Sinclair Lewis - Das ist bei uns nicht möglich / It Can't Happen here

  • Im bürgerlichen Milieu des kleinstädtischen liberalen Verlegers Doremus Jessup wird 1935 einhellig die Meinung vertreten, dass das was in Deutschland und in Italien passierte hier nicht möglich sei. Er beobachtet jedoch die immer offener zutage tretenden chauvinistischen Züge der Kapitalisten seines Bekanntenkreises und vor allem die Stärkung faschistischer Bewegungen. Schließlich setzt sich ein Kandidat, Bercelius Windrip, durch und kandidiert auch für das Präsidentenamt, er wird gewählt und - nicht überraschend - werden seine demagogischen Wahlversprechen nicht umgesetzt, dafür werden Arbeitslager eingerichtet für Arbeitslose, kritische Stimmen kommen in die bald zu errichtenden Konzentrationslager, die Ordnung in Städten und Provinzen wird von einer paramilitärischen Einheit kontrolliert, eine allgemeine nationale Aufrüstung findet ebenso statt wie Verfolgungen von Minderheiten. Doremus, inzwischen hat er seine Verlegerrolle aufgegeben, kommt ins Konzentrationslager, weil er kritische Flugschriften verteilt, überlebt, flieht ins Exil und setzt sein Leben mit dem Kampf gegen das Regime fort.


    Interessant ist auf alle Fälle der historische Hintergrund des Ganzen - sowohl das Wahlprogramm des faschistischen Demagogen, wie auch seine Popularität ist ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern lehnt sich an den überaus populären und erfolgreichen Senator Huey Long an. Aber auch andere faschistische Demagogen wie der Pfarrer Charles Coughlin fanden ihre Nachahmung im Roman. Er beruht also, nachdem auch das Großkapital in den USA teilweise faschistische Bewegungen unterstützte, auf einer historischen Grundlage, geschrieben zu einer Zeit, in der die Gefahr durchaus recht akut und präsent war und er zeigt auf, dass es eben doch möglich wäre... der Roman ist eine negative Utopie, die in Anbetracht der historischen Situation durchaus real war.


    Das ist dann auch der Grund, weswegen mir der Roman besonders gut gefällt - was ich als Kritikpunkt anmerken könnte, die Charaktere wirken mitunter etwas "typisch", da fehlt ein Stück weit die individuelle Note. Aber in Anbetracht der Absicht und dem Ziel des Romans wären die womöglich auch störend gewesen... alles in allem nen sehr empfehlenswertes Werk, das wohl noch immer (oder wieder) nicht seine Aktualität verloren hat.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • Klappentext (Q: Aufbau): Sinclair Lewis’ Roman aus dem Jahr 1935 führt einen Antihelden vor, der mit seinen Hetzreden die Begeisterung unzufriedener Wähler entfacht. Durch seine Lügen und eine Rhetorik des Populismus und der Ressentiments wird er Präsident der Vereinigten Staaten. Das klingt vertraut?


    Englischsprachige, deutsche und französische Ausgaben:

    Der Roman erschien unter dem Originaltitel „It Can't Happen Here“ 1935 bei Doubleday, Doran & Company, Garden City, New York, und wurde in den USA ein aufsehenerregender Bestseller. Umfang: 458 Seiten. Die deutschsprachige Erstausgabe erfolgte, übersetzt von Hans Meisel, unter dem Titel „Das ist bei uns nicht möglich“ 1936 im Exilverlag Querida in Amsterdam.
    Die nächste Auflage der Meisel-Übersetzung erfolgte erst 1984 als Band 54 in der „Gustav Kiepenheuer Bücherei“ im Gustav Kiepenheuer Verlag (Leipzig und Weimar) mit einem 18-seitigen Nachwort von Eberhard Brüning, Umfang: 446 Seiten.
    Der Berliner Aufbau-Verlag veröffentlichte 2017 die alte Meisel-Übersetzung erneut, als Hardcover mit Schutzumschlag (2020 als Taschenbuch), 442 Seiten Umfang und einem Nachwort von Jan Brandt, nachdem bereits in den USA und Großbritannien bei Penguin Books der Roman nach der Amtseinführung von US-Präsident Trumps - ganz passend - eine Neuauflage erfuhr.
    Die französische Übersetzung besorgte Raymond Queneau. Sie erschien unter dem Titel „Impossible ici“ im Jahr 1953 bei Gallimard in Paris. 2016 gab es eine Neuauflage der Queneau-Übersetzung im Verlag Éditions de la Différence in Paris mit einem Vorwort von Thierry Gillyboeuf.


    Meine Einschätzung:

    Sinclair Lewis' Roman erhält von mir gut und gerne viereinhalb :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: Sterne, nicht wegen ausgefuchster Charaktergestaltung oder durchgehend aufrecht gehaltener Spannung, auch nicht wegen des oftmals etwas thesenhaften, didaktischen Aufbaus, sondern wegen seiner großen Hellsichtigkeit und dem erschütternd schlüssigen und realistisch gezeichneten Abgleitens der USA in den Faschismus, einschließlich Konzentrationslagern. Ein Abgleiten, für das in vorderster Front nicht ein populistischer Politiker oder die Großfinanz verantwortlich ist, sondern der vermeintlich liberale Mittelstand, der aufgeklärte Bildungsbürger, der ganz normale Jedermann, der nichts gegen das Aufkommen des Faschismus tut. Dessen ungeachtet webt Lewis zusätzlich eine Argumentation in den Roman ein, die den Kapitalismus beziehungsweise ein Regierungssystem, das völlig vom, durch und für den Profit lebt, als direkten Vorläufer des Faschismus wertet, also eine im Grunde latent faschistische Gesellschaftsform. Ach je, Sinclair Lewis ist wirklich ein scharfer sezierener Beobachter einer auf Abwege geratenen Demokratie. :rambo: :thumleft:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (24/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Der Roman erschien unter dem Originaltitel „It Can't Happen Here“ 1935 bei Doubleday, Doran & Company, Garden City, New York. 2017 erfuhr er in den USA und Großbritannien bei Penguin Books nach der Amtseinführung von US-Präsident Trumps eine Neuauflage erfuhr.

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  • Hier die erste deutschsprachige Neuauflage nach 1936, die 1984 in Weimar und Leipzig bei Gustav Kiepenheuer erfolgte.

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  • Die französische Übersetzung besorgte Raymond Queneau. Sie erschien unter dem Titel „Impossible ici“ im Jahr 1953 bei Gallimard in Paris. 2016 gab es eine Neuauflage der Queneau-Übersetzung im Verlag Éditions de la Différence in Paris mit einem Vorwort von Thierry Gillyboeuf.

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  • Der Übersetzer

    Hans Meisel (1900–1991), Autor des Romans „Torstenson. Entstehung einer Diktatur“ (Kleist-Preis 1927), war im amerikanischen Exil Thomas Manns Sekretär, später Professor of Political Science an der University of Michigan.


    Das Nachwort von Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin. In München besuchte er die Deutsche Journalistenschule, heute schreibt er u. a. regelmäßig für Die Zeit. Sein Roman „Gegen die Welt“ stand 2011 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Buch „Stadt ohne Engel. Wahre Geschichten aus Los Angeles“.


    Der Klassiker

    Der utopische Roman des amerikanischen Nobelpreisträgers Sinclair Lewis erschien in den USA 1935 und wurde ein Bestseller. In Europa konnte eine deutsche Ausgabe 1936 nur im niederländischen Exilverlag Querido erscheinen, erst 1984 erschien der Roman bei Kiepenheuer.


    Inhalt

    Mitten in der Wirtschaftkrise der 30er zieht ein unbekannter Senator aus der Provinz mit populistischen Versprechungen in den Wahlkampf gegen den amtierenden Präsidenten Roosevelt. Berzelius (Buzz) Windrip will das Ansehen der USA wiederherstellen, verspricht als Wahlgeschenk ein bedingungsloses Grundeinkommen und bekämpft rabiat freie Presse, unabhängige Justiz, Frauen- und Bürgerrechte. Indem er Banken, Politiker, alle -ismen und die Afroamerikaner im Land zum Feindbild erklärt, trifft er instinktiv die Wünsche der kleinen Leute im Mittleren Westen. Obwohl besonnene Bürger immer wieder betonen, dass ein Alleinherrscher „bei uns in Amerika“ doch nicht möglich sei, gewinnt Windrup die Wahl. Er regiert umgehend per Dekret, stellt Obersten Gerichtshof und Generalstabschef kalt und schafft eine gewaltige Anzahl von Jobs für seine Anhänger. Als kritische Stimme ist nur Doremus Jessup vorstellbar, der in einer fiktiven Kleinstadt in Vermont den „Daily Informer“ herausgibt. Doch der alternde Doremus hat seinen ehemaligen Biss verloren und sieht sich unter dem Sachzwang, zuerst seine Familie ernähren zu müssen. Aus Kanada wird eine Gruppe von Exil-Amerikanern tätig, die Windrips Alleinherrschaft bekämpfen will.


    Beim Leser bleibt die Erkenntnis zurück, dass der natürliche Feind von Populisten und Despoten Bildung sein soll; denn Windrip konnte mit der Forderung, die Geldmenge zu verdoppeln, nur gewinnen, weil offenbar niemand wusste bzw. nachfragte, welche Folgen dieser Entscheidung zu erwarten wären.


    In nüchternem Reportage-Stil legt Sinclair Lewis seine Utopie an, die spürbar von den Ereignissen im nationalsozialistischen Deutschland angeregt wurde. 80 Jahre später wäre ein informierender Anhang zu den Lebensbedingungen von Windrips Wählerschaft nicht schlecht gewesen. Lewis‘ Klassiker ist im Jahr des Amtsantritts von Donald Trump ein verblüffender wie sensationeller Fund, weil der Roman seit Trumps Alleinherrscher-Attitüde keine Utopie mehr ist und zudem Trump aktuell nicht einmal eine Ausnahme auf dem politischen Parkett zu sein scheint.


    Fazit

    Gelesen habe ich die Utopie unter dem Eindruck, ich müsste einen Text für Schule oder Ausbildung lesen. Wer sich nicht mit Windrip identifizieren will, wird im Roman auf der Suche nach einer Identifikationsmöglichkeit nicht so recht fündig. Gegenüber populistischen Leerformeln sollte man bei der Lektüre nicht zu sensibel reagieren. Allerdings hat die anschließende Suche einen gewissen Unterhaltungswert, welche Wahlkämpfe (weltweit) heute ohne Wahlgeschenke, ohne Schaffung eines äußeren Feindes und ohne das Schüren von Abstiegsängsten stattfinden.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:


    (10.4.2017)

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Sinclair Lewis - Das ist bei uns nicht möglich“ zu „Sinclair Lewis - Das ist bei uns nicht möglich / It Can't Happen here“ geändert.