Etty Hillesum - Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum. 1941-1943

  • Heute abend habe ich noch einmal Passagen dieses Buches gelesen und bin zutiefst aufgewühlt und berührt. Dieses Buch gehört eindeutig zu meine Top-Ten.


    Wie Anne Frank lebte Etty Hillesum in den Niederlanden und schrieb regelmässig Tagebücher. Wie Anne Frank kam sie in Auschwitz ums Leben.


    Aber bei Etty Hillesum handelt es sich um eine Frau Ende 20, einer Slawistik- und Psychologiestudentin, die die Geliebte ihres Psychologieprofessors ist. "Es ist schwierig, mit Gott und mit dem Unterleib in gleicher Weise zurechtzukommen"
    "Es ist typisch, daß ich immer wieder von einem Mann begehrt sein möchte, daß es immer wieder die höchste Bestätigung für uns Frauen ist, eine Frau zu sein, obwohl das an sich völlig primitiv ist."


    Offen schreibt sie über ihr inneres Chaos und kommt mit der Zeit zu einer Lebensbejahung, die mich schier umhaut. "... denn es gab keine Fragen, nur großes Vertrauen und Dankbarkeit dafür, daß das Leben schön ist. Deshalb ist dies ein historischer Augenblick: nicht weil ich jetzt gleich mit S. zur Gestapo muß, sondern weil ich trotz dieser Tatsache das Leben schön finde."
    "Ich hänge so an diesem Leben." "Ob man das Leben lachend oder weinend verbringt, es ist doch immer nur ein Leben."


    Sie schreibt später: "Ich weiß, daß ich in einem Arbeitslager innerhalb von drei Tagen sterben werde, ich werde mich hinlegen und sterben, und das Leben trotzdem nicht ungerecht finden."
    Auch in trostloser Zeit zitiert sie aus einem Brief ihres Vaters: "Heute hat das fahrradlose Zeitalter begonnen. Ich habe Mischas Fahrrad persönlich abgeliefert. Wie ich in der Zeitung lese, dürfen die Juden in Amsterdam noch radfahren. Was für ein Vorrecht! Wir brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben, daß unsere Fahrräder gestohlen werden. Unseren Nerven tut das ausgesprochen gut. Seinerzeit in der Wüste haben wir vierzig Jahre lang auch ohne Fahrräder auskommen müssen."


    Sie zeigt Mitleid für einen "unglücklichen Gestapoburschen", der sie anschreit. "...daß ich darüber keineswegs entrüstet war und eher Mitleid mit ihm hatte, so daß ich ihn am liebsten gefragt hätte: war deine Jugend denn so unglücklich oder hat dein Mädchen dich betrogen."


    Und Etty liest, sie liest Dostojewski, Puschkin, Kirkegaard, Jung und vor allen Dingen Rilke: "Ich bemerke immer wieder, wie sehr Rilke einer meiner großen Erzieher im letzten Jahr gewesen ist." Sie liest Rilke sogar auf den Fluren der Gestapo und überall ("... irgendwo in der Mitte zwischen der Hölle und einem Irrenhaus .. habe ich Rilke gelesen." )und sie macht sich Gedanken, was sie in ihren Rucksack für das Arbeitslager mitnimmt, welche Bücher sie mitnimmt ("und auch die beiden dünnen Bändchen "Briefe an einen jungen Dichter " und das "Stundenbuch" müßten sich doch noch in einer Ecke des Rucksackes unterbringen lassen?")


    Ich könnte noch viele einzigartige Sätze von ihr zitieren, z.B.
    "Neuerdings sage ich oft: Es ist schon eine große Scheiße. Aber heute fiel mir ein, ich sollte das Wort "Scheiße" nicht so oft gebrauchen, es bleibt in der Atmosphäre hängen und macht sie auch nicht besser."


    "Viele Menschen sind noch Hieroglyphen für mich, aber allmählich lerne ich, sie zu entziffern. Es ist das Schönste, was ich kenne: das Leben herauszulesen aus den Menschen."


    "Ich fühle mich in niemandes Klauen, ich fühle mich nur in Gottes Armen"


    Aber lest das Buch selber und entdeckt Sätze und Passagen, die für euch einzigartig und wertvoll sind.


    Schließen möchte ich mein begeistertes Pladoyer für dieses Buch mit den Gedanken von Etty über Rilke:
    "Immer wieder komme ich auf Rilke zurück. Es ist sonderbar, er war ein empfindsamer Mensch und schrieb viele seiner Werke innerhalb der Mauern gastfreundlicher Schlösser, und er wäre möglicherweise zugrunde gegangen unter den Umständen, unter denen wir heute leben müssen. Aber zeugt es nicht von einer guten Ökonimie, daß sensitive Künster in ruhigen Zeiten und unter günstigen Umständen ungestört nach der schönsten und passendsten Form für ihre tiefsten Erkenntnisse suchen können, an denen sich Menschen, die in bewegteren und kräftezehrenden Zeiten leben, aufrichten können und in denen sie ein fertiges Gehäuse vorfinden für ihre Verwirrung und ihre Fragen, die noch zu keiner eigenen Form und Lösung gelangt sind, weil die tägliche Energie für die täglichen Nöte aufgebraucht wird?"


    Ich denke, ich werde auch mal wieder Rilke lesen ...


    missmarple

  • Gleich heute morgen musste ich einfach noch weiter in diesem Buch lesen. Meine Bewunderung für Etty Hillesum ist grenzenlos. Ich kann gar nicht verstehen, dass ich dieses Buch im Regal hatte und seit Jahren nicht mehr hineingeschaut habe. Ihre Gedanken sind so klar.


    "Man darf auch in diesem 20. Jahrundert noch an Wunder glauben. Und ich glaube an Gott, auch wenn mich demnächst die Läuse in Polen auffressen."


    So einen Glauben möchte ich auch haben. So eine Gewissheit.


    "Ich spüre, wie dieses Haus hier langsam von mir abzugleiten beginnt. ... Ganz vorsichtig, mit großer Wehmut, aber auch mit der Gewißheit, daß es so gut ist und nicht anders sein kann, lasse ich es gleiten, Tag für Tag.
    Mit einem Hemd am Leibe und einem Hemd in meinem Rucksack - wie war doch noch Kormanns Märchen von dem Mann ohne Hemd? Der König, der im ganzen Reich nach dem Hemd seines glücklichsten Untertanen suchte, und als er den glücklichsten Menschen endlich gefunden hatte, stellte sich heraus, daß er gar kein Hemd besaß - ...Also denn, mit einem Hemd im Rucksack gehe ich in eine "unbekannte Zukunft" ... Aber ist es denn nicht immer dieselbe Erde unter meinen umherirrenden Füßen und derselbe Himmel, einmal mit dem Mond, einmal mit der Sonne, um all die Sterne nicht zu vergessen, über meinen entwückten Augen? Waum dann von einer unbekannten Zukunft reden?"


    "Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein."



    missmarple

  • Ueber die Suchfunktion entdeckte ich diesen begeisternden Fred ueber Etty Hillesum, von der ich im Moment eine Art geistige Biographie einer bekannten franzoesischen Schriftstellerin, Sylvie Germain, lese. Und ich will die Gelegenheit nuetzen, um mich der starken Empfehlung von Miss Marple anzuschliessen. Das ist einfach eine umwerfende Frau, die uns echt was zu sagen hat. Ansonsten brauche ich den Worten meiner Vorgaengerin nichts hinzuzufuegen. Das Beste ist, die Texte von Etty (man mag sie sofort mit dem Vornamen anreden!) einfach zu einem sprechen zu lassen...



    http://www.amazon.fr/Etty-Hill…oks&qid=1201089773&sr=1-1

  • Leider sieht es so aus, als ob das Buch von Germain nur auf Franzoesisch existiert... Es ist zum Haareraufen! Ich lese alle Tage mal ein bisschen darin weiter. Solch ein Buch kann einen ja lange begleiten. Ich habe vor, spaeter dann auch die Tagebuecher selbst zu lesen. (Sie werden teils ausfuehrlich von Germain zitiert.)

  • Ich muss einfach den Thread wieder "ausgraben". "Das denkende Herz" gehört zu den beeindruckendsten Büchern, die ich gelesen habe. Missmarples Zitate haben es mir gerade wieder so schön ins Gedächtnis gerufen. Danke für die schöne Vorstellung, missmarple, eines meiner Lieblingsbücher. :) Ich sollte es wieder mal lesen..


    Ich habe gerade mal nachgeschaut, die Biographie scheint es leider noch nicht in Deutsch zu geben.


    tom leo: Hast du ihre Tagebücher mittlerweile schon gelesen? Wenn nicht eine ganz große Empfehlung von mir! :)

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  • tom leo: Hast du ihre Tagebücher mittlerweile schon gelesen? Wenn nicht eine ganz große Empfehlung von mir! :)


    :uups: Ich muss zugeben, dass meine zwei etwas unterschiedlichen Versionen, nämlich "Das denkende Herz", und eine noch ausführlichere Sammlung ihrer Schriften auf Französisch immer noch ungelesen auf meinem SUB liegen. Allerdings habe ich durch das Lesen anderer Bücher und verschiedener Zeitungsartikel einen sehr lebhaften Eindruck, worum es sich handelt.


    Das ist halt der Nachteil meiner hohen Stapel Ungelesener Bücherberge...: Wohin ich auch schaue, erwarten mich (fast sichere) Schätze.


    PS: Könnte ein Moderator noch den Fredtitel korrigieren? Es muss natürlich "Hillesum" heißen.

  • Das ist halt der Nachteil meiner hohen Stapel Ungelesener Bücherberge...: Wohin ich auch schaue, erwarten mich (fast sichere) Schätze.

    Man könnte es auch als einen wunderbaren Vorteil sehen. Kommt auf die Sichtweise an :wink: :)


    *sprach Farast und legte unbemerkt von tom leo "Das denkende Herz" , gut sichtbar, auf den obersten Stapel*

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  • Ich habe gerade mal nachgeschaut, die Biographie scheint es leider noch nicht in Deutsch zu geben.


    Nein, anscheinend nicht. Dafür verlinke ich hier noch die französische Ausgabe:
    Quatrième de couverture
    " Si j'aime les êtres avec tant d'ardeur, c'est qu'en chaque être j'aime une parcelle de toi, mon Dieu. " (Etty Hillesum) Il a fallu de longues années pour que le monde découvre le visage lumineux d'Etty Hillesum. Qui aurait cru, à la veille de la Seconde Guerre mondiale, que cette jeune femme juive, follement éprise de la vie et en apparence insouciante, allait nous laisser en héritage l'un des témoignages les plus profonds sur le don de soi et l'amour des êtres et de Dieu ? Née en 1914 en Hollande, Etty Hillesum est une jeune fille libre, pleine d'ardeur et de curiosité, qui s'enivre de lectures autant que d'expériences amoureuses. Mais sa fougue ne lui épargne pas un mal-être croissant. Un jour, un homme plus âgé lui fait découvrir son second visage en partageant avec elle un amour intense, aussi charnel que spirituel. Grâce à la discipline intérieure qu'il lui enseigne, elle trouve la voie que sa vie éparpillée lui avait masquée jusqu'ici. Lorsque son pays est envahi par les armées nazies et que déferle la violence, elle réagit à la haine et au mal par un amour inconditionnel de la vie, de l'humanité et de Dieu. Refusant la clandestinité, elle consacre toute son énergie à aider et à réconforter les prisonniers au camp de transit de Westerbork, où elle part comme volontaire. Elle disparaît à Auschwitz, en novembre 1943, à 29 ans. Son Journal et ses Lettres de Westerbork ont été publiés en français. Ce sont de grands textes emplis d'intelligence spirituelle et d'un prodigieux élan vital. Dans ce livre dense et émouvant, Sylvie Germain nous fait découvrir le cheminement spirituel de cette jeune femme hors du commun.
    (Quelle: Amazon.fr)


    Ich sah bei amazon, dass das Buch zumindest auch auf Italienisch und Spanisch erhältlich ist, falls es einen interessieren sollte.

  • Es ist wohl sehr schwer, der Etty etwas in ihre Nachbarschaft zu stellen. Ich will es aber mal wagen, um dem ein oder anderen einen Tipp zu geben. Es handelt sich bei verlinktem Buch um das Tagebuch von Hélène Berr:


    Kurzbeschreibung (kopiert bei Amazon)
    Im April 1942 spricht die 21-jährige Studentin Hélène in ihrem Tagebuch noch von Lebensfreude, einer hoffnungsvollen Liebe, von Musik und Literatur. Zwei Monate später muss sie den Judenstern tragen und notiert von nun an das unglaubliche Unrecht und den grassierenden Antisemitismus. Sie arbeitet für eine geheime Organisation und hilft Angehörigen von bereits internierten Juden. So weiß sie sehr genau um die Lebensgefahr, aber Flucht käme für sie einem Verrat gleich. 1944 wird sie mit ihren Eltern deportiert und stirbt im April 1945 im KZ Bergen-Belsen.


    Ich konnte vor einiger Zeit im Pariser Memoriale de la Shoah eine Ausstellung (vorübergehend) über ihr Leben sehen. Es ist wichtig und beeindruckend, wenn das unsägliche und unzählige Schicksal so vieler jüdischer Mitmenschen ein Gesicht bekommt.

  • Die Tagebücher der am 30. November 1943 in Auschwitz ermordeten niederländisch-jüdischen Lehrerin Etty Hillesum haben seit ihrer ersten Veröffentlichung viele Generationen von Menschen bewegt und geprägt. Sie sind ein bewegendes Dokument der Menschlichkeit, das heute Menschen überall auf der Welt immer noch beeinflusst.


    Obwohl ihr immer klar war, was sie in Auschwitz erwarten wird, verliert Etty Hillesum nicht ihr Vertrauen in das Gute in jedem Menschen und ihr Vertrauen in Gott und seine unerschöpfliche Liebe.


    Ich selbst hatte Mitte der siebziger Jahre gerade mit dem Theologiestudium begonnen, als ich zum ersten Mal mit den Tagebüchern von Etty Hillesum in Kontakt kam. Eine Stelle darin, in der sie mit Gott spricht, hat mich damals fast von den Füßen gerissen und seitdem nicht nur meinen Glauben, sondern auch meine theologische Praxis stark geprägt:


    „Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist. Ich werde allmählich wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen. Du wirst wohl auch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen mein Glaube dich nicht so kräftig nährt, aber glaube mir, ich werde weiter für dich wirken und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Inneren verjagen.“


    Es gibt nur wenige Stücke Prosa, die mich in meinem Glauben so erschüttert und geprägt haben wie dieses. Es ist gut, dass der Herder-Verlag dieses Buch in einer ansprechenden Neuauflage wieder zugänglich macht.

  • Durch den neuen Beitrag von heute habe ich den Fred nochmals aufgemacht und überflogen und fand die Anfrage von


    Gibt es die Biographie von Sylvie Germain auch auf deutsch? Die würde mich auch sehr interessieren?


    Ich habe es erneut gecheckt... Leider immer noch nicht auf Deutsch erhältlich, doch ich sah, dass es tatsächlich eine italienische Version (siehe unten) und eine spanische gibt. Könnte eventuell für einige zugänglich sein?

  • Durch die heutige Challenge bin ich noch einmal hier gelandet. Leider nützt mir die italienische oder spanische Übersetzung der Biographie auch nicht. Für mich völlig unverständlich, warum es die nicht auf deutsch gibt. :scratch:


    grüße von missmarple

  • @missmarple Ich schaue immer wieder regelmäßig ob das Buch vielleicht schon ins Deutsche übersetzt wurde. Leider immer vergeblich :| Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich ....

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