Vor zwei Jahren war Brodeck als Ueberlebender eines Lagers beim Nachbarvolk und Feinde im Kriege in sein Dorf zurueckgekommen. Im Lager hatte er Unsaegliches erlebt: Er wurde « Hund Brodeck », der an der Leine spazieren gefuehrt wurde und « ein Nichts war ». Im Moment seines eigenen Schreibens und Nachdenkens ueber das Geschehene und Gewesene soll Brodeck parallel auf den Auftrag des Dorfes hin einen Bericht (Rapport) schreiben ueber das, was am Vortage passiert ist, damit die anderen auch wissen koennen, wie und warum geschehen ist, was geschehen ist: Quasi die versammelte maennliche Dorfgemeinschaft hat sich des Mannes entledigt, der vor einigen Monaten als Fremder in ihr kleines, so abgeschnittenes und auf sich selbst zentriertes Dorf gekommen war. Sein Name (im franzoesischen Original) ist der Anderer. Brodeck wird die Zeugnisse zusammenstellen. Gleichzeitig aber schreibt er eben auch offen in einer gewaltigen Erinnerungsarbeit (fuer wen?), seine Geschichte: sein Kommen als Kind in dieses Dorf, begleitet von der alten Fedorina, auf der Flucht in einem anderen Kriege; das Kennenlernen seiner Frau Emilia, Figur der Liebe, die ihn mitten im Dunkel der Lager hat aushalten lassen; die verschiedenen Besuche und Kontakte im Dorf, darunter natuerlich diese Aussenseiterfiguren wie eben der Anderer, die gerade ihm irgendwie nahe standen. Und es waechst der Eindruck der Bedrohung durch die Dorfgemeinschaft, die anscheinend geeint gegen das Fremde und Andere steht, und so – auf schreckliche Art und Weise – dem « Fratergekeime » gleichen, die Tod ausgesaet und Lager errichtet hatten. Der Anderer ist der unertraegliche Spiegel, in dem man sich sieht, der letzte Anruf, die letzte Einladung Gottes... Und ist Brodeck nicht letztlich in seinem Anderssein ebenso ein Fremder (geblieben)? Nicht nur durch sein spaetes Kommen ins Dorf, sondern auch eine andere Zugehoerigkeit? Wie wird es fuer Brodeck enden, oder weitergehen? Wie wird er sich seiner Aufgabe entledigen?
Wie Claudel dieses Buch meisterhaft mit Rueckblenden, Querverweisen, Gedankensplittern, Erinnerungen und Parallelen aufbaut ist einfach meisterhaft und fuer mich ein Genuss. Dunkel, dunkel, ja bis an den Abgrund der Schlechtigkeit und der menschlichen Niedrigkeit ist ein Grossteil des Geschehens. Wenn es aber dieses Boese gibt, wird es auf beiden Seiten dargestellt: Nicht nur beim verhassten Feind, sondern quasi in der eigenen Mitte, und zwar in beaengstigender Konzentration. Und doch ist da auch das Helle, in dem der Autor den ein oder die anderen beschreibt, insbesondere das Kind als ewiges Zeichen einer Verheissung. Inmitten eines anscheinend durch und durch makabren Geschehens koennte man abschnittsweise wunderbare Beobachtungen zitieren. Die Sprache ist – wie mir auch ein Franzoesischstaemmiger mitteilte – einfach, doch sehr schoen. Sie laedt bisweilen zum lauten Lesen ein, so gut klingen die Saetze. Fuer dieses Buch schaffte Claudel eine imaginaere (und doch irgendwie recht klar zu identifizierende) Landschaft, irgendwo im Grenzgebiet zwischen zwei Voelkern, die einander aber irgendwie verwandt sind. Er schafft eine ganze Fuelle an Woertern in einer Sprache, die so nicht existiert, die man aber bei gutem Willen verstehen kann. Mit diesem Roman will Brodeck seine Trilogie ueber die grossen Kriege/Genozide des XX. Jahrhunderts mit einer ebormen Einladung zur steten Erinnerung, des Eingedenkseins abschliessen (Monsieur Linh, Die grauene Seelen). Es ist ihm meisterlich gelungen.
Broché: 400 pages
Editeur : Stock (14 août 2007)
Langue : Français
ISBN-10: 2234057736
ISBN-13: 978-2234057739