W.G.Sebald - Austerlitz

  • Winfried G. Sebald “Austerlitz”


    * 18. Mai 1944 in Wertach, Allgäu; † 14. Dezember 2001 in Norfolk, England bei einem Autounfall


    Zum Inhalt:


    Der nicht weiter benannte “Ich –Erzähler” begegnet in den 60iger Jahren in Belgien Jacques Austerlitz, dem er in den folgenden Jahrzehnten immer wieder über den Weg laufen wird. Dieser rückt immer mehr in den Vordergrund der Geschichte und enthüllt uns nach und nach seine Lebensgeschichte. Geboren um 1934, aufgewachsen in einer walisischen, recht kommunikationsarmen Pfarrersfamilie, entdeckt er bei Schulprüfungen - und erst nach dem Tod seiner „Mutter“ und dem Abgleiten des „Vaters“ in den Wahnsinn - , dass sein wahrer Name nicht Dafydd Elias, sondern eben Jacques Austerlitz ist. Doch niemand ist da, ihn über seine wahre Herkunft aufzuklären und so bleibt er in den kommenden Lebensjahrzehnten wie „ohne Wurzeln und Heimat“ und in einer „Abgesondertheit“, bis er, der spätere Professor für Architekturgeschichte, erst Anfang der 90iger Jahre eines Tages in einem Londoner Bahnhof ein „Déjà-Vu“ Erlebnis hat und er plötzlich erinnert, wie er also 1938 als Vierjähriger mit einem kleinen Rucksack in einem Kindertransport aus Prag hier landete und von seiner Gastfamilie abgeholt worden ist. Nun macht er sich auf die Spuren seiner wahren Eltern und bricht nach Prag auf, wo er tatsächlich durch Archive die ehemalige Adresse findet und nun seine greise Kinderfrau wieder findet. Die Reise zu den Ursprüngen wird ihn noch weiter führen und bringt ihn in der eigenen Vita direkt mit den Gräueln der Naziherrschaft in Berührung...



    Ein paar Anmerkungen:


    Diese Erzählung ist eine mir ganz neu erscheinende Mischung zwischen Roman, präzisen Beschreibungen (z.B. der Bauten, Bahnhöfe etc.), fast tagebuchähnlichen Bemerkungen und auch schwarz-weiß Photos sowie Skizzen, die das Realistische des Buches unterstreichen. Es liegt klar auf der Hand, dass Sebald viel recherchiert hat für dieses Buch. Diese Gründlichkeit mag erklären, dass er in seiner Schaffenskraft „nur“ 4/5 Romane geschrieben hat?!


    In einem großen Teil seines Lebens wird der unglaublichen Wissensanhäufung bei Austerlitz über die verschiedensten Aspekte der Architektur eine Verweigerung an Erinnerung gegenübergestellt. Bezeichnend für diese umfassende Periode der Wurzellosigkeit in seinem Leben sind - ich zitiere typische Begriffe aus dem Roman – das Gefühl der „Heimatlosigkeit“, die „Vereinzelung“, die „Verlorenheit“, das „Verstoßensein“ usw. Als Frage zu diesem Thema könnte man für Austerlitz vielleicht formulieren: Wie kann man aus der Fremde bei sich ankommen?
    Erst im Laufe des Buches wird langsam klar, dass der „Krieg und die Vertreibung“ in diesem Leben allgegenwärtig waren und sind. Darin: in der Frage der Identität, des Krieges und des Umganges mit Erinnerung scheinen wesentliche Themen aus Sebalds Leben selber hoch zu kommen: er verließ im Aufruhr gegen das Nachkriegsdeutschland und seinen Umgang mit der Vergangenheit Deutschland und lebte dann in England.


    Die Erinnerung an das geschichtlich Geschehene wird zur Aufgabe, die Austerlitz in gewisser Weise dem „Ich-Erzähler“, und Sebald indirekt uns, anvertaut.


    Von Beginn an fiel mir die sehr schöne, präzise, aber auch „anstrengende“, oft in indirekter Rede geschriebene Sprache Sebalds auf. Das Buch ist quasi ohne Absatz verfasst und man findet schwer eine „Atempause“.
    Es gibt ebenfalls einige sehr gute Bemerkungen und Beobachtungen über die Sprache und deren Verlust.
    Besonders beeindruckt hat mich die Verwandtschaft, Parallelität zwischen beschriebener Landschaft, bzw. Beschreibungen von Bauten (insbesondere Bahnhöfe, Festungen, auch die neue französische Nationalbibliothek) UND der inneren Seelenlandschaft, Verfasstheit. Da wird das Äußere zum Spiegel für innere Gegebenheiten.


    Das war mein „erster“, aber sicherlich nicht mein letzter Sebald!


    Keine „leichte“ Lektüre für zwischendurch, aber rundum empfehlenswert für die an oben angedeuteten Themen Interessierten!!!


    *****

  • HAllo !


    Ich "musste" das Buch vor ca. 1 1/2 Jahren für die Uni lesen und war zunächste skeptisch. Aber ich denke auch, dass ich von Sebald noch mehr lesen werde, da mir sein Schreibstil sehr imponiert hat.


    Aber ... man muss sich darauf einlassen


    Gruß


    Heike

  • Zitat

    Original von tom fleo
    Die Reise zu den Ursprüngen wird ihn noch weiter führen und bringt ihn in der eigenen Vita direkt mit den Gräueln der Naziherrschaft in Berührung...


    ...Erst im Laufe des Buches wird langsam klar, dass der „Krieg und die Vertreibung“ in diesem Leben allgegenwärtig waren und sind.


    Hallo Tom,


    vielen Dank für diese ausführliche Rezension.


    Könntest Du mir sagen, wieviel in dem Buch mit Kriegsgeschichte und Naziherrschaft zu tun hat?


    Ich habe - familiär bedingt - ein Problem mit Kriegsfilmen und Kriegsbüchern, die ausschließlich und nur davon handeln. Ich möchte mich damit aber auseinandersetzen und habe mir bereits ein Buch gekauft, welches mich langsam an das Thema führt und mich nicht von der ersten bis zur letzten Seite bombadiert mit Krieg.


    Es würde mir schon helfen, wenn Du mir ganz genau sagen könntest, ob z. B. die erste Hälfte mit anderen Themen beschäftigt ist und in der zweiten Hälfte so langsam das Thema aufkommt.


    Oder ob es hier und da immer nur mal ein paar Seiten mit dem Thema sind, aufgrund seiner Forschungen. Oder ist ein Teil ganz gezielt darauf ausgelegt?


    Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mir das so präzise wie möglich beantworten könntest, auch wenn es schwierig ist, das weiß ich.


    Ich würde es aber gern lesen auf meinem Weg zur Problembewältigung.

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


  • Hallo Tanni!


    Sorry für die späte Reaktion, doch ich bin gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen...


    Wenn ich richtig zwischen Deinen Zeilen lese, glaube ich doch, dass Sebald Dir was sagen könnte, denn es geht - wie wohl bei Dir - zwar um eine uns ja allen eigene Ablehung gegnüber Krieg, Vertreibung, Verfolgung, Shoah etc. und doch die absolute Notwendigkeit der Auseinandersetzung damit, und zwar aus mehreren Gründen: natürlich geht es erst einmal um "Gedenken" mit denen, die in diesen Wirren standen, uns teils nahestanden: Erinnerung als Pflicht auch, damit es nie wieder geschehe. Aber Sebald geht m.E. noch weiter: die Entdeckung der Verschlingung, der Verflochtenheit zwischen "äußerer" Geschichte und eigenem Werdegang macht es bei der Hauptperson Austerlitz unmöglich, zu sich selbst zu finden, wenn er vor der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausweicht. Diese Suche nach der eigenen Vergangenheit mag übrigens sehr hart sein, doch ist zur Selbstfindung eventuell unausweichlich???!!!


    Nun liegt mein Lesen eine Weile zurück. Jeder empfindet Anspielungen oder Darstellungen aus dieser Zeit verschieden. Frage der Sensibilität. Doch ich finde, dass Sebald dabei nicht grob ist. Tatsächlich scheint es über einen langen ersten Teil hinweg nicht über dieses Thema zu gehen, bzw. man ist geneigt, es zu überlesen, fast nicht wahr zu nehmen. Erst im Nachhinein vielleicht erscheinen verschiedenste Komponenten als Puzzlestücke.
    Manchmal kann eine sehr harte Aussage auch in einer Anspielung liegen...


    Im Moment kann ich Dir dazu nicht mehr sagen. Ist das so genug?

  • Zitat

    Original von tom fleo
    Im Moment kann ich Dir dazu nicht mehr sagen. Ist das so genug?


    Hallo Tom :)


    Vielen Dank!


    Und ob Du mir geholfen hast :wink:


    Das Buch ist definitiv etwas für mich, glaube ich.


    Ich werde es mir besorgen und recht weit oben auf dem SUB ansiedeln und dann hier berichten, wenn ich es gelesen habe.

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


  • Ein literarisches Gesamtkonstrukt aus feinstem Stahl, welches brillant und überbewältigend daherkommt, mir aber zu kalt ist!


    Der scheinbar autobiographische Ich-Erzähler trifft im dunklen Bahnhof von Antwerpen Jacques Austerlitz, den er daraufhin immer wieder ganz zufällig in dieser Schilderung begegnet. Ein Unwohlsein begleitet den Erzähler nun fortwährend …
    Austerlitz wird kurz vor Ausbruch des II. Weltkriegs mit fünf Jahren von Böhmen nach England „verfrachtet“ und findet bei einem calvinistischen Paar Zuflucht. Diese Geschichte, seine Lebensgeschichte, berichtet Austerlitz dem Erzähler, der erst in den 90 er Jahren seine Wurzeln sucht. Der Protagonist schildert seine Erinnerungen. Und diese literarische Erinnerungsreise, die der Autor teilweise mit Überblendungen deutlich macht, wenn sich ein Wartesaal ins Nocturama verwandelt, verwirrt den Leser im ersten Abschnitt heftig. Der Übergang wird höchstwahrscheinlich erstaunen, aber diese Technik gibt genau das wieder was unsere Erinnerungen aus der Wirklichkeit machen: Verknüpfungen und Überlagerungen. Die zeitliche Entfernung verzerrt den Blick.


    Und verzerrt wird hier der Blick auch dadurch, dass zwar der Erzähler die Geschichte vorträgt, berichtet wird aber über Austerlitz, und der wiederum schildert die anderen handelnden Figuren. Dadurch erhält das ganze Werk etwas Unwirkliches, Unechtes, Verschwommenes, etwas Graues …


    Mit diesen architektonischen Beschreibungen von Bahnhöfen und sonstigen Bauwerken konnte ich nicht viel anfangen, da ich mir Gegenstände nie visuell vorstellen kann. Aber nach weiteren Seiten erkennt man, dass man dies auch nicht braucht, sondern dass diese Bauten einfach einen Kern des Gesamtkonstrukts ausmachen. Zum Schluss schließt sich gar der Kreis wieder im Nocturama.


    Die Sprache ist zu Beginn gewöhnungsbedürftig, gehört aber zum Gesamtkonzept, sie wechselt vom sachlichen Bericht ins ganz Bildhafte, Poetische, je nach dem was gerade beschrieben wird, und zieht damit Leser in ihren Bann oder lässt ihn auch rücksichtslos und eiskalt liegen.


    Anspielungen oder Bildübertragungen findet man fast auf jeder Seite. Zum Beispiel lässt Sebald in jener Zeit die Fenster verschlossen: „Die Fenster des Krankenzimmer blieben ständig verschlossen, und der weiße Puder, der sich Gran für Gran überall ablagert hatte und durch den sich schon richtige Wegspuren zogen, hatte nichts von glitzerndem Schnee.“ Man möchte die zeitliche Situation vertuschen, aber so unschuldig wie Schnee war dann der Puder wohl doch nicht. „What was it that so darkened our world?” Hitler? Auf jedem Fall ist das der letzte Aufschrei einer hilflosen Frau, und zugleich auch das Leitmotiv.


    Ein weiteres zentrales Motiv ist das Gefühl der Heimatlosigkeit, oder gar das Gefühl des überhaupt nicht recht Vorhandenseins, Austerlitz ist ein ziellos Gehetzter ohne wirkliches Eigenleben. Das daraus resultiert, dass er seine Geschichte nicht kennt, und auch nicht gewillt ist sie kennen zu lernen. Insekten vor einer Lampe: “Es sei an solchen unwirklichen Erscheinungen, …, am Aufblitzen des Irrealen in der realen Welt …”

    Dies Werk ist ein literarisches Gesamtkonstrukt, ein Meisterwerk? So wie Sebald alles zusammengefügt hat, aus Fiktivem und Realem, aus anscheinend Autobiographischem, aus vielen Quellen und mit Fotos bestückt, die er zeitlebens zusammengesucht hat, ist es mir über manche Strecken zu viel und zu überladen gewesen. Zu viel gewollte Kunst! Das Werk wird von Seite zu Seite immer mehr ein Kunstwerk, dass es einem fast unheimlich wird. Ein Konstrukt aus kaltem Stahl ohne Leben! Mir fehlte das Persönliche, das Natürliche, das Erzählen des Erzählen Willens.

  • Ein gesicht- und geschichtsloser Ich-Erzähler berichtet von den wiederholten, aber unregelmäßigen Begegnungen und Gesprächen mit dem gebildeten Herren Austerlitz, die über mehrere Jahrzehnte an unterschiedlichen Orten in Europa, oft zufällig, stattfanden. Bei den Gesprächen handelt es sich, so hat es den Anschein, fast mehr um erlauschte Erzählungen, als um einen gleichwertigen Austausch. Ein nicht endender Strom an interessanten und gebildeten Auslassungen über kulturwissenschaftliche und philosophische Themen (zum Beispiel über die Zeit) mit einem Schwerpunkt auf der Architektur von Prachtbauten, aber auch Gefängnissen und nicht zuletzt Bahnhöfen. Mit der Zeit schält sich ein weiteres Thema heraus: Die Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit. Austerlitz, der unter anderem Namen als Sohn in einem calvinistischen Predigerhaushalt in England aufwuchs, aber tatsächlich im Vorschulalter während der Nazi-Besetzung von seiner Mutter aus der Tschechoslowakei nach England verschickt wurde. Die Mutter, die kurz darauf selber ins "Ghetto" Theresienstadt verbracht wurde und dort verstarb. Austerlitz recherchiert vor Ort und sucht unter anderem in einer Video-Kopie des NS-Propagandafilms "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" danach, ob er seine Mutter als Komparsin im Alltag des "Vorzeige-KZs" entdeckt.


    Der Gesprächsfluss an Themen reißt nie ab. Kaum mal gibt es einen Absatz (höchstens drei im ganzen Buch), manchmal Gedankenstriche, die eine Pause in der Gesprächssituation markieren. Am besten liest man das Buch in einem Rutsch durch. Es ist ein wenig wie eine anspruchsvolle Berieselung mit Kultur, Kunst, Soziologie, Geschichte und Philosophie. Ein Zuviel an Themen, fast ungreifbar, rutschen sie einem allzu leicht zwischen den Fingern weg. Die Figuren bleiben unnahbar. Das mag daran liegen, dass man es einzig und allein mit Gesprächen und Gesprächen über Gespräche zu tun bekommt. Handlungen und Taten finden nur in Form von Gesprächen statt. Eine - wenn man so will - substanzlose Anlage. Ein äußerst filigran aufgeschichteter Turm an Worten. Ein bewundernswert fließender Romanaufbau.


    Die Themen liegen mir alle und ich merke: "Das Buch ist genau etwas für mich", verlässliche Vor-Leser, auf deren Meinung ich etwas gebe, schätzen und empfehlen das Buch. Und doch lässt es mich erstaunlich kalt und bleibt nur schemenhaft im Gedächtnis. Gespräche über Gespräche verfangen nicht lange. Dabei drückt sich genau darin für mich der Clou des Buches aus: Da ist ein Mann, der sich seiner Heimat und sogar seiner Identität beraubt wiederfindet, der entwurzelt ist und sich seine eigene Geschichte erst wieder zusammensetzen muss. Lass es fünf Jahre seiner Kindheit sein, aber seither scheint er nichts anderes mehr tun zu können, als immer mehr Mosaiksteine zusammen zu sammeln. Um sich seines Selbst zu vergewissen. Eine ständiges Anreden gegen die eigene Heimatlosigkeit und Entwurzelung und familäre Katastrophe. Flüchtige Gespräche, die den Wesenskern eines beschädigten Lebens ersetzen sollen. Was der Krieg - in jungen Jahren - zerstört hat, braucht ein ganzes Leben, um es ansatzweise wieder zu kitten. Wenn überhaupt! Das zeigt der Roman überdeutlich.Austerlitz scheint es jedenfalls nicht abschließend zu gelingen. Dieses Lebensprojekt ist wahrscheinlich nie abgeschlossen. Fast ein wenig willkürlich ist der Roman nach vierhundert Seiten dann auch zu Ende. Auch wenn die Suche für Austerlitz nicht beendet ist. Ein Wundenschließen wird versucht mit soziologischen, geschichtlichen, kulturellen Ansätzen, aber das Reden wird weitergehen. Insofern gelingt es dem Roman, Bedeutung schon allein nur aus seiner Form zu erzählen: Was schon eine bemerkenswerte literarische Leistung ist. (Viele schaffen es ja nicht mal Inhaltlich etwas Wesentliches zu sagen!). Dennoch war mir der Roman, ähnlich wie @Buchkrümel, zu leblos und unwirklich kalt. Nicht verkopft, überhaupt nicht schwer zu lesen, interessant, anregend und unterhaltsam sogar über lange Strecken, aber auch zu unbeteiligt, gefühllos und nicht zu greifen: Viele Themen werden intellektuell ausgestellt und geschickt miteinander verwoben, rauschen aber durch, weil sie keinen Haltepunkt haben, um zu verfangen. Viel Geist, aber wenig Herz und Seele.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 54 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Everett "Erschütterung" (27.03.)

  • Diese Erzählung ist eine mir ganz neu erscheinende Mischung zwischen Roman, präzisen Beschreibungen (z.B. der Bauten, Bahnhöfe etc.), fast tagebuchähnlichen Bemerkungen und auch schwarz-weiß Photos sowie Skizzen, die das Realistische des Buches unterstreichen. Es liegt klar auf der Hand, dass Sebald viel recherchiert hat für dieses Buch. Diese Gründlichkeit mag erklären, dass er in seiner Schaffenskraft „nur“ 4/5 Romane geschrieben hat?!

    Gemäss unten verlinktem Interviewband ist eine ausgiebige Recherche für W.G. Sebald unabdingbar für ein gutes Buch. Idealerweise sei man zuvor 10 Jahre als Reporter tätig, bevor man Schriftsteller wird – Joseph Roth sei ein prima Vorbild hierfür.


    Insofern stellt Sebald auch an sich selbst den Anspruch, keine reine Fiktion zu schreiben, sondern eben «Prosabücher unbestimmter Art». Diese Vermischung zwischen Text und Fotos, die den Inhalt «belegen» sollen, der erdachten Handlung einerseits und der ausgiebigen, informationsreichen «Berieselung» andererseits, sind wirklich ungewöhnlich und begeistern vielleicht nicht Jeden. Sicherlich ist sein Schreibstil ohnehin gewöhnungsbedürftig. Mir gefallen seine Formulierungen und seine Wortwahl sehr, ich habe manche Seiten mehrmals gelesen. Aber, und das las ich in einigen Rezensionen über seine Bücher häufiger, seine Sprache klingt leicht veraltet, wie aus der Zeit gefallen.

    In den Interviews erklärte er sich so, dass er eben seit vielen Jahren im Ausland lebt, die deutsche Sprache nicht «aktiv» lebt, und er sich mangels Erfahrung an «Alltagsdeutsch» auch ausserstande sieht, Dialoge zu schreiben.


    Dafür also dieser kaum endende Informationsfluss, scheinbar wahllos diverse Themen streifend. Auch hier verstehe ich, dass dieses Episodenhafte ermüden kann, dass man den roten Faden vermisst und sich zwischendurch fragt, was denn die Diskussion über bspw die Architektur von der Festung Breendonk soll. (In einem Interview meinte Sebald übrigens, die Festung stünde exemplarisch für den Wahnwitz der kollektiven Bemühungen bizarre Projekte zu entwickeln: geometrisch detailliert, aber doch wahnsinnig du so vom Designer nicht erkannt.)


    Allerdings wundere ich mich ein wenig über die beklagte Gefühlskälte im Roman. Sicherlich ist der Ich-Erzähler distanziert: er erzählt uns von lange zurück liegenden Treffen, bei denen ihm Austerlitz seine Recherchen und Erlebnisse schildert. Bei einem solchen Erzählaufbau (und ohne Dialoge) ist es tatsächlich schwieriger Emotionen zu vermitteln. Dennoch hat mich die Geschichte sehr angesprochen, womöglich mehr in dieser Form als durch direkt / offensichtlich adressierte Schicksalsbeschreibungen. Und tatsächlich bleiben die grossen Emotionen aus: Austerlitz wird bei seinen Recherchen und Erkenntnissen nicht glücklicher oder ein anderer, besserer (?) Mensch. Konsequent, dass der Roman ein wenig abrupt aufhört, auch wenn sich der Kreis etwas schliesst… Dennoch ist diese Lektüre eine für mich seltene Ausnahme, bei der das Buch nachwirkt und mit zeitlichem Abstand «gewinnt». Anfangs blieb ich etwas ratlos zurück, aber gedanklich liess mich das Buch nicht los und mir gefällt es nun noch besser als direkt nach dem Lesen.


    Ich habe den Eindruck, dass ich meine Gefühle zu dem Roman hier ein wenig unstrukturiert hinterlasse, aber auch nach Tagen kriege ich es nicht besser hin, will ich nicht dreimal soviel Text schreiben. Denn es gäbe noch soviel zum Roman selbst zu schreiben, als auch zu Parallelen zu Sebalds Leben und weiterer Sekundärliteratur.


    Daher möchte ich mit diesem Hinweis abschliessen:
    Der bereits erwähnte Interviewband enthält u.a. Gespräche zu «Austerlitz», in denen Sebald über den Sinn seiner Fotos spricht (Nahtstelle zwischen Leben und Tod), ob er sie selbst macht oder irgendwo findet (halb/halb), ob ein deutscher Autor über jüdische Biographien schreiben sollte (Austerlitz ist eine Verbindung aus zwei realen Vorbildern), weshalb er beim Thema Kindertransport auf Melodramatik verzichtet (es ginge sonst die ästhetische Authentizität verloren), und weshalb sein Protagonist überhaupt «Austerlitz» heisst (jeder denkt an die Stadt und die Schlacht Austerlitz, aber Fred Astaire wurde als Frederick Austerlitz geboren, dessen Vater hatte jüdische Wurzeln und stammt aus Österreich-Ungarn).

  • Danke, Nungesser, für Deine Gedanken!


    Ich habe das von Dir hier verlinkte Buch schon seit Jahren auf dem SUB, und habe es immer noch nicht gelesen. Wieviele Schätze sich da noch verbergen...


    Ja, ich selber fand das Buch sicherlich unglaublich gut konstruiert und sprachlich geschliffen, aber kalt fand ich es auch nicht. Manchmal eventuell die einzige Form, hinter der man über gewisse Gräuel reden kann?

  • Winfried G. Sebald “Austerlitz"


    Ich habe "Austerlitz" vor etwa einem Jahr gelesen und fand es magisch. Magisch sind für mich Bücher, die mich - oft gegen meinen Willen - in eine Handlung oder vielmehr Beschreibung einer Handlung hineinziehen. Als ich "Austerlitz" zu lesen begonnen habe, dachte ich, das wird nichts mit uns. Keine Handlung, dafür seitenweise Beschreibungen kleinster Details an Bauwerken, das ist verschwendete Lebenszeit. Doch dann fingen die kunstvollen Details an, sich zu einem Zusammenhang zu fügen, so lange bis man Austerlitz und seine Geschichte kennt. Da konnte ich das Buch schon längst nicht mehr aus der Hand legen und habe es gelesen als wäre es ein Thriller. Eine Offenbarung, und in einer Sprache geschrieben, die jedes Wort liebt.

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous