Sarah Waters - Die Muschelöffnerin/Tipping the Velvet

  • Sarah Waters, Die Muschelöffnerin (Originaltitel "Tipping the Velvet"), Daphne-Verlag, 2002


    Whitstable, ein kleines Küstenstädtchen in England um 1890: Nancy Astley, deren Familie ein Restaurant besitzen, das auf die berühmten Whitstable-Austern spezialisiert ist, hat nicht viel Abwechslung - sie ist hauptsächlich dafür zuständig, für die Küche die Austern zu säubern und vorzubereiten; die einzigen Aufregungen in ihrem Leben sind die gelegentlichen Besuche in der Music Hall von Canterbury - Nancys Schwester Alice ist mit dem Sohn des Direkors befreundet. Nancy ist fasziniert von der Music Hall und den dort auftretenden Künstlern, und sie liebt es, bei der Arbeit die aktuellen Hits zu singen.


    Eines Abends erlebt sie den Auftritt von Kitty Butler, einer jungen Sängerin, die als "male impersonator" auftritt - und Nancy ist hingerissen von Kitty; sie fährt nun jeden Abend nach Canterbury, um Kitty auf der Bühne zu erleben. Dies bleibt nicht unbemerkt, und die beiden Frauen lernen sich näher kennen; Nancy wird Kittys "unoffizielle" Garderobiere, und als Kitty einen Vertrag in London erhält, geht Nancy kurz entschlossen mit ihr. Kitty ist Nancys grosse Liebe, für die sie alles zu tun bereit ist; Nancy ist Kitty zwar auch nicht gleichgültig, doch achtet die Schauspielerin sehr darauf, dass nichts von ihrem Verhältnis in die Öffentlichkeit gelangt, aus Angst, ihre Karriere zu ruinieren. Doch Nancy, die bald darauf als Nan King gemeinsam mit Kitty auftritt, steht eine grosse Enttäuschung bevor: Kitty heiratet ihren Manager.


    Nancy wendet sich abrupt von ihr ab, verfällt in tiefste Depressionen, zieht sich in ein armseliges Zimmerchen zurück und will nichts mehr von der Welt wissen. Erst nach langer Zeit wagt sie sich wieder einmal auf die Strasse; sie merkt bald, dass sie sich in ihrer Kostümierung als Mann sicherer fühlt. Eines Tages wird sie von einem Mann angesprochen, der sie für einen Jüngling hält und sexuelle Dienste von ihr möchte; nach kurzem Zögern akzeptiert Nancy und wird somit ein sogenannter "renter", ein Jüngling, der gegen Bezahlung sexuelle Handlungen an Männern vornimmt. Nancy muss natürlich aufpassen, dass sie nur soweit geht, dass niemand ihre Verkleidung durchschaut.


    Dann wird sie von einer vornehmen Dame angesprochen, Lady Diana, eine reiche Witwe; Nancy geht nach kurzem Zögern auf deren Angebot ein, ihr als eine Art "lebendes Sexspielzeug" zu dienen. Doch auch diese Episode dauert nicht ewig, und wieder steht Nancy mittellos auf der Strasse. Nun ist Florence Banner, die sie früher einmal getroffen und versetzt hatte, ihre letzte Hoffnung. Doch will Florence, die in einer sozialen Institution arbeitet und politisch und sozial sehr engagiert ist, überhaupt etwas von Nancy wissen? Haben diese beiden so unterschiedlichen Frauen - Nancy mit ihrer schillernden Vergangenheit, und die äusserlich eher farblos wirkende und sich ständig in neue Arbeit flüchtende Florence - überhaupt etwas gemeinsam?


    Faszinierende, spannend und mitreissend erzählte, atmosphärisch dichte Geschichte über die Höhen und Tiefen im Leben der Nancy Astley; mit farbigen und vielseitigen Haupt- und Nebenfiguren und ungewöhnlichem Plot. Sehr zu empfehlen für alle Leser/-innen, die eine aussergewöhnliche Story nicht scheuen!


    (Dieses von mir selbst verfasste Review entstammt der von mir geführten Website)

  • Eine interessante Story, die lesbische Liebe und Kultur im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts näher beleuchtet. Dies geschieht am Beispiel der aus einer ärmeren Schicht stammenden Nancy, die sich unsterblich in die Theaterdarstellerin Kitty verliebt und bemerkt, dass sie selbst gern Männerkleidung trägt, wie Kitty das auf der Bühne tut. Die nach einiger Zeit entstehende Beziehung leidet unter Kittys Geheimnistuerei und es ist abzusehen, dass sie kein gutes Ende nehmen wird. Dieser erste Teil des Buches hat mir gut gefallen. Danach ging es deutlich bergab, sowohl mit Nancy (die verständlicherweise sehr leidet), aber irgendwann auch mit meinem Verständnis für ihr Handeln. Ohne Not begibt sie sich in die Prostitution und obwohl lesbisch, scheint ihr das "Bedienen" von Männern keine Probleme zu bereiten, im Gegenteil. Dass sie sich mit der reichen und hartherzigen Lady Diana einlässt, überzeugt schon eher, bietet sie ihr doch Wohlstand und das Ausleben verschiedener sexueller Fantasien. Die Autorin erwähnt hier auch mal Praktiken und Hilfsmittel, die Erotikszenen sind aber nicht wirklich detailliert. Überhaupt sprang der Funke für mich in dieser Beziehung nicht über, das mag an den dargestellten Lebensumständen liegen, die oft eher deprimierend sind oder auch an der Sprachwahl der Autorin, schwer zu sagen. Der letzte Teil ist dann wieder nett, wieder was fürs Herz und auch ein wenig politisch-soziale Gesellschaftskritik wird eingeflochten.