Urs Widmer: «Valentin Lustigs Pilgerreise»

  • «Im Anfang war das Bild»




    Das Buch «Valentin Lustigs Pilgerreise» handelt von Bildern - des Malers Valentin Lustig. Und von den Bildern dieser Bilder - des Autors Urs Widmer. So weit, so schwierig. Aber jetzt kommt’s: Es sind da noch die Bilder der Bilder der Bilder - von uns, der Seher-/Leserschaft.
    Hmm, nochmals von vorne: Also, es gibt den 33-jährigen, im rumänischen Klausenburg geborenen, seit 25 Jahren in Zürich lebenden Maler Valentin Lustig. Und den 70-jährigen Basler, auch in Zürich wohnenden Schriftsteller Urs Widmer - und der Diogenes Verlag meint (zuhinterst, also zuvorderst): Die beiden «haben sich als Seelenverwandte entdeckt, ein künstlerischer Dialog hat sich entsponnen», daraus sei nun ein raffiniert komponiertes Gesamtkunstwerk entstanden. Diese Bemerkung stimmt - ist aber eine leere Werbe-Sprechblase. Es hilft also nichts: man muss noch weiter, mindestens bis zum Buch-Titel zurück, um anzufangen - nämlich: «Urs Widmer: Valentin Lustigs Pilgerreise - Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde - Mit Briefen des Malers an den Verfasser». Ja, so packt der Rahmen diese Galerie richtig, und nun kann man auch das allererste Bild aufrufen. Man betrachte es gut, denn es beinhaltet das ganze Buch und heißt «Vier lachende Knaben»:


    [Blockierte Grafik: http://glareanverlag.files.wordpress.com/2008/04/valentin_lustig_vier-lachende-knaben1.jpg]


    Und dann hat, nach dem Maler, der wohl seit Jahren bild-gewaltigste Texter der Schweiz seinen ersten Auftritt - und weit holt er schon zu Beginn aus, den Maler ein, und den Betrachter hinein:


    «Weißt du denn nicht, dass der Erdenkreis von Toten bevölkert ist? Den Verstorbenen alter und auch junger Zeiten? So sieben Milliarden Schatten dürften sie inzwischen sein, die Toten aller Zeiten, vom allerersten homo sapiens an, der keine vierzehn Jahr alt und eine Frau war, die nach der Geburt des dritten Menschen unserer Art starb, bis hin zu deinem Freund, der gestern verschied. Inzwischen leben mehr Menschen auf der Erde, als jemals auf ihr gestorben sind. Obwohl wir uns immer noch umbringen und auch die Viren ihr letztes Wort noch nicht gesprochen haben. - Die Toten gehen so, wie sie im Augenblick ihres Todes waren. Schwarz und nackt im Fall der ersten Gestorbenen, oder eben im Pyjama, mit einem eingeschlagenen Schädel, ohne Beine, bleich, im Gehrock, mit einer Schiebermütze auf dem Kopf, einem Stahlhelm. Wir sehen die Seelen nicht, die Aufmerksameren unter uns spüren sie zuweilen, vor allem, wenn wir durch eine hindurchgehen, die nicht ausweichen kann oder will. Wozu auch? Wir frösteln und haben einen Widerstand gespürt, so etwas wie dicke Luft.»


    Solchermaßen die Route dieser Reise von Lustig und Widmer abgesteckt erhalten, pilgert man nun als Leser los, 140 Seiten lang, an beiden Händen geführt von zwei Ver-rückten, die einen schnurstracks, oder auch auf Umwegen, in die Hölle reißen, zuweilen in den Himmel heben. Gott bewahre, langweilig sind die zwei Autoren wirklich nicht, sie unterhalten auf Teufel komm raus.
    «Unterhalten»? Wieder ein falscher Ansatz. Gewiss, der Wortwitz, auch der makabre oder ironische, und die skurrile Wendung, überhaupt das amüsierte Augenzwinkern angesichts der Welt, wie sie auch sein könnte, ist bekanntlich längst eines der zahllosen Wahrzeichen Widmerschen Schreibens - und der Former-Färber Lustig ist keinen Deut besser, womöglich noch kurzweiliger und abenteuerlicher, so als Malender. Es macht tollsten Lese-Spaß, dieses Buch durchzublättern - in einem Tollhaus zu «spazieren». Man lehnt sich angeregt zurück, vergleicht schmunzelnd Text mit Bild, durchmisst vergnügt exotische Fantasy-Welten und -Weiten bis zur Chinesischen Mauer hinauf, freut sich am schier wortgewaltsamen Fabulieren des Schreibers und an den surreal-komischen Kompositionen des Malers - einfach hübsch alles, und auch so, in dieser originellen Zwei- und Bildsamkeit, noch nicht oft gesehen.
    Aber da ist noch eine andere Ebene. Denn, so Widmer:


    «Im Anfang war das Bild. Fürs erste Bild kommt auch der beste Maler heute zu spät. Weil das so ist, wollen die Maler wenigstens das letzte Bild haben. Das ist verständlich. Wozu malten sie sonst. Die Schöpfung war nach sechs Tagen Arbeit ein prachtvolles Gemälde geworden, das sein Schöpfer am siebenten Tag mit Wohlgefallen ansah. Später sah er das, was er da getan hatte, eher als eine Art Testament, ein Vermächtnis, als einen Entwurf für etwas, was ihm später noch viel besser gelingen sollte. Aber er machte sich dann kein zweites Mal an die Arbeit, jene sechs Tage hatten ihn ausgelaugt. [...] Die Arbeit Gottes fertigmachen, einer muss es einmal tun. Schönheit schaffen, Entsetzen. So viel Zeit bleibt uns ja nicht mehr dafür. Nirgendwo tanzt es sich schöner als auf der heißen Herdplatte. Keinen Augenblick halten die Tanzenden inne.»


    Es ist diese spirituelle, um nicht zu sagen religiöse Einkehr von Bild und Text bei «Gott und der Welt und bei allen Zeiten», die aus jeder Seite des Bandes spricht. Allerdings nicht die stille, kontemplative, quasi versöhnliche Mantra-Einkehr, sondern eine des Nervösen, des Sprunghaften, des freischwebenden Assoziierens - jene, welche die beiden Autoren in ihrem Buch zuweilen als «Insomnia» bezeichnen. Widmer und Lustig kehren ein bei Kopernikus und bei Bart Simpson, in Hiroshima und in Zürich, zu Michelangelos David und zu den Pagoden Macaos, um endlich über Hamlet und dem Global Warming oder auch über Max Bill und dem Spitzschnabelerpel bei der Madonna in Manhattan und der Tante Hoka in der Badewanne (voller Getier) zu landen. Auf Schritt und Tritt wird der Leser, welcher der dritte Pilger ist, an Abgründe gezerrt, doch nicht hinuntergestoßen. Und hinters Licht geführt, auf dass er besser sehe. Und Widmer schreibt und schreibt und schreibt - und keinen Augenblick geschwätzig, sondern unangestrengt konzentriert, falls das geht, und bis in den Mikrokosmos der Wort-Wort-Beziehung hinein auskomponiert: «…Der irische Philosoph de Selby (derselbe, der…)»
    Wer diesem Urs Widmer beim Schreiben zuhört, kann Musik sehen - eine Art Widmer-Sound. Mir ist kein Schweizer Schriftsteller bekannt, der solche Ungeheuer von Gemälde ertönen lassen kann wie dieser zurecht vielfach ausgezeichnete Basler Dichter mit dem zwielichten Blick und dem klaffenden Haar. Diesem Autor scheint keine Erfahrungswelt verschlossen, und kein Gebiet des Erlebens, das sich nicht zumindest andeutungsweise mit Sprache fassen ließe. Der Widmersche Wörter- und Sätze-Kosmos mag (Literatur-verhältnismäßig) einfach sein, aber seine Bedeutungs-Weiten sind der schiere Zauber. Er und sein Brief-Freund Valentin beschreiten - mal absurd, mal zum Lachen, mal zum Leerschlucken, mal auch bloß interessant - einen Pilger-Weg, dessen 33 Stationen nur einen Nachteil haben: dass es nicht 66 oder 99 sind. Denn diesem Paar könnte man noch tagelang beim Kunstmachen zuschauen. Auch wenn schon zutrifft, wie’s Seite 102 heißt: «Das Eigentliche bleibt immer ungemalt. Ungeschrieben auch, übrigens.» (Walter Eigenmann)


    Urs Widmer&Valentin Lustig: Valentin Lustigs Pilgerreise, Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde, Mit Briefen des Malers an den Verfasser, Diogenes Verlag, 140 Seiten, ISBN 978-3257066340

  • Klappentext:
    Roter Faden ist eine »Pilgerreise, die in einem Zickzack voller Rätsel rund um die Erde führt, in manchen Himmel, in viele Höllen. Ist es ein Hinweg? Ist es ein Rückweg?« Auf den ersten Blick wirken Lustigs Bilder poetisch, traumwandlerisch und verspielt, doch ihre schöne Oberfläche ist »wie eine dünne Eierschale, unter der das Grauen ist«. Die Pilgerreise handelt vom Ende der Welt, von der großen Stille, von einer tiefen Unerlöstheit und Unruhe. Aufgefangen wird es von dem Humor, der beiden Künstlern zu eigen ist: »Langsam werde ich älter und weiser, jetzt weiß ich, dass das Ende der Welt, einer verwöhnten Diva gleich, auf sich warten lässt, denn siehe: Wir sind immer noch da und die Schweiz auch!« (Diogenes-Verlagsseite)


    Maler:
    Valentin Lustig (* 7. Oktober 1955 in Klausenburg, Rumänien) ist ein aus Siebenbürgen (Rumänien) stammender Künstler. Er lebt seit 1983 in der Schweiz. Seine Kunst reicht von naiv bis surrealistisch-phantastisch und enthält zahlreiche Anspielungen auf mythische und biblische Themen. Als Kind von Holocaustüberlebenden thematisiert Lustig auch das Schicksal des jüdischen Volkes. Doch dies kommt nicht explizit zum Ausdruck, da er sich einer individuellen und symbolischen bis ins Groteske reichenden Bildersprache bedient, die verschiedene Deutungen zulässt. (Wikipedia)


    Autor:
    Urs Widmer, geboren 1938 in Basel, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris. Danach arbeitete er als Verlagslektor im Walter Verlag, Olten, und im Suhrkamp Verlag, Frankfurt. 1968 wurde er mit seinem Erstling, der Erzählung ›Alois‹, selbst zum Autor. In Frankfurt rief er 1969 zusammen mit anderen Lektoren den ›Verlag der Autoren‹ ins Leben. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem >Heimito-von-Doderer-Literaturpreis< (1998) sowie dem >Friedrich-Hölderlin-Preis< der Stadt Bad Homburg (2007) ausgezeichnet. Urs Widmer starb 2014 in Zürich. (Diogenes-Verlagsseite)


    Persönliche Meinung:
    So eloquent wie der Verfasser der Rezension oben, ein Berufsschreiber, drücke ich mich nicht aus.
    Lustigs Gemälde machen einfach Spaß, weil man immer wieder etwas Neues entdecken kann und sowohl Ironie als auch Sinn oft erst auf den zweiten Blick auffallen. Widmers Texte folgen ihren eigenen Gedanken dazu ohne zwingend für den Leser zu sein.
    Rein sachliche Hintergrundinformationen, evtl. kunstgeschichtliche, oder allgemein gültige Interpretationen darf man nicht erwarten.
    Neben den Worten des Schriftstellers zu der Kunst des Malers enthält das Buch auch einen Briefwechsel zwischen beiden. Ob dies ein spontaner Austausch ist oder ein für dieses Buch verfasster, weiß ich nicht. Wegen der literarischen Sprache tippe ich auf die zweite Möglichkeit.


    Mal eine andere Sorte Buch für Leute, die Kunstbände mögen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)