Sarah Waters - Solange du lügst / Fingersmith

  • Buchinhalt (Cover):
    England im 19. Jahrhundert: Susan Trinder, die in einem Haus voller Diebe aufwächst, plant den großen Coup, um ihr Glück zu finden. Als Zofe will sie eine junge, unbedarfte Adelige erst an einen berüchtigten Schwindler verheiraten - und dann ins Irrenhaus bringen, um an ihr Vermögen zu kommen. Zu spät erkennt sie, daß sie in ein gefährliches Intrigenspiel geraten ist, in dem es nicht um Geld und Ansehen, sondern um Liebe und Tod geht.


    Kurzbeschreibung innen:
    Susan Trinder ist eine Waise. Ihre Mutter starb am Galgen - so jedenfalls hat es ihr Mrs. Sucksby erzählt, die Frau, bei der Sue Unterschlupf fand.Mrs.Sucksby steht einem Haus von Dieben vor. Nur Sue behandelt sie mit ausgesuchter Höflichkeit, als sei das Mädchen etwas Besonderes.
    Eines Tages taucht ein Mann auf, den alle 'Gentleman' nennen. Als vermeintliche Zofe soll Sue ihm helfen, eine unbedarfte Adelige zu heiraten, um so an ihr Vermögen zu gelangen. Ist die Heirat vollzogen, will die die junge Frau in ein Irrenhaus einwisen lassen. Ein angeblich narrensicherer Plan, doch bald muß Sue erkennen, daß ihr in diesem Stück nicht nur die Rolle der Betrügerin zukommt. Die grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Liebe und Haß verwischen sich.


    Autorin:
    Sarah Waters wurde 1966 in Wales geboren. Sie promovierte in englischer Literatur.
    'Solange du lügst' wurde mit dem Ellis Peters Award als bester historischer Krimi des Jahres ausgezeichnet.


    Meine Meinung:
    Ein flüssig zu lesender, recht spannender historischer Krimi.
    Die Idee des'Bäumchen wechsle dich' ist allerdings nicht ganz neu. Ziemlich schnell ahnte ich den Fortgang der Geschichte im Groben, nur das wann ließ mich spekulieren. Zum Ende versöhnte ich mich dann mit einer weiteren zusätzlichen Variante.
    Manchmal erschien mir die Story als Krimi etwas zu verträumt, aber das ist wohl Geschmackssache.
    Für krimilesende Historikfans aber mit Sicherheit lesenswert!


    Gruß Wirbelwind


    :study: Gisbert Haefs, Raja

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Originaltitel: Fingersmith


    Seit „Nightwatch“ (Frauen von London) bin ich überzeugter Sarah Waters Fan und wurde von dieser Erzählung nicht enttäuscht. Der Stil unterscheidet sich immens von „Nightwatch“, bietet aber ebenso lebendige Figuren, Szenen und Handlungsstränge. Für mich in wahrer Pageturner.


    Ich behalte mir die Kurzbeschreibung ein, weil in Wirbelwinds Beitrag bereits alles wichtige erwähnt wird. Ergänzend ein paar Details:


    Maud (die Erbin) ist eine scheinbar schwache und zarte Person, die von Alpträumen und Zukunftsängsten geplagt wird. Ihr Onkel hält sie im Haus wie eine Gefangene und sie oeffnet sich dem ihr bekannten Teil des Plans bald. Nach Monaten des Wartens scheint es, als ob Susans Reichtum gemacht sei. Doch dann kommt alles ganz anders als erwartet.


    Was nach 0815-Handlung für einen historischen Kriminalroman klingt, bietet eine Menge Ueberraschungen und gute Unterhaltung. Es passiert nicht oft, dass mir wegen eines Plotdrehs der Mund offensteht, doch hier kam es mehrmals zu unkontrollierten „AH!“ und „Ooh“ Ausrufen - vielleicht lese ich zu wenig Kriminalliteratur und bin deshalb leicht naiv. :geek:


    Nichts ist wie es scheint, starke Charaktere und jede Menge „Opfer“ in dieser Geschichte. Delikate Gemüter werden sicher häufig schlucken müssen – die Sprache ist teilweise sehr deftig, aber immer sehr passend zu den Figuren. Gut gefallen hat mir die Tatsache, dass es ein wenig Liebe gab, wenn auch mit grossen Schwierigkeiten versehen und boykottiert von den egoistischen Motiven der Handelnden. Dies macht das Lesen umso spannender und glaubwürdiger.


    Maud und Susan sind ebenbürtige Freunde und Gegner, die alle anderen durch ihre Geistesstärke in den Schatten stellen. Man lacht und leidet mit ihnen, hasst und liebt gemeinsam. Ich habe schon lange keinen Roman mehr gelesen, in dem meine „Loyalität“ so häufig schwankte!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:
    Dieses Buch habe ich im Jahr 2004 gelesen, weil David Bowie es damals begeistert seinen Fans empfahl. Ich weiß nicht, ob es da noch keine deutsche Übersetzung gab, jedenfalls las ich es auf Englisch und war erstaunt und begeistert.


    Erstaunt, weil ich noch nie ein Buch wie dieses gelesen hatte:


    Sarah Waters erzählt eine gut konstruierte Gaunergeschichte mit perfiden Wendungen, ein psychologisches Drama, ein Porträt des harten, schmutzigen Alltags in den Armenvierteln der Zeit – und zugleich die Geschichte von zarten Gefühlen zwischen zwei Frauen in einer Ära, als lesbische Liebe als Perversion oder als Wahnsinn gesehen wurde. Eine ungewöhnliche Kombination, die funktioniert, weil die Autorin nichts beschönigt, dem Leser jedoch mit viel Gespür für zwischenmenschliche Nuancen die Charaktere so vorstellt, dass man sie zwar nicht immer lieben, aber zumindest verstehen kann.


    Spannend fand ich schon wenigen Seiten, dass die Geschichte aus einem ganz anderen Blickwinkel erzählt wird, als man es als Leserin gewohnt ist: in einem Roman von Charles Dickens wäre Susan wahrscheinlich eher die Antagonistin gewesen als die Protagonistin.


    Interessanterweise sieht Susan am Anfang des Buches als kleines Mädchen eine Theateraufführung von "Oliver Twist" und hat eine Epiphanie:


    "Und ich weiß noch, dass mir das erste Mal aufging, wie es zuging auf der Welt: dass es böse Menschen wie Bill Sykes gab und gute wie Mr. Ibbs und solche wie Nancy, die sich in diese oder jene Richtung wenden konnten."
    Auch sie selber wird sich im Laufe des Buches in verschiedene Richtungen wenden.


    Susan ist aufgewachsen unter Dieben und Hehlern. Das Einzige, was sie von ihrer leiblichen Mutter weiß, ist, dass diese als Mörderin gehenkt wurde – in den Kreisen, in denen sich Susan bewegt, keineswegs eine Schande, sondern fast eine Auszeichnung. Sie hat kaum Gefühl für Recht und Unrecht; anfangs lässt sie sich ohne große Skrupel darauf ein, mitzuwirken an einem Komplott, das eine unschuldige junge Frau um ihr Vermögen betrügen und ins Irrenhaus bringen soll, ersonnen von einem Schurken adliger Abstammung, den die Gauner nur "Gentleman" nennen.


    Dennoch war ich bereit, Susan weiter zuzuhören, denn sie erschien mir nicht vollends verloren.


    Dann trifft sie auf Maud: die stille, sanftmütige, naive Maud, bei der Susan sich als Zofe einschleichen soll, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und das erscheint so einfach... Nur dass Susan erstens schon schnell das Gewissen plagt, und sie zweitens Gefühle für Maud entwickelt, die sie nicht recht einordnen kann, weil es nicht die Gefühle sind, die in ihrer Sicht der Welt eine Frau für eine andere entwickeln darf. Dabei soll sie Maud doch dazu bringen, Gentleman zu heiraten...


    An dieser Stelle hätte das Buch so stereotyp wie verfrüht enden können, Sarah Waters hingegen macht es sich keineswegs so einfach. Stattdessen wirft man als Leserin einen Blick auf die Seitenzahl und stellt fest, dass man noch nicht mal die Hälfte der Geschichte erreicht hat.


    Und ab dieser Stelle werde ich nichts weiter über die Handlung verraten – es juckt mir in den Fingern, mehr zu schreiben, aber dies ist ein Buch, bei dem man beim ersten Lesen auf gar keinen Fall vorher zu viel wissen darf. Man muss ungebremst hineinstürzen in das Kaninchenloch.


    Lasst. Euch. Nicht. Spoilern.
    Seid vorsichtig mit Rezensionen, ich habe ein paar gesehen, die definitiv zu viel verraten.
    Daher nur noch kurz:


    Die Charaktere sind brillant geschrieben, gerade weil die Autorin nicht davor zurückschreckt, ihre Schwächen und charakterlichen Abgründe auszuloten.


    Susans Gefühle für Maud sind mehr als ein Gimmick, mehr als nur ein Lippenbekenntnis zur Diversität.Und sie sind auch nicht das Wundermittel, dass Susan über Nacht zu einem guten Menschen macht. Sie ist eine zwiespältige Frau mit zwiespältigen Gefühlen.


    Um über den Schreibstil zu schreiben, muss ich die Übersetzung erwähnen. Diese ist keineswegs schlecht, aber es geht zwangsläufig etwas verloren von der einzigartigen Sprachmelodie des Originals. Auch die Gaunersprache der Zeit lässt sich nur schwer eins zu eins ins Deutsche übertragen – im Original hat der Schreibstil einfach mehr Atmosphäre.


    Großartig fand ich, wie Teile des Buches, die von verschiedenen Charakteren erzählt werden, auch vom Schreibstil her deutlich variieren.


    Fazit:
    Im 19. Jahrhundert lässt sich die junge Diebin Susan auf ein mieses Geschäft ein: sie soll dem Schurken "Gentleman" helfen, eine reiche Erbin zu bezirzen und sie nach der Heirat im Irrenhaus zu entsorgen. Als sie die naive, unschuldige Maud kennenlernt, plagt sie schon bald das Gewissen... Und verwirrende Gefühle, die es ihr noch schwerer machen, ihre Rolle zu spielen.


    Ich lese nur selten ein Buch mehrmals.


    "Fingersmith" habe ich 2004 im englischen Original gelesen und war beeindruckt. Nun habe ich das Buch noch mal in der deutschen Übersetzung gelesen – "Solange du lügst" – und war wieder beeindruckt, auch wenn in der Übersetzung ein wenig des Flairs und der Atmosphäre verloren geht. Man sollte sich vom Klappentext nicht täuschen lassen: die Handlung ist wesentlich komplexer, als es erst den Anschein hat! Es ist weder ein typischer historischer Roman, noch eine typische Liebesgeschichte, noch ein typischer Krimi... Obwohl es alles das ist.


    Ein Hinweis: das Buch hat ein paar dezent explizite Szenen (gehört aber meines Erachtens nicht ins Genre Erotik) und ist sicher nichts für Leser, die Homosexualität ablehnen.

  • Durch Mikka Liests Beitrag fand ich erneut diesen Sarah Waters Fred. Ist er wirklich gut aufgehoben bei den Krimis und Thrillern? Da ich normalerweise da nicht reinschaue, könnte ich leicht daran vorbeigehen, dabei ist dies Buch doch "mehr". oder?

  • Ist er wirklich gut aufgehoben bei den Krimis und Thrillern? Da ich normalerweise da nicht reinschaue, könnte ich leicht daran vorbeigehen, dabei ist dies Buch doch "mehr". oder?

    Ohne den Roman zu kennen, muss ich ja schon bemerken, dass es Krimis gibt, die in puncto Anspruch, Vielschichtigkeit und Sprache so manche sommerflockige Belletristik (vulgo "Roman") auf die Plätze verweisen. Nur weil es massenweise Schrott-Krimis gibt bzw. die öffentliche Wahrnehmung dank Verlagswerbung und Buchhandelsauslagen das vielleicht nahelegt (und ich gebe zu Bedenken: Von allem auf der Welt ist jeweils immer 90 Prozent Mist), sollte man der Kriminalliteratur als zunächst vor allem thematisch bestimmtem Genre nicht generell einen Platz am literarischen Katzentisch zuweisen, als Literatur, die nur "wenig" zu liefern im Stande ist.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Ich stimme Dir da schon zu und es ist eine gute Erwähnung. Vielleicht verbinde ich falsch. Aber die von Dir angesprochene Form würde mich natürlich ansprechen. Bei Romanen filtere ich natürlich ebenfalls, klar! Bei Krimis oder Thrillern stosse ich eher zufällig oder auf mir zugänglichen Literaturbeiagen bewusst drauf.

  • @tom leo: Es stimmt ja schon, dass es schwieriger scheint, gute Kriminalliteratur zu entdecken, weil der gesättigte Markt die innovativen Ausreißer gerne an den Rand drängt - und man genauer stöbern muss. Um so wichtiger ist es, auch gute Kriminalliteratur als "Krimi" oder "Thriller" zu bezeichnen und sie nicht als belletristische Hochliteratur vermeintlich gut gemeint zu adeln. Das schadet ja nur dem Krimigenre in Gänze, da es den Blick wieder nur auf die Krimi-Bestseller oder das bezüglich Wagemut oder Tiefenschärfe eher Mittelmäßige einschränkt.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Für mich fällt das Buch nicht unter Krimi, auch wenn manche Handlungselemente daran erinnern. Ich hätte es eher als (sehr guten) historischen Roman eingestuft. So ein bisschen in die Richtung wie "Das karmesinrote Blütenblatt".

  • Für mich fällt das Buch nicht unter Krimi, auch wenn manche Handlungselemente daran erinnern. Ich hätte es eher als (sehr guten) historischen Roman eingestuft. So ein bisschen in die Richtung wie "Das karmesinrote Blütenblatt".

    Da stimme ich voll zu. Es ist, finde ich, auch das beste Buch von Sarah Waters. Vielschichtig, spannend und berührend.