3. Teil: Kapitel XIV. bis XIX.

  • Wenn ich es überschreiben müsste, dann so.



    JETZT gehts los!!!


    Ich hab das Gefühl, dass sich in unserem 3. Teil die Schreibweise etwas geändert hat.


    Die Geschichten sind irgendwie tiefgründiger.


    Mit der Hotelbesitzerin Lottika kann man richtig mitfühlen. Einerseits ist sie die nette immer lächelnde Wirtin, die gekonnt den Gästen das Geld aus der Tasche zieht, ihr Hotel entsprechend absichert und dann sitzt sie im kleinen Kämmerlein und zieht die Fäden für die gesamte Großfamilie (ohne Handy und ohne Internet).


    Oder auch die Kneipe gegenüber dem Hotel, in der das Volk seinen Raki trinkt und sich auf Kosten anderer amüsiert. Die Beschreibung des "Dorftrottels" Corkan der zu guter letzt auf der vereisten Brückenbrüstung tanzt fand ich ebenso gelungen. Die Figuren kommen mir lebendiger vor als noch bei der ersten Hälfte des Buches. Vielleicht lasse ich mich täuschen und ich hab mich tiefer eingelesen oder mich noch mehr mit dem Buch identifiziert.


    Der Bau der Bahnlinie bringt dann um so mehr Unruhe in das Buch. Bei den jungen Städtern herrscht Aufbruchstimmung (als alter "Ossi" kommt mir diese Situation nicht ganz unbekannt vor :wink: ) und bei den Alten bzw. den Bauern macht sich Ablehnung gegen das Neue breit. Oberablehner natürlich wie immer Alihodscha.


    Zitat:
    ... es sei nicht wichtig, wieviel Zeit der Mensch spare, sondern was er mit der ersparten Zeit beginne; wenn er sie schlecht verwende, dann sei es besser, er habe sie nicht.


    Nun rückt auch die Brücke merklich aus dem Mittelpunkt. Der Autor lässt unseren Blick mehr auf den Umbruch in der Stadt und den Einzug des Fortschritts schweifen. Die Brücke ist nur noch Bindeglied, nicht mehr Zeitvertreib oder Treffpunkt. Die Bürger fangen an ihre gewonnene Zeit mit anderen Dingen zu füllen. Der Druck der beginnenden Marktwirtschaft macht den Leuten erstmals zu schaffen und so reicht bei vielen das Geld hinten und vorne nicht.
    Aus dem beschaulichen Ruhe miteinander wird nun langsam Hektik und Betriebsamkeit. Auch von den ersten Ansätzen des Klassenkampfes ist die Rede.


    Mir gefällt dieser Teil des Buches sehr gut und meine Nachttischlampe wird wohl heute Abend etwas länger brennen.


    Das Buch wird am Wochenende fertig gelesen.


    Was ich ebenfalls gelernt hab, ist die Zusammensetzung dieses Vielvölkerstaates, ehemals Jugoslawien.
    Ich habe in den 90er Jahren in einer Firma gearbeitet, bei der ein Kroate und ein Serbe beschäftigt waren. Die beide waren wie Zwillinge und auf Grund ihres Größenunterschiedes bei vielen bekannt. Als nun der Krieg dort ausbrach, ging jeder seiner Wege und wenn sie sich begegneten, dann haben sie voreinander ausgespuckt.


    Mir ist das alles etwas näher gebracht worden und einige unschöne Szenen erklären sich damit.

    Seien Sie vorsichtig mit Gesundheitsbüchern - Sie könnten an einem Druckfehler sterben. #-o


    Mark Twain

  • Kapitel 16 beendet.


    Alwin: Du scheinst eine andere Ausgabe (Übersetzung??) zu haben, in meiner heißt Dein "Corkan" nämlich "Tschorkan".


    Tatsächlich wird das Buch zusammenhängender, die Zeit scheint je weiter das Buch fortschreitet immer langsamer zu laufen.


    Lottika ist bisher eine der interessantesten Figuren, sie wirkt auch weniger "märchenhaft" als viele andere, vielleicht weil sie westlicher ist? Tschorkan auf dem Brückengeländer hat mir auch gut gefallen - irgendwie kann er auf diese Art kurz seine Liebe zur Seiltänzerin "ausleben".
    Interessant auch, wie groß die Welt zu dieser Zeit noch war, Österreich, der Kaiser, die Kaiserin bleiben für die Menschen abstrakt und wenig fassbare Dinge - außer wenn sie, wie der Bau der Eisenbahn, direkt in ihr Leben einbrechen. Und tatsächlich brechen diese Dinge, auch die Reparatur der Brücke über sie herein, wie göttliche Interventionen ohne Beteiligung der Bevölkerung.
    Die Bahnstrecke hat mich (natürlich) mal wieder geographisch verwirrt, aber ein Blick in die Wikipedia hat wieder geholfen: natürlich führt die Bahnstrecke nach Sarajewo über die Drina, sie tut es nur nicht bei Wischegrad!


    Katia

  • Diesen Teil habe ich heute beendet und wie Alwin den Plan das Buch am Wochenende, vielleicht sogar heute schon, auszulesen.
    Im Moment steht die politische Situation, der Zusammenbruch des türkischen Reichs, die Annexion durch Österreich-Ungarn im Vordergrund, die Politisierung der Jugendlichen. Um das nicht zu trocken und ernsthaft geraten zu lassen, und die einzelnen Menschen nicht zu sehr aus dem Blickfeld zu verlieren, erzählt Andric wieder an Beispielen und Einzelschicksalen und flicht auch kleine Stadtanekdoten bei, z.B. die Eröffnung des ersten Bordells.
    Natürlich weiß man als Leser, was passieren wird, wir wissen mehr als die diskutierenden Schüler und Studenten, wir wissen um den ersten Weltkrieg und was ihn ausgelöst hat. Für mich ist es besonders interessant mal aus serbischer Sicht zu lesen, wie es dazu kam.


    Katia

  • Ich finde auch, dass sich das Buch ab diesem Teil wesentlich einfacher liest. Die erste Hälfte des Buches, da verfliegt die Zeit, die Jahrhunderte, dadurch springt man natürlich von Generation zu Generation, fleigender Wechsel der Figuren. Die zweite Hälfte beschreibt dann nur noch eine Zeitspanne von 50 bis 60 Jahre, die Personen bleiben uns lange erhalten, für mich ist das angenehmer. Allerdings habe ich das Buch bis jetzt mit großem Interesse gelesen, es ist schon ein einzigartiges Zeitbild :thumleft:

  • Zitat

    Original von Katia
    Alwin: Du scheinst eine andere Ausgabe (Übersetzung??) zu haben, in meiner heißt Dein "Corkan" nämlich "Tschorkan".
    Katia


    Das kann durchaus sein, da ein bestimmtes slawische c (mit einem verkehrten Dach drauf oder aber wie bei Andric, mit einem Akzent) als tsch ausgesprochen wird. Solche Buchstaben gibt es in allen slawischen Sprachen... Andric wird ja Andritsch ausgesprochen...

  • Zitat

    Original von tom fleo
    Andric wird ja Andritsch ausgesprochen...


    Danke für diesen Tipp :uups:


    Frage am Rande: Sándor Márai wird Schandor ??? ausgesprochen? Márai auch nicht als Márai, oder?


    Ich bin mit diesem Teil durch.


    Eine Überlegung, bevor ich weiter lese. Wird der I. Weltkrieg mit den unterschiedlichen jungen Menschen und ihren Ansichten dargestellt? Werde gleich meine Frage selber beantworten ;)

  • Zitat

    Original von Heidi Hof
    Frage am Rande: Sándor Márai wird Schandor ??? ausgesprochen? Márai auch nicht als Márai, oder?


    Andritsch war mir klar, aber Schandor ist mir neu - stimmt aber, die Wikipedia (langsam müssen die mir was bezahlen, wie oft ich die in dieser LR erwähne ;) ) hat Lautschrift dabei.


    Katia

  • Heidi,
    Sandor, Schandor ausgesprochen, ist doch ein ungarischer Name. Ungarisch aber ist nicht eine slawische Sprache, sondern stammt aus einer ganz anderen Sprachenfamilie (siehe:http://de.wikipedia.org/wiki/Ungarische_Sprache). Allerdings gibt es auch in den slawischen Sprachen ein s (oft mit einem verkehrten Dächlein drauf), das wie sch ausgesprochen wird.

  • Ich bin (auch erst) heute mit diesem Teil des Buches fertig geworden und bewundere die Vorredner für die passenden Zusammenfassungen :thumleft:! Ich habe vor allem das 19. Kapitel geschätzt, mit u.a. den Gesprächen auf der Brücke unter den Studenten.
    Meines Erachtens lernt man einiges zum Thema "Nationalismus": die Hoffnung, dass das Auseinanderbrechen der Grossreiche "endlich" der eigenen Identität Raum geben könnte... Auf dem Hintergrund langer Eingebundenheit in größere Strukturen, erahnt man, warum in diesen Ländern teils das Nationalempfinden so ausgeprägt ist. Und neben der Hoffnung auf kleinere Einheiten gab es dann den Traum einer südslawischen Macht (Jugoslawien). Es ist äußerst interessant, davon zu lesen (auch wenn ich immer wiedr durcheinander komme :uups:).

  • Hallo,
    ist es nicht langsam an der Zeit, über die Meinung Andric`s zu sprechen? Mir ist schon häufiger aufgefallen, daß er eine teilweise sehr negative Meinung hat, z.B. gegenüber den Türken. Auch wenn er immer wieder versucht, diese zu relativieren. Aber wie er nun über die Schüler/Studentendiskussionen spricht - das finde ich doch etwas heftig. Jede junge Generation hat doch ihre Träume und Hoffnungen. Natürlich finden sich begabte junge Leute zusammen um darüber zu diskutieren. Das alles nur als Phantastereien abzutun, klingt in meinen Ohren etwas zu hart. Schon alleine so kleine Sticheleien wie: ..."abends trafen sich alle auf der Brücke - nachmittags über war man beim Schwimmen". Oder reagiere ich da zu empfindlich???
    Eine Sache hat mich anfangs auch sehr gestört aber inzwischen lese ich darüber hinweg. "Mohamedaner" ist in dem Sinne eine Beleidigung und würde nie von einem Moslem in den Mund genommen werden. Aber ich habe bei einer anderen LR schon gehört, daß man das in alten Übersetzungen wohl nicht so ernst genommen hat. Hat jemand zufällig Beziehungen um herauszufinden, wie es im Original steht?


    Viele Grüße
    Leseratte

    ...Dann sagte ein Lehrer: Sprich uns vom Lehren.
    Und er sagte:
    Niemand kann Euch etwas eröffnen, das nicht schon im Dämmern Eures Wissens schlummert.


    Khalil Gibran
    Der Prophet

  • Zitat

    Original von leseratte4
    Mir ist schon häufiger aufgefallen, daß er eine teilweise sehr negative Meinung hat, z.B. gegenüber den Türken.


    Stimmt! Er manipuliert den Leser schon auf eine gewisse Weise. Mein Empfinden, dass es die Österreicher besser gemacht haben, liegt auch z. T. daran, wie es der Autor vermittelt. Wenn man ein wenig recherchiert, sieht es nicht ganz so positiv aus.
    Er stellt mit dem 3. Kapitel alle Grausamkeiten den Türken unter, also dem Islam, und das Christentum rückt er zu sehr ins helle Licht.
    Aber der Leser muss, wie bei jedem Buch, sich immer seine eigene Synthese schaffen, und versuchen etwas objektiver das Geschehen zu betrachten. Hier tut er gut damit :thumright:

  • Ja, absolut "neutral" steht Andric wohl nicht dem Geschehen gegenüber... Als in Visegrad lebender Kroate, und späterer Diplomat (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Ivo_Andric ) und in Serbien lebender "Jugoslawe" neigt er in manchen Äusserungen in Richtung der Serben, bzw. in eine leichte Kritik der msulimischen Bevölkerung.
    (Es ist - bei aller wünschenswerten Objektivität - zu fragen, ob es wirklich möglich ist, nicht Stellung zu beziehen, und insofern "einseitiger" zu sein, wenn man in diesem Land groß geworden ist...)
    Allerdings - Leseratte - würde ich das nun nicht am im Deutschen verwendeten Wort festmachen. Ich habe nun nicht das Original vor Augen, aber zumindest im Deutschen war "Mohamedaner" lange Zeit über gang und gäbe. Zumindest habe ich diese Bezeichnung (ohne negative Besetzung) als Kind selber noch so gehört.
    Erst viel später verstand ich, dass es anscheinend nicht das angebrachte Wort ist.

  • Ich komme nochmals kurz auf die Frage der Negativsicht auf ein Volk zu sprechen...
    Nach Beendigung des Buches und wenn ich nun an die hier angesprochenen Kapitel zurückdenke, scheint mir doch, dass Andric in Alihodscha eine Gestalt zeichnet, die zwar tragisch und manchmal in peinlicher Situation dargestellt wird, die aber meines Erachtens der "Wahrheit" oder einer nicht einseitigen Position am nächsten kommt. Dieser Alihodscha ist mir inzwischen echt lieb geworden. Bei jedem Machtwechsel stellt er sich nicht schnell opportunistisch auf die jewils stärkere Seite, sondern gibt seine Kritikpunkte an, bleibt bei seiner etwas "einsamen" Position. Er steht eben damit oft alleine da, denn unsere Welt liebt die Einseitigkeit und die eindeutigen Positionsbeziehungen, doch er scheint mir auf diese Weise aufrichtiger und weitsichtiger als die überwiegende Mehrheit...

  • Mit diesem Teil bin ich nun durch, er liest sich - wie schon mehmals erwähnt -wirklich einfacher.


    Besonders die Gespräche der Studenten haben mir sehr gefallen. Der technische Fortschritt (Eisenbahn,), der westliche Einfluss. Die Studenten kommen mit allerhand Ideen in ihre Heimat.
    Sie fühlen sie sich gegenüber der "arbeitenden" Schicht überlegen, eine Kluft entsteht. Besonders das Zwiegespräch zwischen Stikowitsch und Glasintschanin fand ich diesbezüglich sehr aufschlussreich. Stikowitsch wird "verlogener und ungesunder" Ehrgeiz vorgeworfen, der einzig seiner Eitelkeit entspringt. Glasintschanin unterstellt ihm, rücksichtslos und blind für soziale Bindungen und Zustände zu sein.
    .... bester Nährboden für "Nationalismus"

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)