Kazuo Ishiguro - Alles was wir geben mussten/ Never Let Me Go

  • Inhalt (Amazon):


    Ein großer Sportplatz, freundliche Klassenzimmer und getrennte Schlafsäle für Jungen und Mädchen – auf den ersten Blick scheint Hailsham ein ganz gewöhnliches englisches Internat zu sein. Aber die Lehrer, so engagiert und freundlich sie auch sind, heißen hier Aufseher, und sie lassen die Kinder früh spüren, dass sie für eine besondere Zukunft ausersehen sind. Dieses Gefühl hält Kathy, Ruth und Tommy durch alle Stürme der Pubertät und Verwirrungen der Liebe zusammen – bis es an der Zeit ist, ihrer wahren Bestimmung zu folgen …


    Die Geschichte wird rückblickend in Ich-Form von der inzwischen erwachsenen Kathy erzählt. In ihrer Funktion als „Betreuerin“ reist sie von einem Einsatzort zum anderen und hat so auf ihren einsamen Autofahrten viel Zeit ihren Erinnerungen nachzuhängen.
    Was das Besondere an diesen Kindern bzw. an Hailsham ist, will ich jetzt lieber noch nicht verraten, weil das Buch wahrscheinlich noch stärker wirkt, wenn man gänzlich unbefangen herangeht. ( :-k Andererseits denke ich, dass es dem Leser wohl bald klar wird bzw. dass es sich sowieso schon herumgesprochen hat, da es in den meisten Rezensionen thematisiert wird (auch bei Amazon!). Mich hat das Wissen um diesen speziellen Aspekt übrigens erst zum Lesen animiert ...)
    Wie auch immer, eigentlich ist dieses „Geheimnis“ nur vordergründig das Thema des Buches.
    Es ist ein Roman, der viel Stoff zum Nachdenken u. Diskutieren bietet, jeder wird darin etwas anderes für sich entdecken.
    Es geht für mich vor allem um die Bedeutung der Liebe u. Freundschaft in einer hoffnungslosen, kalten Welt, um die Frage was das Menschsein ausmacht


    Ich finde es beindruckend, wie der Autor es schafft, mich mit seiner klaren, ruhigen, fast kühlen Sprache und vergleichsweise wenig Handlung so zu berühren, ich hatte hinterher das Gefühl etwas ganz Besonderes gelesen zu haben. Dabei plätschert die Geschichte eher ruhig dahin, viel Raum nimmt die Schilderung des Internatsalltags ein, "Action" darf man sich keine erwarten - ich kann mir schon vorstellen, dass es einige Leser langweilig finden werden. Aber ich finde, es baut sich eine ganz eigenartige, verstörende u. auch melancholische Stimmung auf, die mich total gefangen genommen hat und die noch lange nachwirkt, besonders die Schlußzene fand ich sehr ergreifend.


    Die Taschenbuchausgabe erscheint übrigens im Dezember!

    Gruß Bibliomana :cat:
    "Man kann im Leben auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur!"

    Einmal editiert, zuletzt von Bibliomana ()

  • Danke für die Rezension des neuen Buches von Ishiguro. Ich las es kurz nach seinem Erscheinen auf englisch und war, wie immer bei diesem Autor, angetan von der, wie Bibliomana es ausdrückt, "eigenartigen, verstörenden Stimmung" des Buches. Der Autor versteht es hervorragend, eine "erschreckende" Realität in einem Kleid der Selbstverständlichkeit darzustellen. Die Diskrepanz zwischen Erzähltem und dem anscheinend unschuldigen Stil weckt einen tiefen Taumel, der mich an Horrorgeschichten denken lässt. Es gäbe viel zu sagen über angedeutete Gedankengänge. Eventuell würde sich dieses Buch hervorragend für eine Leserunde eignen??? Ich wünsche ihm viele Leser!

  • Ich habe das Buch auch sehr gern gelesen, weil es trotz der Thematik kein steriler oder abgedrehter Science Fiction geworden ist , sondern ein sehr poetisches Buch !
    Besonders die Szene

    war sehr emotional.
    Und auch die Auflösung,

    , war bewegend und doch glaubwürdig geschildert.


    4 bis 5 Sterne würde ich sagen =D>

  • :thumright: Ein wirklich besonderes Buch! Es hat mich einerseits schockiert, aber auch tief berührt. Der science-fiction-Aspekt regt sehr zum Nachdenken an, ist dabei aber nicht aufdringlich und übertrieben. Die Darstellung der Charaktere und ihrer Emotionen hat mir richtig gut gefallen. Wie SiriNYC schon sagte, "ein sehr poetisches Buch". Es ist wunderbar geschrieben. Und ich werde bestimmt noch lange darüber nachdenken.


    Das war das erste von Ishiguro's Büchern, das ich gelesen habe. Sein Stil hat mir sehr gut gefallen, ich werde bestimmt noch mehr von ihm lesen!


    Eigentlich habe ich das Buch ja gar nicht gelesen, sondern gehört. ;) Ich habe die Hörbuchausgabe der BBC, mit Emilia Fox als Sprecherin. Diese Ausggabe hat mir sehr gut gefallen, obwohl ich normalerweise schon oft Probleme mit britischem Englisch habe. Doch nachdem ich mich erstmal eingehört hatte, gefiel es mir richtig gut. Emilia Fox ist eine sehr ausdrucksstarke Vorleserin. Ich hatte manchmal wirklich das Gefühl, Kathy würde mir ihre Geschichte persönlich erzählen. Ich kann das Hörbuch also wirklich empfehlen. :thumleft:

  • Eigentlich mache ich um alle Bücher, die nur annähernd mit Science-Fiction zu tun haben, einen großen Bogen – Kazuo Ishiguro hat mich aber eines Besseren belehrt.
    In nüchterner, distanzierter Sprache erzählt er von einer Zukunftsvision, als wäre sie heute schon alltäglich. Die Protagonistinnen Kathy, Tommy und Ruth sind wie Menschen von nebenan, ich hoffte, bangte und litt mit ihnen und schüttelte fassungslos den Kopf über die dahinterstehende Idee.
    Eine Warnung, wohin uns die Wissenschaft führen kann und dass die Setzung einer ethischen Grenze in Bezug auf Gentechnik verdammt schwierig ist. Ebenso ein Zeugnis dafür, wie gruppendynamische Merkmale entstehen, ein Buch über Loyalität, Freundschaft, Ausgrenzung und passive Anpassung an ein System.



    Am Schluss bleiben einige Fragen offen, was mich aber nicht weiter störte. Ishiguro lässt Platz für eigene Gedanken, Schlüsse und Szenarien.


    Ich persönlich finde den Originaltitel passender und treffender!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Gerade erschienen in einem anderen Thread Kommentare zu Kertesz "Roman eines Schicksallosen" und da Rosalita auch diesen Roman gelsen hat, wage ich einfach mal von meinem Bauchgefühl zu reden, dass beide Schriftsteller eine ähnliche Sprache gewählt haben, um vom Unsäglichen, Unsagbaren zu reden. Ich wäre sehr gespannt, ob Dich soch eine Intuition, Rosalita, oder andere, auf weitergehende Gedanken bringt, Neues erkennen läßt oder ob ich mit diesem Gedanken querschieße.
    In beiden Romanen gibt es eine Art unerträglicher Sprache angesichts von Gräueln, die "plötzlich" wie "selbstverständlich" dargestellt werden... (auch wenn es natürlich klar ist, dass da eben Unmenschlichkeit herrscht). Mich spricht dieses Thema sehr an, auch wenn ich noch nicht alles in diesem Bereich in Worte fassen kann.

  • Hallo Tom!


    Ich kann einigermaßen nachvollziehen, was Du meinst. Eine sehr interessante Thematik.


    Bei mir persönlich bewirkt ein nüchterner, distanzierter, unverblümter und vielleicht wortkarger Stil in der Tat mehr an als ausschweifende Beschreibungen, blutrünstige und detailgenaue Schilderungen irgendwelcher Grausamkeiten. Das "Unmenschliche" kann ohndies nicht in Worte gefasst werden.


    In den Raum gestellte Sätze, die ein Szenario im Kopf entstehen lassen, bei denen vieles ungesagt bleibt und dennoch vermittelt wird, genau das ist der Stil bei Ishiguro, ebenso wie bei Kertesz. Jose Saramagos "Stadt der Blinden" oder auch Ian McEwan fallen mir dazu noch ein.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Rosalita,


    und diese beiden Autoren liegen auf meinem SUB, bzw. stehen auf der "Liste"...


    Der Schreibstil insbesondere von Ishiguro ist unglaublich: was einige da als "langweilig" oder eintönig bezeichnen mögen ist eine Art sprachlicher Wiedergabe der Hinnahme des Unannehmbaren. In mir entseht da eine innere Spannung, die ich nun kaum in Worte fassen kann! Alles in einem ringt und stöhnt, schnürt einem die Kehle zu: "Erkennt doch, was man mit Euch tut! Tut was! Kämpft!" Und es passiert... nichts. Wahnsinn!


    Und wahrscheinlich sehr realistisch...

  • Ich habe den Roman am Sonntag ausgelesen.


    Mir hat dich Lektüre sehr angerührt. Dadurch, dass Kathy den Leser mit ihrem Lebensbericht direkt anredet, entsteht ein besonderes Vertrauensverhältnis und man hat das Gefühl, ihr nahe zu sein. Dadurch, dass sie zudem annimmt, man sei Betreuerin wie sie, entsteht eine geheimnisvolle Atmosphäre zwischen Leser und Erzählerin.


    Vieles wird nur angedeutet, und der Leser hinterfragt die Strukturen der vorgestellten Gesellschaft.


    Zitat


    Original von tom fleo
    In mir entseht da eine innere Spannung, die ich nun kaum in Worte fassen kann! Alles in einem ringt und stöhnt, schnürt einem die Kehle zu: "Erkennt doch, was man mit Euch tut! Tut was! Kämpft!" Und es passiert... nichts. Wahnsinn!



    Die Vermischung von moralischen Überlegungen zu den Themen Wissenschaft und Ethik, und dann das Aufzeigen der Auswirkungen von Entscheidungen auf Individuen ist für mich sehr gut gelungen! Insbesondere die Auflösung bestimmter Geheimnisse, die nach und nach erfolgt, erhöht das Grauen.


    Wer auch immer das Buch als "langweilig" oder "nichtssagend" bezeichnet, hat meiner Meinung nach den Sinn des Buches nicht erfasst!


    Ein tolles Buch! Sehr empfehlenswert! :thumleft:

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

    Einmal editiert, zuletzt von Fezzig ()

  • Als ich das Buch beendet habe, brauchte ich erst einige Zeit bis ich mich einer andere Lektüre widmen konnte. Bin sehr beeindruckt.
    Der Autor hat eine ungewöhnlich spannende Vorstellung der Zukunft entstehen lassen, die die Seele berührt, und gleichzeitig traurig und erschreckend wirkt.
    Das Buch ist in einer einfachen und dennoch auffallend schönen Sprache geschrieben,
    die Spannung steigt allmällig, längere Zeit kann man nur in etwa erahnen in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird.
    Faszinierendes Buch, hat mir sehr gut gefallen.

    2024: Bücher: 73/Seiten: 32 187

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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  • Langweilig ist das Buch keinesfalls. Im Gegenteil, bereits mit den ersten Zeilen nimmt mich der Autor bzw. die Ich-Erzählerin gefangen und mir bleibt nichts anderes übrig, als der Erzählung zu lauschen. Das Buch erinnert von seiner Thematik her an einige andere Science-Fiction-Romane, trifft nichtsdestotrotz meinen Geschmack und mein Interesse.


    Der Autor versteht es hervorragend, eine "erschreckende" Realität in einem Kleid der Selbstverständlichkeit darzustellen.


    tom fleo, mit diesem Satz drückst du unglaublich viel aus. :thumleft:


    Ich werde mich nach weiteren Büchern des Autors umschauen.


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Ich werde mich nach weiteren Büchern des Autors umschauen.


    @ gaensebluemche, dann antworte ich Dir gleich mit einem meiner liebsten Lieblingsbücher: Was vom Tage übrig blieb.
    Nicht so toll fand ich dagegen Als wir Waisen waren


    "Alles, was wir geben mussten" habe ich gerade ertauscht.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ishiguro ist einer meiner Toplieblingsautoren, von dem ich alles gelesen habe. Soweit man das dann überhaupt von solch einem Autor sagen kann, denke ich wie Marie, dass "Als wir Waisen waren" vielleicht sein "schwächstes "Buch ist.

  • Danke für eure Hinweise, Marie und tom fleo! Leider sprechen mich die Inhaltsangaben der anderen Bücher von Ishiguro gar nicht an. :-? Ich werde den Autor trotzdem im Hinterkopf behalten, vielleicht erscheint ja demnächst ein Buch von ihm, das mich inhaltlich mehr anspricht.


    Marie, auf deine Eindrücke zu "Alles, was wir geben mussten" bin ich gespannt.


    :flower:

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  • @ gaensebluemche, so schnell geb ich nicht auf.
    Vielleicht kannst Du Dir die ausgezeichnete Verfilmung besorgen und wirst dann gebührend neugierig.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie, damit würde ich mich glatt einverstanden erklären. :wink: Ich schau mal, was sich machen lässt. 8)


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
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  • Auch wenn ich jetzt das Gefühl habe, dass die meisten meiner Fragen unbeantwortet blieben, fand ich das Buch hervorragend; es ist ungewöhnlich, beeindruckend und geprägt von einer besonderen Art der Spannung, die weniger an Ereignissen festzumachen ist als an der Entwicklung der Figuren.


    Diese Art, schicksalsergeben mit seinem Leben umzugehen und vieles geschehen zu lassen statt seinen individuellen Weg zu suchen, kannte ich schon von William Stevens aus "Was vom Tage übrig blieb". Das besonderes des Romans ist, das KEINE Revolte stattfindet (sonst würde er im Nu in eine 0-8-15-SciFi-Story abdriften).
    Die Geschichte bewegt sich nur im Mikrokosmos von Kathy, Ruth und Tommy; die Umwelt oder andere Menschen werden völlig außen vor gelassen.
    Was mich vor allem beschäftigt hat, war das Problem von "Verschweigen" und "Offenlegen". Insofern hat das Buch mich in meiner Meinung bestärkt: Wenn man jemandem, auch Kindern, etwas wichtiges, etwas bedeutendes für Leben und Zukunft verschweigt, öffnet man der Phantasie Tür und Tor. Und die Phantasiereien sind oft schlimmer als die Realität, und was am schlimmsten ist: Man kann sich nicht mit Wahrheit und Realität auseinandersetzen.


    Was man nicht erfährt:


    Andererseits: Man braucht eigentlich auf diese Fragen keine konkrete Antwort, denn größtenteils besteht der Zauber des Buches darin, dass vieles nicht eindeutig ist und sein kann - so empfindet es die Protagonistin ja auch - und dass sich die Geschichte eher "schwebend" fortbewegt (sorry, hab kein besseres Wort gefunden).

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich liebe dieses Buch :) Ich hab es mir damals gekauft, nachdem ich es in "1001 Books you must read before you die" gesehen habe.


    Die Verfilmung läuft übrigens seit kurzem im Kino. Wenn ich es schaffe, schaue ich mir den Film am Wochenende an.

  • Ich war tatsächlich am Samstag im Kino und muss sagen, dass es für ne Literaturverfilmung echt gut war.


    Abgesehen von den zwei Mädels neben uns, die die ganze Zeit fragten: was spenden die denn? ich versteh das nicht. Boah welche findest du hübscher


    Ich glaub, die beiden haben den Film nichtmal ansatzweise verstanden

  • Nachdem ich hier den Thread zum Buch mehrfach gelesen habe, muss ich sagen, ich kann eigentlich in jedem der Kommentare eine teilweise gefühlsmäßige Übereinstimmung in mir finden. Auch sieht man, welch unterschiedliche Aspekte in den einzelnen Lesern gedanklich zutage gekommen sind – allein das bestätigt doch, was für eine beeindruckende Lektüre Kazuo Ishiguro in Alles, was wir geben mussten vorgelegt hat. Ich muss gestehen, dass ich zuerst dachte, ich befände mich im falschen Buch, da ich einfach ein Buch vom Romanautor zum Film The Remains of the Day lesen wollte; während der ersten Kapitel dachte ich, ich hätte mich im asiatischen Namen geirrt und einen anderen Autor erwischt! Was ja eigentlich als großes „Pro“ für Ishiguro zu werten ist – er hat eben mehr auf Lager als vornehme historisch-englische Atmosphäre.


    Wie für einige andere Leser erweist es sich auch für mich ganz schwierig zu beschreiben, was in mir beim Lesen vorging – man reagiert emotional gar nicht so auf die Lektüre, wie man weiß, dass man dem Verstand nach reagieren sollte.


    Nicht einmal eine konkrete literarische Zuordnung scheint möglich - der Autor vermischt im Buch verschiedene Literaturgenres und verwischt deren Grenzen: was wie ein Thriller anfängt, wechselt scheinbar zu einer Science Fiction-Story; dieses Element bleibt erhalten, jedoch nicht als Handlung, sondern meines Erachtens nach als Rahmenbedingung für den eigentlichen Handlungsfaden. Der Autor baut die Erzählung zu einer Freundschaftsgeschichte aus, und lässt sie daraufhin in einer Art von „Doomed Love-Story“ enden. Zumindest die letzten beiden Elemente könnten einen gewissen Grad an Emotionalität erklären, nicht aber diese kolossale Verstörtheit, die ich als Leser (immer noch, zwei Tage später) empfinde …


    Ich weiß, dass das für unser Verständnis so grausame Science-Fiction-Element, das den erzählerischen Rahmen für Alles, was wir geben mussten bildet, mich vom Verstand her zur Empörung treiben sollte. Und doch spüre ich, wenn ich ehrlich bin, weniger Empörung als eben Verstörtheit, wie schon erwähnt. Alles wird in die Betrachtungsweise der Normalität gebracht. Die ganze Zeit hatte ich außerdem unterschwellig das Gefühl, eine Parabel zu lesen, eine Parabel auf das „wirkliche“ Leben, mit einem unabänderlichen Ende.



    Ishiguro scheint diese Aussage auch sprachlich zu bestätigen: er verwendet eine einfache, „normale“, ganz gewöhnliche und schlichte Sprache ohne Besonderheiten, die eben die beabsichtigte Alltäglichkeit des Inhaltes unterstützt. Die Sprache vermittelt und verstärkt den Eindruck von Normalität, die keine besonderen Auffälligkeiten aufzeigen will.
    Ich möchte jedoch hinzufügen: so einfach, ja fast gewöhnlich die Sprache in Alles, was wir geben mussten auch scheinen mag, ist sie doch von beeindruckender Eleganz. Man darf annehmen, dass bei der Übersetzung in die deutsche Sprache gute Arbeit geleistet wurde.

    Eigentlich ist man es gewohnt, in einer Lektüre die eine oder andere Antwort zu erhalten. Nach dem letzten Satz der Lektüre fühlte ich, dass im letzten Teil des Buches eine ganz seltsame Antwort impliziert wird, nämlich: „Es gibt keine Antwort …“ Diese Antwort wirft ihrerseits eine Frage auf: Welches ist eigentlich die Frage, die zu dieser seltsamen Antwort gehört?



    Fazit: Statt eines Abschlusses mit einem zufriedenstellenden, lautstarken Zuschlagen des Buchdeckels sieht man sich als Leser nach dem Schließen der Lektüre emotional noch tief involviert – man hat zwar Buchstaben, Worte und Sätze der Erzählung durchgelesen, doch fällt es schwer, das alles, was so unterschwellig aus dem Bauch kommt (was man jedoch fast schmerzlich tief empfindet), in Worte zu fassen – Alles, was wir geben mussten baut seine Handlung auf einem faszinierend leichten Gespinst von raffiniertester Subtilität und Sensibilität auf. Ich möchte gern glauben, dass dies ein Effekt ist, auf den der Autor Kazuo Ishiguro abgezielt hat: dem Leser werden in aller Subtilität Gefühle ins Unterbewusstsein eingeflößt, die er auf seiner oberen Bewusstseinsebene gar nicht oder nur schwer abgreifen kann.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    Einmal editiert, zuletzt von Hypocritia ()