Christoph Ransmayr - Morbus Kitahara

  • Klappentext (leicht geändert):
    »Der Friede von Oranienburg« ist der Name für die Jahre und Jahrzehnte nach dem großen Krieg. Aber dieser Name bezeichnet keine Epoche des Wiederaufbaus, sondern eine der Sühne, der Vergeltung und Rache. Nach dem Willen der Sieger sollen die geschlagenen Feinde aus den Ruinen ihrer Städte und Industrien zurückkehren auf die Rübenfelder und Schafweiden eines vergangenen Jahrhunderts. Drei Menschen begegnen sich in Moor, einem verwüsteten Kaff an einem See im Schatten des Hochgebirges. Ambras, der »Hundekönig« und ehemalige Lagerhäftling, wird Jahre nach seiner Befreiung Verwalter jenes Steinbruchs, in dem er als Gefangener gelitten hat. Verhaßt und gefürchtet haust er mit einem Rudel verwilderter Hunde im zerschlissenen Prunk der Villa Flora. Lily, die »Brasilianerin«, die Grenzgängerin zwischen den Besatzungszonen, die vom Frieden an der Küste des fernen Landes träumt, lebt zurückgezogen in den Ruinen eines Strandbades. An manchen Tagen aber steigt sie ins Gebirge zu einem versteckten Waffenlager aus dem Krieg, verwandelt sich dort in eine Scharfschützin und macht Jagd auf ihre Feinde. Und Bering, der »Vogelmensch«, der Schmied von Moor: Er verläßt sein Haus, einen wuchernden Eisengarten, um zunächst Fahrer des Hundekönigs zu werden, dann aber dessen bewaffneter, zum Äußersren entschlossener Leibwächter. Doch in diesem zweiten Leben schlägt ihn ein Gebrechen, ein rätselhaftes Leiden am Auge, dessen Namen er in einem Lazarett erfahren soll: Morbus Kitahara, die allmähliche Verfinsterung des Blicks.


    Christoph Ransmayr spielt mit der Idee, was gewesen wäre, wenn der Morgenthau-Plan tatsächlich in Deutschland nach dem Krieg durchgesetzt worden wäre. Die Industrieanlagen werden demontiert, das Schienennetz stillgelegt, Elektrizität mit Diesel-Generatoren erzeugt, usw. Die Menschen aus dem Ort Moor, gelegen an einem See am Fuß eines Hochgebirges, leben von Arbeiten im Steinbruch (der im Krieg von Zwangsarbeitern bearbeitet wurde und nun den neuen Herren, also den Amerikanern, gehört), von der Landwirtschaft und vom Fischfang. Waffen sind verboten, umherziehende Räuberbanden machen den Einheimischen das Leben schwer, um den Ort zu verlassen, benötigt man einen Passierschein.


    Es ist also ein düsteres, deprimierendes Umfeld, in dem die Geschichte spielt, die sich über 20-30 Jahre hinzieht. Inhaltlich geht es vor allem um die drei Protagonisten (ansonsten spielen nur noch vier bis fünf Nebenpersonen eine Rolle) und ihre Beziehungen zueinander. Was ich vermisst habe: Eine Wandlungsfähigkeit der Personen. Sie bleiben über die Jahrzehnte hinweg immer dieselben, sind dadurch recht vorhersehbar in ihren Handlungen und scheinen alterlos. Es ist schwierig, ihnen nahezukommen. Sogar Ambras und sein Schicksal als Lagerhäftling im Steinbruch bleibt auf Distanz.


    Ransmayrs Sprache ist bildhaft und anschaulich. Dennoch ist es nicht leicht, das Buch zu lesen; es benötigt Konzentration und Aufmerksamkeit, um die vielen Details aufzunehmen und den Gedanken Berings, aus dessen Sicht die Geschichte erlebt wird, zu folgen.


    Mit diesem Buch habe ich einen Autor kennengelernt, von dem ich zum ersten Mal in Biografien-Raten ( :wink: @ Mara) gehört habe. Das Buch war interessant zu lesen, war mir aber im Moment zu düster und hoffnungslos. Sollte ich einem anderen Buch von Ransmayr irgendwann begegnen, werde ich es sicher lesen, aber soo begeistert, dass ich mich nun auf alle seine Bücher stürzen würde, bin ich nicht.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Christoph Ransmayr ist in Österreich einer der bekanntesten Schriftsteller und war wohl lange ein "Aushängeschild".


    Sein bekanntestes Werk ist "Die letzte Welt" (1988 ), er wurde damals richtig "berühmt".
    Ich habe "Die letzte Welt" vor Jahren mal angelesen, konnte mich aber nicht dafür begeistern.


    Momentan ist sein Buch Der fliegende Berg in aller Munde.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

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  • Zitat

    Original von Rosalita


    Ich habe "Die letzte Welt" vor Jahren mal angelesen, konnte mich aber nicht dafür begeistern.


    Ging mir genauso Rosalita.
    Ich habe es damals geschenkt bekommen, in der gebundenen Ausgabe der Reihe "Die Andere Bibliothek". Vielleicht sollte ich ihm noch mal eine Chance geben... :roll:


    Herzliche Grüße
    Siebenstein

    :montag: Judith Hermann - Daheim


    "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."
    (Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen)


  • Mich hat das Buch auch nicht angesprochen. Angesiedelt zwischen Fantasy und Parabel bietet es duestere Endzeitstimmung und deprimierende Ausweglosigkeit. Dass die Personen so eindimensional angelegt sind, ist, glaube ich, beabsichtigt. Sie sollen wohl weniger Individuen als vielmehr den "Menschen an sich" verkoerpern. Mir ist die Geschichte zu konstruiert, zu gekuenstelt und aufgesetzt. Kafka konnte das besser...


    Gruss mofre






    :study:Stewart O'Nan: Engel im Schnee
    Thomas Mann: Tagebuecher 1949-1950

    :study: Olga Tokarczuk - Gesang der Fledermäuse

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Also mich hat dieses Buch, wie auch schon die „Die letzte Welt“, sehr begeistert! Ich zähle es zu meinen Lieblingsbüchern. Gerade die düstere Endzeitstimmung und vor allem die, in meinen Augen, großartige poetische Sprache mit ihren dunklen Stimmungsbildern haben mich sehr fasziniert. :thumleft:
    „Morbus Kitahara" ist mir dabei im Vergleich zu „Die letzte Welt“, das noch mehr ins Traumhafte, Surrealistische geht, leichter zugänglich erschienen.
    Es ist bei mir aber jetzt schon länger her und irgendwann möchte ich beide nochmals lesen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich mir damals der tiefere Sinn erschlossen hat, ich habe es eigentlich vor allem auf sprachlicher und gefühlsmäßiger Ebene auf mich wirken lassen - und dabei sehr genossen.
    Ransmayr gehört jedenfalls für mich zu den interessantesten zeitgenössischen österreichischen Autoren.

    Gruß Bibliomana :cat:
    "Man kann im Leben auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur!"

    Einmal editiert, zuletzt von Bibliomana ()

  • Christoph Ransmayr hat mich durch das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe, gleich stark beeindruckt wie durch seine Persönlichkeit.


    "Morbus Kitahara" war ganz eindeutig mein Januar-Highlight! Ich finde es großartig, wie er die Charaktere beschreibt. Diese Reaktion von Berings Mutter auf die Tatsache, dass dieser zu Ambras zieht um sein Leibwächter zu werden. Dieses abweisende Verhalten des Vaters.
    Die Sprache ist einfach wundervoll. Und die Angst, die Bering beim Entdecken seiner "blinden Flecken" empfand, konnte man direkt spüren.


    Immer wieder habe ich beim Lesen innegehalten um Sätze und ganze Absätze nochmal zu lesen, weil sie mich einfach so stark berührt haben, dass ich sie ein bisschen wirken lassen mußte. Ich habe mir meine Lieblingsstellen herausgeschrieben. Hier ein paar davon:


    "Die wartenden Dörfer träumten." (S. 64)


    "Sie kommt, wann sie will, und sie geht, wohin sie will. Laß sie kommen und gehen, laß in Ruhe - oder du bist ihr im Weg." (S. 194)


    "Der Schnee war trocken und grundlos." (S. 247)


    "Er wollte Licht, hundert Fackeln, Scheinwerfer, einen Waldbrand, Schneelicht, um ihr in die Augen sehen zu können." (S. 296)


    "Feinde. Sie haben einander noch nie gesehen und erkennen sich doch." (S. 306)


    "Manchmal spuckte das Fest ihn aus." (S. 330)


    "Mach dich nicht verrückt. Was immer es ist, laß es los. Schau anderswo hin." (S. 350)

  • Von diesem Autor kann und sollte man alles lesen, in Minimum die Romane. Und wer die Chance hat, auf einer seiner Lesungen zu gehen, sollte es unbedingt tun. Ransmayr ist ein Sprachgigant und Satzmaler.

  • Und wer die Chance hat, auf einer seiner Lesungen zu gehen, sollte es unbedingt tun. Ransmayr ist ein Sprachgigant und Satzmaler.

    Ja, das unterschreibe ich.


    Zudem ist er ein sympathischer, hochintelligenter Mann, dem man einfach gerne zuhört.

  • Ich habe mir das Buch zugelegt in meiner Begeisterung für "Cox". Ich wollte einfach mehr von dem Mann. Nun ist das nicht die allerbeste Voraussetzung für die Lektüre dieses Buches, denn meiner Meinung nach kommt es nicht so ganz an Cox heran. Auch hier schafft Ransmayr herrliche Sprachbilder und überhaupt sind seine Schilderungen immer wieder eine Freude.
    Was mir fehlte wurde oben zum Teil bereits erwähnt: Die Figuren entwickelten sich nicht wirklich, irgendwie hinterließ die Zeit zuwenig Spuren. Andere Szenarien blieben mir zu blass (z.B. die Glatzen). Das ging so weit, dass ich immer wieder überlegte, dass Buch sogar ganz weg zu legen. Dann aber folgte wieder ein richtiger Cliffhanger und ich konnte kaum aufhören.
    Mit Sicherheit ist Ransmayr ein auffälliger Außenseiter in der Literatur mit seiner Fähigkeit zu erzählen, zu schildern und an zu deuten. Da gehört er zu den ganz Großen und ich werde auf jeden Fall mehr von ihm lesen. Ich wünschte allerdings, ich hätte nicht mit Cox angefangen, denn damit lag die Latte einfach zu hoch. Diese unaufgeregte Spannung kann man nicht oft hinkriegen. Da ist eine kleine Enttäuschung vorprogrammiert.
    Aber es war auch so, dass mir schien, als sei die Geschichte nicht tragfähig genug, als seien gewisse Episoden hineingequetscht. Z.B. finde ich, dass die Beschreibung des Konzerts, so virtuos es auch geschrieben ist, als ein Fremdkörper daherkommt. Verstörend war auch, dass eigentlich nie das Aussehen eines Menschen beschrieben wurde, alle blieben seltsam gesichtslos.
    Mir fällt auf, dass ich hier viele kleine Fehler aufzähle obwohl ich dem Buch satte 4 Sterne gebe. Das liegt wohl daran, dass es schwer ist, die positiven Dinge wirklich aufzulisten. Es ist halt das ganze Buch, das in sich geschlossen gute Literatur ist. - Und das ist schließlich nicht wenig!