirche), so ist sein Roman doch durchaus herausragend. Sprachlich schön, mit einer authentischen und bewegenden Lebensgeschichte an der man fast verzweifeln möchte. Und beneiden möchte man sie auch, "das soll man auch" sagt mir der Roman, denn der unerschütterliche Glauben Teta Lineks, diese Gottgewissheit, die würde auch heute noch, aber erst Recht zu Zeiten des Faschismus, das Leben so viel einfacher machen.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • Deutsche, englische, schwedische, französische und dänische Ausgaben:

    • Die erste Fassung des Romans entstand in der Zeit von Mai bis Juni 1939. Die deutsche Originalausgabe erschien im Jahr 1939 unter dem Titel „Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd“ im Bermann-Fischer Verlag in Stockholm (414 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 1948 bei Bermann-Fischer in Amsterdam (360 Seiten), 1948 bei Bermann-Fischer in Wien (450 Seiten), 1951 bei S. Fischer in Frankfurt am Main (337 Seiten), 1952 und 1969 als Band 9 der Fischer Bücherei in Hamburg und Frankfurt am Main (245 Seiten), 1970 im Fackelverlag in Olten, Stuttgart und Salzburg (316 Seiten), 1976 und 1978 als Sonderausgabe bei S. Fischer (254 Seiten) sowie 1982, 1985, 1986, 1988, 1989, 1990 und 1991 als Fischer-Taschenbuch Nr. 5053 im Fischer Taschenbuch Verlag in Frankfurt am Main (281 Seiten). Im Februar 1992 erschien der Roman in der von Knut Beck herausgegebenen Werfel-Werkausgabe „Gesammelte Werke in Einzelbänden“ bei S. Fischer sowie im August 1992 und 1994 auch als Fischer-Taschenbuch Nr. 9459 im Fischer Taschenbuch Verlag (332 Seiten).
    • Eine englische Übersetzung von William Rose unter dem Pseudonym Moray Firth erschien 1940 unter dem Titel „Embezzled heaven“ bei Hamilton in London (350 Seiten) und bei Viking Press in New York (427 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1959 bei Dell in New York (384 Seiten) und 1967 als Band 156 der Popular Library in New York (287 Seiten).
    • Eine erste französische Übersetzung von S. F. Hessel erschien 1944 unter dem Titel „Les cieux perdus et regagnés“ bei Heinemann & Zsolnay in London (295 Seiten).
    • Eine zweite französische Übersetzung von Marie Tadié erschien 1959 unter dem Titel „Le Voleur de ciel“ bei Albin Michel in Paris (313 Seiten).
    • Eine schwedische Überstzung von Knut Stubbendorff erschien 1940 unter dem Titel „Det förskingrade himmelriket. En gammal tjänstekvinnas historia“ bei Bonnier in Stockholm (353 Seiten).
    • Eine dänische Übersetzung von Aage Dons erschien 1954 in zwei Teilbänden unter dem Titel „Det forliste himmerige“ bei Andersen in Kopenhagen (insgesamt 302 Seiten).


    Inhalt:

    • Erster Teil: Prolog zu Grafenegg
      Kapitel eins: Das Heiligenbild (20 Seiten)
      Kapitel zwei: Ein Lebensplan (23 Seiten)
      Kapitel drei: Ohne Vorzeichen (19 Seiten)
      Kapitel vier: Wir müssen Abschied nehmen (30 Seiten)
    • Zweiter Teil: Beim Teufel eingekauft
      Kapitel fünf: Der letzte Brief (24 Seiten)
      Kapitel sechs: Der Pfarrer von Hustopeč (22 Seiten)
      Kapitel sieben: Ein Vater der Lüge (29 Seiten)
      Kapitel acht: Fingerzeige (25 Seiten)
    • Dritter Teil: Eine Pilgerfahrt
      Kapitel neun: Madonnen und Nelken (25 Seiten)
      Kapitel zehn: In den Katakomben (31 Seiten)
      Kapitel elf: Der Pilgerfahrt letzte Station (32 Seiten)
      Kapitel zwölf: Kleiner Epilog in einem Park (14 Seiten)


      Bibliographischer Nachweis / Anmerkungen (6 Seiten)


    Meine Einschätzung:
    „Der veruntreute Himmel“ ist nach meinem Dafürhalten keine Huldigung eines religiösen Lebenswandels, kein Loblied des gelebten Katholizismus, dafür schreibt Werfel zu viele Ambivalenzen in seinen Roman hinein. Die alte Magd Teta Linek, die im irdischen Leben tatsächlich keine Gemeinschaften eingeht, die sich völlig verschließt, die sich gut einrichtet in einer standesgemäß getrennten Welt als kleine Magd in der Sphäre und Abhängigkeit des gehobenen Bürgertums und der alten Aristokratie, wird doch allzu sehr als listig und selbstsüchtig gezeichnet, wie sie für ihr eigenes Seelenheil nach ihrem irdischen Tod vorsorgt, indem sie ihren Neffen aus einem finanziell und moralisch abgewirtschafteten Zweig ihrer Verwandtschaft aus der Ferne mit Geld unterstützt, auf dass er dermaleinst Pfarrer werde, um ihr die Seelenmesse zu singen – und so einen Platz im Paradies sichere. Und als sich dieser Neffe als Schwindler herausstellt, der in der Ferne nicht daran dachte, sich zum Priester weihen zu lassen, sondern die Tante um immer mehr Geld anschrieb, um seinen windigen Lebenswandel zu finanzieren, erwacht bei Teta Linek prompt das Schuldgefühl, ob sie nicht, da sie sich in den letzten 30 Jahren nicht um ihren Neffen kümmerte, eine Mitschuld an seinem Betrug trifft. Was vielleicht auf den ersten Eindruck hin für einen „modernen Menschen“ unsinnig klingt, aber tatsächlich wird der Leser aufgefordert zu überlegen, in welchen Punkten die eigennützige, nicht liebenswerte Magd fehl ging: Sie hat vielleicht den Glauben, sie hat vielleicht die Hoffnung, aber ihr fehlt die Liebe, die der essenziellste Bestandteil des Lebens eines Christen sein müsste.
    Man staunt mit dem Erzähler über das statische Leben der Teta Linek, ein Leben ohne Entwicklung oder Steigerung, das rein auf den statischen Zustand im Paradies nach dem Tod ausgerichtet ist, ein Leben in Demut, auch gekennzeichnet durch ein vielleicht verwerfliches Sich-selbst-Kleinmachen vor den Autoritäten dieser Welt. Das Seelenheil, dem ein wenig wie einer Fata Morgana in der Wüste nachgejagt wird, an das sich bei Teta Eigensinn und Eigennutz knüpfen. Auch wenn sie von dem freundlichen Kaplan Seydel am Ende bei der Beichte von jeder Schuld freigesprochen wird: Hat sich die alte Magd nicht doch schuldig gemacht?! Dennoch erscheint der Glaube der alten Magd viel ernsthafter als die mit viel Pomp nach außen getragene Frömmigkeit im Vatikan, den Teta Linek auf ihrer Pilgerreise nach Rom besucht. Die zögerliche Haltung der katholischen Kirche zu der Unmenschlichkeit des Hitler-Regimes spielt in die Szenen rund um die Papst-Audienz mit hinein. Inwieweit man sich dadurch, dass man die Wahrheit nicht wissen will, dass man sich nicht kümmert, sich nicht einbringt, dass man eben zumeist nicht selbstlos handelt, eine Mitschuld am Schlechten auf der Welt auferlegt, ist – ganz fern jeder theologischen Beigabe – ja nicht die schlechteste Frage, mit der sich Literatur beschäftigen kann. Werfel begnügt sich nicht mit der religiösen Groteske eines Lebens zwischen Glauben und Berechnung, sondern verankert seinen Roman klar in der Zeitgeschichte der Nazi-Zeit. Und auch die Schicksalsschläge, die die vermögende Familie Argan ereilen, bei der Teta Linek zu Beginn der Handlung als Köchin arbeitet, sind keine zeitungebundenen Unglücke, nicht nur ein tödlich verunfallter Sohn und eine von einer rätselhaften Lähmung befallene Tochter, sondern eben auch ein intellektueller Vater, der ins KZ gesteckt wird. Das Ausblenden der Wirklichkeit, der Eigensinn und die Weltflucht sind nicht nur Verhaltensweisen, in die alte, katholische Mägde verfallen.

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  • Eine englische Übersetzung von William Rose unter dem Pseudonym Moray Firth erschien 1940 unter dem Titel „Embezzled heaven“ bei Hamilton in London (350 Seiten) und bei Viking Press in New York (427 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1959 bei Dell in New York (384 Seiten) und 1967 als Band 156 der Popular Library in New York (287 Seiten).

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  • Eine Frage an Dich, Jean van der Vlugt : hat das in der Titelzeile gezeigte Buch 'Höret die Stimme' etwas zu tun mit 'Der veruntreute Himmel??

    Nein, hat nichts damit zu tun. Der Titel kommt durch irgendein Verlinkungsproblem ins Spiel, das ich gleich noch Mario melden wollte. :winken:

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