Veronika Serwotka & Laura Schmolke - Als die Menschen vergaßen zu leben

  • Trance (Als die Menschen vergaßen zu leben) - Veronika Serwotka & Laura Schmolke


    Tagträumer Verlag
    280 Seiten
    Dystopie
    Einzelband
    Erscheint am 15. März. 2018


    Inhalt:


    Eine dystopische Welt, die kein Erbarmen zeigt.
    Eine Regierung, die sich selbst betrügt.
    Eine Frau, die die Zeit befreit.


    Warum wir damals unter die Erde flüchten mussten, weiß heute niemand mehr. Wir besitzen nur noch Legenden – und unsere Existenz.
    Unsere Erinnerungen, unsere Identität, unsere Lebenslust tauschten wir gegen kleine weiße Tabletten ein. Ein Medikament, das sich Elysium nennt und zwar ewiges Leben verleiht, uns jedoch in eine Art Trance fallen ließ.


    Doch als ich das Tagebuch finde, verändert sich für mich alles.
    Ich stelle wieder Fragen. Wer bin ich? Warum wollte ich vergessen?
    Wer tut uns all das hier an?
    Ich heiße Kimberly. Und ich bin aus der Trance erwacht.


    Meinung:


    Stell dir vor du könntest ewig leben.
    Stell dir vor es gäbe ein Heilmittel gegen alle Krankheiten dieser Welt.
    Stell dir vor du hättest Zeit, Zeit zu tun was auch immer du willst.
    Stell dir auch vor, dass das alles einen Preis hat.
    Einen Preis, den dir niemand nennt, weil dann jeder gesunde Mensch „Nein“ gesagt hätte.
    Stell dir also vor, dass du den Preis nicht kennst.
    Und nach Jahren der Unsterblichkeit dir dieser Preis auch egal ist.


    Denn der Preis heißt „Vergessen“.
    Der Preis für ewiges Leben sind deine Erinnerungen an die früheren.
    Die Erinnerung an dich selbst.
    Deine Persönlichkeit, dein Sein, deine Familie, Freunde, deine Liebe.


    Kimberly ist eine „Untere“, denn die Welt dort oben ist böse.
    Sie verdient ihr Geld mit Nähen, arbeitet, isst, schläft, arbeitet, isst, schläft.
    Ein ewiger Kreislauf. Sie hinterfragt nichts, sie denkt nicht, sie existiert nur.
    Das ist okay, solange genug Elysium sie am Leben erhält.


    Gleich zu Beginn des Buches hat mich der Schreibstil des Autorenduos in seinen Bann gezogen. Er mutet wahnsinnig poetisch an, die grau in grau Atmosphäre kriecht förmlich aus den Zeilen und lullt den Leser ein, zieht ihn runter in die Unterwelt und hält ihn dort gefangen.
    Ich muss sagen, bereits am Anfang war das Ganze sehr bedrückend und trist, aber doch irgendwie spannend, eben weil es einen so berührt und umhüllt hat. Bis zu dem Moment, wo die Protagonisten in die Oberwelt gelangen wirkt alles wie eine richtig gute Dystopie auf mich.


    »Worte finden den Weg selbst in ein vollkommen verschlossenes Herz.
    Sie können die Trance durchdringen, Menschen berühren, auch wenn nichts anderes es mehr kann.
    Worte können Vertrauen heraufbeschwören, Freude, Schmerz. Das macht sie gefährlich. Aber auch wunderbar.
    Denn sie können nicht nur als Waffe gebraucht werden, sondern auch als Sonnenstrahl in dieser düsteren Unterwelt.«
    (Pos. 1307 von 5416)


    Die Atmosphäre und das Unbekannte, sowie die Wortwahl, hatten eine Macht auf mich, der ich mich nicht entziehen konnte.
    Und auch Kimberly fand ich faszinierend.
    Man begleitet sie als Leser auf der Suche nach ihren Erinnerungen. Denjenigen, die das Medikament für ewiges Leben „Elysium“ ihr genommen haben. Sie weiß nicht, wer sie ist, als sie ein Tagebuch findet, das sie ebenfalls auf ihrer Reise begleitet und von enormer Wichtigkeit ist.


    Bis sie in der Ubahn auf „Die Engel“ trifft, hat sie keinerlei soziale Kontakte, geschweige denn Beziehungen. Während Kim also sich selbst und immer wieder Neues entdeckt, kommen nach und nach die Erinnerungen zurück. Bruchstückhaft, sodass ich mich als Leser erneut frage, wo ist der Zusammenhang? Was hat das jetzt mit ihrer Reise, ihrem Leben zu tun?
    Wer ist sie? Ich wollte wirklich dringend hinter ihr Geheimnis kommen.


    Die Welt, die die Autorinnen erschaffen haben ist nicht ganz so dystopisch, wie ich mir das ursprünglich vorgestellt hatte, aber trotzdem wirkungsvoll.
    Die Geschichte spielt gefühlt in ferner Zukunft, schätzungsweise irgendwo ab 2470 - so genau weiß man das nicht. Es gibt eine Ober- und eine Unterwelt. Grob gesagt heißt das: Unten Elysiumslethargie, oben auch, aber weit weniger verbreitet.


    Kims Reise ist - meiner Meinung nach - nicht ganz so spektakulär und actiongeladen, wie man das von anderen Dystopien kennt.
    „Die Engel“ - selbsternannte Rebellen, die alle aus der Trance, die Elysium verursacht, erwacht sind - wollen die Regierung stürzen um den Menschen wieder eine Wahl zu geben. Ewiges Leben ohne zu leben oder die Freude daran alles zu spüren.


    »Ich bin ein Sturm«, flüstere ich.
    »Und Stürme darf man nicht einsperren. Ich bin keine Sklavin.
    Und ich bin auch nicht abhängig von einem Medikament. Ich lebe. Und ich bin frei.«
    Ich folge dem Engel.
    (Pos. 908 von 5416)


    Tiger, Leopard, Angel, Sky, Ocean, Grandma, Rose, Eagle, Dragon, Butterfly, Grey und Snow - sie alle verwenden Decknamen, teils, um ihre Identität zu schützen, teils weil sie sich nicht an ihren richtigen Namen erinnern.
    Jeder hat eine Vergangenheit und jeder von ihnen könnte ein Verräter sein.
    Denn auf ihrer Reise in die Oberwelt sterben die „Engel“ wie die Fliegen.
    Wem kann man trauen? Wer weiß mehr als er vorgibt zu wissen?


    Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass man „Trance“ auch als Gesellschaftskritik sehen kann. Aber das kann man so oder so interpretieren. Ich, für meinen Teil, war gefesselt von der authentischen, mitreißenden Selbstfindungsreise.
    Vom rebellischen Kerngedanken der „Engel“.
    Von den Auswirkungen Elysiums.
    Von „Joys“ Tagebucheinträgen und ihrem Empfinden.
    Es war, als würde ich die Welt nochmal mit ganz anderen Augen sehen.


    Das einzige Manko, auch wenn das nicht unbedingt eine Dystopie ausmacht, war der fehlende Romantikpart. Es gibt kleine, winzige Momente zwischen zwei Protagonisten, aber die fallen kaum ins Gewicht.
    Und auch das Ende war mir für den vorangegangenen Inhalt ein wenig zu unspektakulär. Kims Erinnerungen betreffend. Da hätte ich gern mehr „Wumms“ hinter gehabt. Einen größeren Knall.
    Kurz saß ich in meinem Sessel und dachte: „Echt jetzt? Deshalb geißelt sie sich so?“ Aber das ist ebenfalls Geschmackssache.


    Fazit:


    „Trance“ konnte mich fast durchweg mit seinem Inhalt begeistern.
    Ich war begierig darauf mehr von Joys wunderschönen Tagebucheinträgen zu lesen, mitzuerleben, wie sie die Welt entdeckt, lacht, weint und Freunde findet. Gleichzeitig habe ich immer auf den nächsten Erinnerungschub von Kim gehofft, damit ich endlich weiß, wer sie ist.
    Diesbezüglich haben die Autorinnen wirklich einen hohen Spannungsbogen gebaut und gehalten.


    Was den Rest der Geschichte angeht, die ist nicht minder interessant, wenn auch vermutlich nicht für jeden geeignet. Eine Story, die mehr zum Nachdenken anregt, als dass sie mit „Mindblowing“-Momenten aufwarten kann.
    Für all jene, die gern düstere Dystopien zum Miträtseln lesen und auf romantische Gefühle verzichten können.


    Bewertung:


    ⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)