2. Teil: Seite 83 - 143

  • Irgendwie schwirrt mir der Kopf. Die Personen haben mehr Beziehungen zueinander, als man zu Beginn vermuten konnte.


    Die Geschichte rund um Carla erinnert mich immer wieder an Bölls "Ansichten eines Clowns". Das konservative, biedere Elternhaus, das eigentlich nur den Schwein wahren und die perfekte Familie spielen will.
    Das Mädchen aus "gutem Hause" wird unstandesgemäß schwanger, für die Mutter bricht die perfekte Welt zusammen, sie ist nicht fähig, dem Mädchen Rückhalt zu geben, im Gegenteil.


    Die Anschuldigungen rund um Washington sind momentan noch zu verwirrend, da werden wir wohl im 3. Teil klüger.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Rosalita. Schoen, dass wenigstens Du Dich meldest. Ich hatte schon die Befuerchtung, die Leserunde haette ein Schweigegeluebde abgelegt oder waere geschlossen nach Kanada durchgebrannt, ohne mir Bescheid zu geben.
    Aber im Ernst: Das Buch ist wirklich nicht einfach zu besprechen. Es bietet keine kontinuierliche epische Handlung, sondern einen Zustandsbericht, ein Kaleidoskop verschiedener Schicksale im Nachkriegsdeutschland. Es kommen eine Menge Personen vor, die entweder zusammengehoeren oder deren Wege sich an diesem Tage kreuzen; einige lernt man etwas ausfuehrlicher kennen, andere wiederum tauchen immer nur kurz auf (Richard, Schnakenberg, die Tochter der Hausmeisterin). Man muss schon am Ball bleiben, um nicht die Uebersicht zu verlieren.


    Mir gefaellt das Buch ausnehmend gut. Das liegt vor allem an der Sprache. Die meisten Buecher sind mehr oder weniger "runtererzaehlt", die Sprache ist eher Vehikel als intensiv eingesetztes Gestaltungsmittel. Koeppen kann mit der Sprache umgehen, er stellt richtig etwas mit ihr an. Ich habe ja schon einige Stilmittel genannt, von denen mir als die wichtigsten der Gedankenstrom und die Assoziationen erscheinen.


    Die Assoziationen haben die Funktion von Vergleichen, sie sollen einen Zustand, einen Sachverhalt oder ein Gefuehl veranschaulichen. Gleichzeitig charakterisieren sie eine Person, ihr Denken und Fuehlen sehr stark, geben ihr ein individuelles Gesicht.


    Drei Beispiele:
    Emilia will im staedtischen Leihhaus einige ihrer Sachen verpfaenden. Die Waende dort sind mit Marmor ausgekleidet und erinnern sie an ein Schwimmbecken, aus dem das Wasser abgelassen wurde. Sie und die Leute treiben auf dem Grunde des Beckens, waehrend oben drueber das Leben ist, das Weiterleben, das Ueberleben. Durch das Verpfaenden kann man kurze Zeit ins Leben auftauchen und Luft schnappen, bis man endgueltig untergeht.


    Carla ist verzweifelt. Sie erwartet ein Mischlingskind, und der Arzt verweigert die Abtreibung. Als sie bei ihrer Mutter - Frau Berend - Trost und Halt suchen will, scheint die sich in einen Fisch zu verwandeln, in eine Flunder, kalt, glitschig, "fischig abweisend", aengstlich und monstroes zugleich. Etwas, das ausweicht, zappelt, an dem man abgleitet und keinen Halt findet.


    Besonders gut gefallen hat mir die Stelle mit dem Koffertraeger Joseph und dem Schinkensandwich. So skurril und ungewoehnlich sie zunaechst wirkt, so gelungen und stimmig ist sie. Joseph bekommt vom Schwarzen Odysseus ein dickes Schinkensandwich, von dem er kaum abbeissen kann und das er nicht mag, weil es ihn mit seinem suesslich schmeckenden Schinken und den welken Salatblaettern an ein mit Efeu bewachsenes Grab, an das Grab einer Schinkensemmel, und dadurch an den eigenen Tod erinnert. Da Joseph kurz darauf im Stadion von seinem Tod traeumt, scheint mir die Sandwich - Episode ein Omen des nahenden Todes von Joseph zu sein.


    Koeppen arbeitet auch mit einer Reihe von literarischen Anspielungen, z.B. an die "Morgue" von Gottfried Benn oder an Kafka, dazu gibt es immer wieder Bezuege zu antiken Mythen.

    Gruss mofre

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    Einmal editiert, zuletzt von mofre ()

  • Ja, irgendwie ist es still geworden .... ich glaube aber, dass es auch am Buch liegt. Ich finde es sehr schwierig zu lesen und noch schwieriger, Gedanken dazu aufzuschreiben.


    mofre: DANKE für diese Erklärungen. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass mir das Buch zu "hoch" ist. Ich habe schon gedanklich genug zu tun, die Personen miteinander in Zusammenhang zu bringen, und mir fallen auch einige Vergleiche auf, doch weiter schaffe ich es nicht.
    Dieses Buch schreit nach einem "re-read", ich glaube, erst dann wird einem die Meisterleistung so richtig bewusst.


    Trotzdem lese ich es gerne.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


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    Einmal editiert, zuletzt von Rosalita ()

  • Ich muss zugeben, daß ich seit heute Mittag ganz durch bin, ohne auf den zweiten Teil eingegangen zu sein.


    Ich werde mich dann morgen, mit ein wenig Abstand, zu diesem in meinen Augen sehr bemerkenswerten Buch melden.


    Gruß
    Richard

    "Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert."


    Paul Coelho


    :study:John Irving - Owen Meany

  • Rosalita, lass Dich nicht von der Erzaehlweise des Romans beirren und rede Dir nicht ein, dass er Dir zu hoch sei. Auch wenn einem vielleicht das Hintergrundwissen fehlt, um die literarischen Anspielungen erkennen und die sprachliche Struktur richtig durchschauen zu koennen, ist das Buch doch nicht schwer zu verstehen.
    Ich glaube, die Schwierigkeit fuer Dich, mich und unsere verstockt schweigende Leserunde besteht darin, dass Koeppen gegen unsere Lesegewohnheiten buegelt. In den letzten Jahrzehnten ist man in der Literatur wieder sehr stark zum traditionellen Erzaehlstil zurueckgekehrt. Also, meist wird die Geschichte eines Protagonisten erzaehlt, mal mit Rueckblenden oder Zeitspruengen, aber in kontinuierlichem, zusammenhaengendem Erzaehlfluss.
    Koeppen aber versucht, die Wirklichkeit in der Sprache selbst zu imitieren. Und wie sieht die Wirklichkeit nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland aus? Ein einziger Truemmerhaufen. Bruchstuecke, Splitter, Ruinen. Mann und Sohn gefallen, Eltern durch Bombeneinschlag getoetet, Nachbarn im Konzentrationslager umgekommen, Wohnung und Besitz zerstoert. Keine Arbeit, kein Geld. Das Leben kein kontinuierlicher Fluss mehr, sondern regelrecht abgebrochen. Und nicht nur das aeussere Leben, auch alle Plaene, Traeume, Hoffnungen liegen in Truemmern, der Sinn des Lebens ist abhanden gekommen. Und diese Bruchstueckhaftigkeit, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit laesst Koeppen in den vielen, den Leser etwas verwirrenden und in Atem haltenden Episoden durch seine Erzaehlweise und Sprache plastisch zum Ausdruck kommen.


    Gruss mofre

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