Robert Harris - "Aurora"

  • Christopher "Fluke" Kelso war vieles in seinem Leben: Dozent in Oxford, dreimal verheiratet ... und vor allem die große Hoffnung der Geschichtswissenschaft. Doch inzwischen ist er nur noch eins: verbaucht. Sein letzter Erfolg war ein Buch über den Zusammenbruch der Sowjetunion, doch das liegt schon einige Jahre zurück. Nichtsdestotrotz bringt ihm dieses Buch eine Einladung zu einer Konferenz in Moskau über die Öffnung der Sowjetarchive ein. Kelso ist das Objekt des beständiges Spotts seiner Kollegen, und er tut im Gegenzug das, was er am besten kann, nämlich Kettenrauchen und Trinken. Doch dann taucht plötzlich ein alter Russe bei ihm auf, ein Überlebender der Gulags und angeblich der Leibwächter von Lawrenti Beria, Stalins rechter Hand. Der alte Mann hat eine unglaubliche Geschichte für Kelso: Er war anwesend, als Stalin 1953 einem Schlaganfall erlag; er war anwesend, als Beria dem sterbenden Führer geheime Unterlagen stahl, ein unscheinbares Notizheft, das möglicherweise Stalins intimste Gedanken enthielt; er war anwesend, als Beria eben jenes Notizbuch vergrub. Zuerst will Kelso der Sache keine Glauben schenken, doch das Geheimnis schlägt ihn zunehmend in seinen Bann, und schon bald ist er widerstrebend auf dem Weg nach Archangelsk, wo er den Schlüssel zur Lösung dieses Geheimnisses zu finden hofft.
    Doch was er in Archangelsk findet, übersteigt alles, was er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte und könnte eine erschreckende Wende in der russischen Geschichte heraufbeschwören.


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    Robert Harris ist seit seinem ersten Roman, Vaterland, als geschickter Verflechter von Fakt und Fiktion bekannt, und auch der 1998 erschienene Roman Aurora (Originaltitel Archangel) ist wieder ein "Was wäre wenn"-Spiel - doch diesmal bei weitem bestürzender als bei seinen anderen Werken. Das liegt vor allem daran, daß Aurora erschreckend nah an der Realität angesiedelt ist. Das Buch spielt zu Jeltzins Zeiten, doch mit Putin als Staatsoberhaupt sind die Parallelen noch deutlicher.
    Der Roman ist nicht immer leicht zu lesen - es gibt eine Vielzahl von Charakteren, und es ist gelegentlich schwer, den Überblick zu bewahren, vor allem, da viele von ihnen sehr oberflächlich gezeichnet sind. Doch Fluke Kelso ist ein interessanter (Anti-)Held, und die Handlung ist ausgesprochend spannend und beklemmend, wird sogar nach der "Auflösung" des Rätsels noch rasanter. Besonders gefallen haben mir aber die Beschreibungen der Russen und des russischen Lebens, die wirklich sehr zutreffend sind - und den Hauch von Wehmut haben, den wohl die meisten, die das Land lieben, angesichts seiner Vergangenheit und Gegenwart empfinden.


    Der Roman ist jüngst von der BBC als Zweiteiler verfilmt worden, mit Daniel Craig in der Hauptrolle.