Inhalt:
Mondsee, 1944 – Leben und Lieben im Schatten des 2. Weltkrieges in Österreich.
Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch? Arno Geiger erzählt von Veits Alpträumen, vom "Brasilianer", der von der Rückkehr nach Rio de Janeiro träumt, von der seltsamen Normalität in diesem Dorf in Österreich – und von der Liebe. Ein herausragender Roman über den einzelnen Menschen und die Macht der Geschichte, über das Persönlichste und den Krieg, über die Toten und die Überlebenden. (Quelle: Hanser Literaturverlage)
Autor:
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005) für Es geht uns gut, den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011) für Der alte König in seinem Exil und den Alemannischen Literaturpreis (2017). (Quelle: Hanser Literaturverlage)
Positive / Negatives / Fazit:
Von Arno Geiger habe ich schon Einiges gelesen. Seit seinen bewegenden, Generationen übergreifenden Roman Es geht uns gut bin ich von seinem ausgefeilten Stil voll eingenommen. Er ist für mich eine der wichtigsten österreichischen Stimmen in der Literatur.
In Unter der Drachenwand schildert Arno Geiger das letzte Kriegsjahr 1944 in Österreich. Der 24-jährige Tagebuch schreibende Stabsgefreite Veit Kolbe wird zum Ich-Erzähler. Eine schwere Granatverletzung an Bein und Oberkiefer hat ihn von der Ostfront auf Genesungsurlaub zurück zu den Eltern nach Wien gebracht. Doch desillusioniert wie er ist, stößt ihn die Atmosphäre im Elternhaus ab. Er sucht sich als Refugium den Ort Mondsee am Mondsee im Salzkammergut, unter einem schroffen Felsen – der Drachenwand, wo ein Onkel als Dorfpolizist waltet.
In dieser neuen Umgebung lernt Veit Kolbe die Menschen kennen, bei denen er genesen wird, die doch alle den Krieg in sich herumtragen. Seine Quartiersfrau, raffgierig, psychisch labil, und seine Zimmernachbarin aus Darmstadt, eine junge Mutter mit Säugling, beide Frauen haben Soldaten als Ehemänner. Ein Gasthof am Ort beherbergt eine Wiener Mädchenschulklasse auf Kinderlandverschickung, deren Lehrerin im Drill die Nachrichten von der Front ausblendet.
Die Kriegsverletzungen sind nicht nur körperlich auch unter plötzlich auftretenden Panikattacken leidet der junge Genesende. Der Amtsarzt verschreibt Veit Kolbe nur allzu willig das Aufputschmittel der Wehrmacht Pervitin (heute als Partydroge Crystal Meth bekannt). Heilen wird ihn das Psychopharmakon nicht, Menschen wie der „Brasilianer“, einfach geerdeter Bruder der Vermieterin, und die Darmstädterin werden ihm zu Eigenverantwortung und neuer Gesundheit verhelfen, auch wenn das Rückkehr an die Front bedeutet.
Zwischen den Tagebucherzählungen lässt Arno Geiger in Briefen weitere Protagonisten zu Wort kommen.
Die Mutter der Darmstädterin schreibt über den Alltag in einer reichsdeutschen Stadt insbesondre nach schweren Bombardierungen.
Der Wiener Cousin eines der verschickten 13-jährigen Mädchen sendet zarte Liebesbriefe. Sein Leben verläuft in ganz anderen Bahnen als wie das einer Wiener Familie jüdischen Glaubens.
Oskar Meyer zögert fast zu lange Wien zu verlassen, er beschreibt einer im neutralen Ausland lebenden Cousine von seinen Schwierigkeiten; ein Sohn darf auf einen lebensrettenden Kindertransport nach Großbritannien, mit Frau und jüngerem Sohn flieht er in letzter Minute ins Budapest der Hungaristen.
Ein Nebeneinander voll Horror und Hoffnung macht das Besondere dieses großartigen Romans aus.
Arno Geiger schildert glaubhaft den Alltag im letzten Kriegsjahr, dem täglichen Leben zu Zeiten der großen Geschichte. Er hat die Widersprüchlichkeit der Protagonisten sehr gut herausgearbeitet. Ob Nazi oder Mitläufer, sie zeigen alle widersprüchliche persönliche Züge, eben authentisch, lebensnah. In die Gefühlswelt der Nazis einzutauchen, hat sich Arno Geiger allerdings erspart.
Nicht nur durch den Perspektivwechsel – Tagebuch, Briefe dreier Absender – wirkt der Roman abgehackt. Ein Schrägstrich taucht immer wieder mitten in den Paragraphen auf, ein Satzzeichen, das zum kurzen Innehalten beim Lesen, Luftholen beim Vorlesen einlädt.
Für Literarisches Viellesende birgt Unter der Drachenwand einige Aha-Erlebnisse, literarische Reminiszenzen an andere Bücher. Arno Schmidt lässt grüßen, der Schrägstrich als Symbol für momentanes Innehalten tritt auch in seinem Werk auf. Veit Kolbes Onkel, ein kettenrauchender, Pflicht bewusster Dorfpolizist, hat einen norddeutschen Kollegen bei Siegfried Lenz in der Deutschstunde. Wenn die bombenschweren Geschwader über Mondsee fliegen, muss ich an die Zürcher Vorlesung von W.G. Sebald denken.
Die Sprache der Protagonisten ist sachlich egal ob in den Tagebuchaufzeichnungen oder in den unprätentiösen Briefen. Eine von vielen kleinen erzählten Anekdoten soll als Beispiel zitiert werden:
„Einmal in Russland fanden Kameraden und ich auf einer Wiese einen Totenkopf, ein beunruhigender Anblick, wir spielten mit dem Totenkopf Fußball, ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir taten es aus Respektlosigkeit gegen den Tod, nicht aus Respektlosigkeit gegen den Toten. Der Tote hätten wir selber sein können. Wir traten den Totenkopf im hohen Bogen über die Wiese, und für einige Minuten gab der Krieg uns frei.“
Krieg hinterlässt immer Spuren in den Seelen der Menschen, egal ob direkter oder indirekter Kriegsteilnehmer; hier ließ sich eine Brücke zu den aktuellen Kriegen (Jahrgang 2018) schlagen.
„19 years later“, nein, aber auf den letzten Seiten berichtet Arno Geiger was heute aus seinen Protagonisten geworden ist. Auf den Kardinalfragen, die beim Dorfpolizisten von Mondsee an der Wand hingen „Wen hat wer wann womit wie warum umgebracht?“ kann der Schriftsteller nicht antworten, trotzdem verbindet er genial Literatur mit dem realen Leben. Als ob seine Figuren Zeitzeugen wären, notiert er entspannt, wie sie den Krieg überlebten oder auch nicht, und somit hochbetagt als Quelle für das Erzählte hätten dienen können.
Hörbuch ungekürzt vorgelesen von
Torben Kessler, Michael Quast, Cornelia Niemann, Torsten Flassig
Hörbuchverlag Hamburg, 2018, bei audible.de
Spieldauer: 14 Stunden und 22 Minuten
Vier Protagonisten werden in dem Roman zu Ich-Erzählern, vier Vorleser teilen sich den Text. Sie verstehen unprätentiös und exakt das geschriebene Wort in ein mitreißendes Hörbuch umzuwandeln.
Ein kleiner Wermutstropfen war für mich ganz persönlich das Fehlen des typisch österreichischen Zungenschlags. Dass ein Stabsgefreite nach fünf Kriegsjahren bei der Wehrmacht hochdeutsch sprich, kann ich verstehen. Aber die so zarten Liebesbriefe eines 16-jähriger Wiener Schülers und erst späterer junger Soldat wünschte ich mir mit Wiener Akzent gelesen.
Es bleibt ein durchweg gelungenes und daher voll empfehlenswertes Hörbuch.