Milan Kundera - Das Leben ist anderswo/ Zivot je jinde

  • Originaltitel: Zivot je jinde


    Kurzbeschreibung (von Amazon kopiert):
    Jaromil ist ein ebenso anrührender wie lächerlicher junger Mann, aus dem seine Mutter einen Dichter machen will (was nicht heißt, daß er nicht Talent, Gefühl und Phantasie hätte). Sie ist es auch, die ihn mit ihrem Ehrgeiz verfolgt und ihn sein Leben lang überallhin begleitet: die ihn zu seinen Liebeslagern geleitet und (ganz körperlich) bis zum Totenbett.


    "Wenn die Mutter des Dichters darüber nachdachte, wo dieser empfangen worden war, kamen nur drei Möglichkeiten in Betracht: auf einer Bank in einem abendlichen Park, an einem Nachmittag in der Wohnung, die einem Kollegen des Vaters gehörte, oder vormittags in einer romantischen Gegend unweit von Prag. Wenn sich der Vater des Dichters dieselbe Frage stellte, kam er zu dem Schluß, daß der Dichter in der Wohnung des Kollegen empfangen worden war, denn an jenem Tag hatte er nichts als Pech gehabt."
    Ein grandioser Anfang, und ebenso grandios geht es auf den nächsten 340 Seiten weiter.


    Ironisch und gleichzeitig mit tiefem Verständnis für die Nöte eines Heranwachsenden erzählt Kundera die Geschichte von Jaromil, der ein Dichter sein will, der politisch sein will, der um Anerkennung ringt und der nach der Liebe sucht. Im Hintergrund (und leider oft auch im Vordergrund): Die Mutter.
    Jaromil wächst als Kind auf in der Bewunderung, der Affenliebe und dem Applaus der Mutter. Ihr beider Leben dreht sich umeinander, v.a. weil der Vater früh stirbt.
    In all seinen Beziehungen erwartet Jaromil dieselbe ungeteilte Liebe wie er sie durch seine Mutter erfahren hat. Er verfolgt seine Freundinnen mit Eifersucht und geht sogar so weit, seine Geliebte bei der Polizei anzuschwärzen, als sie sich mit ihrem Bruder trifft.
    Auch durchzieht die Sucht nach Anerkennung als Dichter sein Leben. Er gebraucht große Worte und politische Reden, die er irgendwo aufgeschnappt hat, um sich Gehör zu verschaffen und gelobt zu werden. Nicht beachtet, widerlegt oder übergangen zu werden stürzt ihn in Verzweiflung.
    Außer Jaromil hat keine der Personen des Romans einen Namen. Der Autor nennt sie z.B. "die Mutter" oder "den Maler" oder "die Rothaarige".


    Das 1969/70 geschriebene "Das Leben ist anderswo" ist Kunderas Abrechnung mit dem Kommunismus in seiner tschechischen Heimat. Daher durfte das Buch dort nicht erscheinen, sondern wurde 1973 in Frankreich veröffentlicht.


    Es ist ein Genuss, dieses Buch zu lesen.



    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Milan Kundera ist sicher einer der wichtigsten europäischen Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Als kommerziell und literarisch erfolgreichster Roman ist „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von 1984 zu nennen, auch „Die Unwissenheit“ aus dem Jahr 2000 hat mir sehr gefallen. Mein Liebling unter seinen vielen Romanen aber ist „Der Scherz“ von 1965, Kunderas große Abrechnung mit der stalinistischen Diktatur in seiner tschechischen Heimat. Überhaupt ist auffällig, daß sich die wichtigen Bücher des seit 1975 in Frankreich lebenden Schriftstellers mit seiner tschechischen Heimat, den Folgen des Kommunismus und der Immigration seiner Landsleute beschäftigen, während die späteren, in Frankreich geschriebenen Romane mit „außer-tschechischen“ Themen in ihrer Qualität doch sehr abfallen, als sei Kundera der ihm eigene Stoff abhanden gekommen.


    „Das Leben ist anderswo“ stammt von 1971 und ist, wenn man Wikipedia vertrauen darf, der letzte von Kundera in der Tschechoslowakei geschriebene, dort aber bis 1989 nicht veröffentlichte Roman gewesen. Entstanden zu einer Zeit also, als nach der Niederschlagung des Prager Frühlings die politische Eiszeit Einzug gehalten hatte und Kundera bereits zur Unperson erklärt worden war. Ein Buch also, welches unabhängig von Selbstzensur und politischer Rücksichtnahme entstehen konnte und deshalb kein Blatt vor den Mund nimmt.


    Erzählt wird die Geschichte Jaromils, der einzigen namentlich genannten Figur in der Geschichte. Jaromil ist vieles zugleich: er ist ein Dichter, er ist ein politischer Aktivist unter der roten Fahne der kommunistischen Umformung der Gesellschaft und er ist ein sensibler und liebender junger Mann. In erster Linie aber ist Jaromil ein Muttersöhnchen, ein unselbständiges Bürschlein voller Selbstzweifel, ein Mitläufer und Opportunist, ein infantiler und zutiefst verängstigter junger Mann und am Ende auch ein Verräter und Denunziant.


    Kundera spannt den zeitlichen Bogen seiner Geschichte über mehrere Jahrzehnte und streift so gleich mehrere Epochen der wechselvollen tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: die Phase der politischen Unabhängigkeit zwischen den Kriegen, die deutsche Besatzung durch Hitlers Wehrmacht, die Befreiung durch die Rote Armee und schließlich, nach 1948, der gesellschaftliche Umbau hin zum Sozialismus stalinistischer Prägung.
    Von Beginn an ist es Jaromils Mutter, die der Entwicklung ihres Sohnes den von ihr gewünschten Stempel aufdrückt. Unbeeinflusst durch einen ( im Krieg gefallenen ) Ehemann, hält sie ihren Sohn klein, erzieht ihn zu emotionaler Abhängigkeit und redet ihm ein, er sei mit einem außerordentlichen dichterischen Talent und einer empfindsamen Künstler-Seele ausgestattet und zu Höherem berufen: welche Mutter wünschte sich nicht für ihren Sohn eine besondere Fähigkeit, eine höhere Gabe ?! Tatsächlich jedoch ist Jaromil nicht mehr als ein durchschnittlicher Knabe mit durchschnittlichen Fähigkeiten, seine ersten Gedichte nicht mehr als das Aneinanderreihen von poetischen Versatzstücken und Stilblüten, welche er sich bei anderen Dichtern abgeschaut hat. Tief in seinem Innern ahnt und befürchtet Jaromil, daß an ihm weit weniger Besonderes ist, als ihm die Mutter einzureden versucht, doch in seinem Drang nach Anerkennung und Bewunderung durch Andere entwickelt er skurrile Strategien, um von sich das gewünschte Bildnis des intellektuellen Dichters zu erzeugen. So sammelt er in einem Büchlein Zitate, Sinnsprüche und Redewendungen, um diese bei Bedarf abrufen zu können und sich in Gesprächen interessanter zu machen, seine Unsicherheit und seinen Mangel an individueller Persönlichkeit überspielt er, indem er von ihm bewunderte Menschen in Sprache und Ausdruck kopiert.


    Unter normalen gesellschaftlichen Umständen wäre Jaromil wohl das geblieben, was er tatsächlich ist, ein unsicherer und unbeholfener Junger Mann auf der Suche nach seinem eigenen Ich. Irgendwann hätte sich wohl seine Entwicklung normalisiert, er hätte herausgefunden, wie und wer er sein will, einen Beruf ergriffen, geheiratet…… Doch an dieser Stelle kommt der Kommunismus ins Spiel: In einer Phase größter Unsicherheit und Verbitterung erfährt Jaromil Halt in einer übergeordneten politischen Aufgabe, Anerkennung im gemeinsamen Streben nach dem gesellschaftlichen Umbruch, eine Ernsthaftigkeit und einen Absolutheitsanspruch, der Jaromils Streben und seinem Wunsch nach einer harten Männlichkeit entgegenkommt, in der Politik wie in der Liebe: Entweder die Zukunft wird neu sein, oder sie wird nicht sein ! Entweder die Liebe wird ausschließlich sein, oder sie wird nicht sein !!
    Und so kommt es, daß Jaromil nun opportunistische Gedichte über Traktorfahrer schreibt, über Soldaten und über Werktätige, die ihr Plansoll erfüllen; daß er nun verächtlich und, von seiner eigenen Wichtigkeit beseelt, mit geschwellter Brust auf Diejenigen herabsieht kann, zu deren Intellekt er einst bewundernd und unsicher aufschaute; und daß er aus Rache und Eifersucht den Bruder seiner Freundin an die Geheimpolizei denunziert, weil dieser das Land verlassen will und sich die Schwester an diesem letzten Abend lieber von ihrem Bruder verabschieden möchte, als die Zeit mit Jaromil zu verbringen, kurz: der Kommunismus bringt die schlimmsten Wesenszüge in Jaromil hervor, befördert diese und läßt sie ungeheuerliche Konsequenzen nach sich ziehen.


    Wie in allen Kundera-Romanen ist nicht der Kommunismus selbst das Hauptthema der Geschichte, er ist nur die Hintergrundfolie, vor der sich Beziehungen und Menschen entwickeln, einander in Liebe und Erotik begegnen, sich schließlich mißverstehen, einander verraten und am Ende vereinsamt und tief enttäuscht auseinandergehen. Allerdings verhehlt Kundera niemals, daß es der Kommunismus ist, der es den Menschen leicht macht, sich so und nicht anders zu verhalten, der den Verrat, die Denunziation und das Zerstören jeglichen Vertrauens begünstigt und fördert, in dem er die Menschen korrumpiert, verführt und aus politischen Erwägungen über Leichen geht. Zurück bleiben Menschen mit tiefen seelischen Verletzungen und gebrochenen Biographien, als verratene Opfer, aber auch als Täter und gescheiterte Menschen.


    Kunderas Figuren ist gemeinsam, daß sie ihrem Umfeld und ihrer Zeit hilflos gegenüberstehen, denn egal, ob Opfer oder Täter; egal, wie sie sich verhalten, werden beide am Ende doch betrogen und drängt sich ihnen das Gefühl auf, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. „Das Leben ist anderswo“, jene Worte, den die Pariser Studenten laut Kunderas Nachwort 1968 in ihrem Protest an die Mauern der Sorbonne schrieben, trifft deswegen auch auf Jaromil und alle anderen ihn umgebenden Figuren zu. Aus ihnen spricht eine tiefe Trauer und Resignation. Und die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben.

  • Originaltitel: Zivot je jinde


    Leider gibt es dazu keine ISBN bei amazon.de, deshalb die englische Version: Life Is Elsewhere

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker: