Arno Geiger – Unter der Drachenwand

  • Inhalt:
    Mondsee, 1944 – Leben und Lieben im Schatten des 2. Weltkrieges in Österreich.
    Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch? Arno Geiger erzählt von Veits Alpträumen, vom "Brasilianer", der von der Rückkehr nach Rio de Janeiro träumt, von der seltsamen Normalität in diesem Dorf in Österreich – und von der Liebe. Ein herausragender Roman über den einzelnen Menschen und die Macht der Geschichte, über das Persönlichste und den Krieg, über die Toten und die Überlebenden. (Quelle: Hanser Literaturverlage)


    Autor:
    Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005) für Es geht uns gut, den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011) für Der alte König in seinem Exil und den Alemannischen Literaturpreis (2017). (Quelle: Hanser Literaturverlage)


    Positive / Negatives / Fazit:
    Von Arno Geiger habe ich schon Einiges gelesen. Seit seinen bewegenden, Generationen übergreifenden Roman Es geht uns gut bin ich von seinem ausgefeilten Stil voll eingenommen. Er ist für mich eine der wichtigsten österreichischen Stimmen in der Literatur.


    In Unter der Drachenwand schildert Arno Geiger das letzte Kriegsjahr 1944 in Österreich. Der 24-jährige Tagebuch schreibende Stabsgefreite Veit Kolbe wird zum Ich-Erzähler. Eine schwere Granatverletzung an Bein und Oberkiefer hat ihn von der Ostfront auf Genesungsurlaub zurück zu den Eltern nach Wien gebracht. Doch desillusioniert wie er ist, stößt ihn die Atmosphäre im Elternhaus ab. Er sucht sich als Refugium den Ort Mondsee am Mondsee im Salzkammergut, unter einem schroffen Felsen – der Drachenwand, wo ein Onkel als Dorfpolizist waltet.


    In dieser neuen Umgebung lernt Veit Kolbe die Menschen kennen, bei denen er genesen wird, die doch alle den Krieg in sich herumtragen. Seine Quartiersfrau, raffgierig, psychisch labil, und seine Zimmernachbarin aus Darmstadt, eine junge Mutter mit Säugling, beide Frauen haben Soldaten als Ehemänner. Ein Gasthof am Ort beherbergt eine Wiener Mädchenschulklasse auf Kinderlandverschickung, deren Lehrerin im Drill die Nachrichten von der Front ausblendet.


    Die Kriegsverletzungen sind nicht nur körperlich auch unter plötzlich auftretenden Panikattacken leidet der junge Genesende. Der Amtsarzt verschreibt Veit Kolbe nur allzu willig das Aufputschmittel der Wehrmacht Pervitin (heute als Partydroge Crystal Meth bekannt). Heilen wird ihn das Psychopharmakon nicht, Menschen wie der „Brasilianer“, einfach geerdeter Bruder der Vermieterin, und die Darmstädterin werden ihm zu Eigenverantwortung und neuer Gesundheit verhelfen, auch wenn das Rückkehr an die Front bedeutet.


    Zwischen den Tagebucherzählungen lässt Arno Geiger in Briefen weitere Protagonisten zu Wort kommen.
    Die Mutter der Darmstädterin schreibt über den Alltag in einer reichsdeutschen Stadt insbesondre nach schweren Bombardierungen.
    Der Wiener Cousin eines der verschickten 13-jährigen Mädchen sendet zarte Liebesbriefe. Sein Leben verläuft in ganz anderen Bahnen als wie das einer Wiener Familie jüdischen Glaubens.
    Oskar Meyer zögert fast zu lange Wien zu verlassen, er beschreibt einer im neutralen Ausland lebenden Cousine von seinen Schwierigkeiten; ein Sohn darf auf einen lebensrettenden Kindertransport nach Großbritannien, mit Frau und jüngerem Sohn flieht er in letzter Minute ins Budapest der Hungaristen.
    Ein Nebeneinander voll Horror und Hoffnung macht das Besondere dieses großartigen Romans aus.


    Arno Geiger schildert glaubhaft den Alltag im letzten Kriegsjahr, dem täglichen Leben zu Zeiten der großen Geschichte. Er hat die Widersprüchlichkeit der Protagonisten sehr gut herausgearbeitet. Ob Nazi oder Mitläufer, sie zeigen alle widersprüchliche persönliche Züge, eben authentisch, lebensnah. In die Gefühlswelt der Nazis einzutauchen, hat sich Arno Geiger allerdings erspart.


    Nicht nur durch den Perspektivwechsel – Tagebuch, Briefe dreier Absender – wirkt der Roman abgehackt. Ein Schrägstrich taucht immer wieder mitten in den Paragraphen auf, ein Satzzeichen, das zum kurzen Innehalten beim Lesen, Luftholen beim Vorlesen einlädt.


    Für Literarisches Viellesende birgt Unter der Drachenwand einige Aha-Erlebnisse, literarische Reminiszenzen an andere Bücher. Arno Schmidt lässt grüßen, der Schrägstrich als Symbol für momentanes Innehalten tritt auch in seinem Werk auf. Veit Kolbes Onkel, ein kettenrauchender, Pflicht bewusster Dorfpolizist, hat einen norddeutschen Kollegen bei Siegfried Lenz in der Deutschstunde. Wenn die bombenschweren Geschwader über Mondsee fliegen, muss ich an die Zürcher Vorlesung von W.G. Sebald denken.


    Die Sprache der Protagonisten ist sachlich egal ob in den Tagebuchaufzeichnungen oder in den unprätentiösen Briefen. Eine von vielen kleinen erzählten Anekdoten soll als Beispiel zitiert werden:
    „Einmal in Russland fanden Kameraden und ich auf einer Wiese einen Totenkopf, ein beunruhigender Anblick, wir spielten mit dem Totenkopf Fußball, ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir taten es aus Respektlosigkeit gegen den Tod, nicht aus Respektlosigkeit gegen den Toten. Der Tote hätten wir selber sein können. Wir traten den Totenkopf im hohen Bogen über die Wiese, und für einige Minuten gab der Krieg uns frei.“


    Krieg hinterlässt immer Spuren in den Seelen der Menschen, egal ob direkter oder indirekter Kriegsteilnehmer; hier ließ sich eine Brücke zu den aktuellen Kriegen (Jahrgang 2018) schlagen.


  • Über 10 Jahre lang.

    Kann es sein, dass er ZU lange an dem Buch schrieb? Dass es für ihn und Leser (wie mich) besser gewesen wäre, wenn er sich Grenzen gesetzt hätte?
    Man kann anscheinend auch in lakonischem Stil geschwätzig sein.

    Es muss schwierig sein, die Figuren plötzlich loszulassen.

    Das merkt man. Der Abschied des Autors von seinen Figuren scheint endlos.


    70 Seiten vor dem Ende denke ich an Abbruch. Das Buch hat wunderbare Passagen, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Aber es kommt einfach nicht von der Stelle. Mir scheint wirklich, dass Geiger es nicht geschafft hat, sich von seinen Figuren und ihren Schicksalen zu lösen und eine runde Sache aus seinem Roman zu machen.
    Ich weiß, der Feuilleton hechelt vor Begeisterung, bei Amazon findet sich eine halbe Seite voller Lobeshymnen, und 5 Sterne scheinen das Mindeste zu sein. Und bei mir kommt nichts an.


    Den Sinn der Einschübe verstehe ich nicht ganz. Die Geschichte des Mädchens, gut, die passiert im Umfeld des Ich-Erzählers, aber das, was Oskar Meyer über seine Flucht schreibt, hat keine Anbindung zum Hauptstrang. Oder die Anbindung kommt in den letzten 70 Seiten. Oder Geiger will möglichst viele exemplarische Schicksale unter Naziherrschaft und Krieg in sein Buch packen.


    Ich finde einfach keinen Zugang. :(:cry:

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • @Marie Auf den letzten 70 Seiten passiert noch eine Menge. Veit Kolbe wird den jungen Briefeschreiber treffen und, auch wenn nur aus der Ferne, Oskar Meyers ansichtig werden.


    Die Briefe Oskar Meyers haben nichts direkt mit dem Erzählstrang des Tagebuchschreibers Veit Kolbe zu tun. Aber wie Arno Geiger meine ich auch, dass man keinen Roman über das Jahr 1944 in Österreich schreiben kann ohne auf das Schicksal der jüdischen Bevölkerung einzugehen. Daher haben die Briefe Oskar Meyers zur Flucht seiner Familie Daseinsberechtigung in "Unter der Drachenwand". Exemplarisch ist das Schicksal der Familie Meyer mMn in keiner Hinsicht, nur wenigen gelang die Flucht aus Wien, es sind vier Einzelschicksale.


    Genial erschienen mir die allerletzten Seiten des Romans, wenn Arno Geiger Literatur, Erzählung, Fabulierkunst und reales Leben miteinander verwebt.

  • Vielen Dank für Deine Aufmunterung, @Yurmala. Auf alle Fälle haben Deine Sätze mich bewegt, das Buch zu Ende zu lesen.


    Es ist nicht so, dass meine Probleme weniger wurden. Ich habe immer noch an den letzten Seiten gekaut, aber die Einschübe, deren Sinn für den großen Zusammenhang mir unklar war, haben sich eingefügt und ihren Platz in der Handlung gefunden.
    Mir ist immer noch nicht klar, warum ich keinen richtigen Zugang fand, denn Geiger macht alles richtig, was ich normalerweise Autoren ankreide: er zeichnet seine Figuren individuell, ihr Handeln und Denken entspricht den Charakterzeichnungen; das "show, don't tell" beherrscht er; er stattet den Erzähler mit Emotionen aus, die noch Raum lassen für die des Lesers; Innen und Außen entsprechen einander ohne aufdringlich zu wirken. Eigentlich kann ich, literarisch betrachtet, nur Gutes sagen ... der Rest scheint mein persönliche Chose zu sein.


    Nachdem ich mich durch x Seiten von Rezensionen ohne eine kritische Äußerung gelesen habe, bin ich ziemlich einsam. Ein "epochaler Weltkriegsroman" ging an mir vorbei.


    Dass ich keine Bewertung geben kann, ist sicher jedem verständlich.


    Ein Foto der Drachenwand mit Mondsee.

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  • Arno Geiger hat bei der Lesung gesagt, er wollte keinen Kriegsroman schreiben, sondern einen Antikriegsroman und was anderes könnte ein Antikriegsroman sein, als ein Liebesroman.


    Diese Theorie hat mir sehr gut gefallen und er hat sie großartig umgesetzt, wie ich finde. Mich hat das Buch tief berührt und begeistert. Veit, Margot, Oskar, Nanni, Kurt ... sie sind mir alle sehr ans Herz gewachsen.


    Allerdings muss ich sagen, ich verstehe Maries Einwände. Ich weiß nicht, ob mir das Buch so gut gefallen hätte, wenn ich die Lesung nicht erlebt, wenn ich die Aussagen von Arno Geiger nicht gehört hätte, wenn ich nicht gesehen hätte, wie nahe ihm selbst das Buch geht.

  • Veit Kolbe wurde kurz vor Weihnachten 1943 in Russland schwer verwundet und nun hält er sich am Mondsee unter der Drachenwand auf, um sich zu erholen. Er ist erschöpft und ausgelaugt und hofft, dass er nicht mehr zurück an die Front muss. In seinem Quartier ist auch die Darmstädterin Margot, die mit ihrem Kind hier gelandet ist. Mit der Kinderlandverschickung ist die Lehrerin Margarete und über dreißig Mädchen aus Wien in diesen Ort gekommen. Dann ist da auch noch der Gärtner, der davon träumt, nach Brasilien zurückzugehen. Veit wird ein Jahr hier verbringen und der Leser lernt diese Menschen kennen, die hoffnungslos sind und einfach nur überleben wollen. Aber da ist auch Trude Dohm, die Zimmerwirtin, die immer noch ihre Durchhalteparolen von sich gibt.

    Die ganze Zeit spürt man die Hoffnung, die die Menschen haben auf eine bessere Zeit nach dem Kriegsende. Aber es ist auch eine unterschwellige Bedrohung spürbar. Es ist ein melancholisches Buch,

    Veit hat so viel mitgemacht, auch wenn er nicht in der vordersten Linie dabei war, dass er nicht mehr an die Wehrmacht und nicht an den Sieg glaubt. Er will nicht mehr an die Front und versucht mit allen Mitteln, seine Erholungsphase zu verlängern. Dabei helfen im Margot und die „Panzerschokolade“. Doch für Veit ist der Krieg noch nicht zu Ende, denn es kommt ein neuer Einberufungsbefehl.

    Arno Geiger bringt unter der Drachenwand die unterschiedlichsten Menschen zusammen und wir dürfen ihre Gedanken, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen kennenlernen.

    Es ist keine leichte Lektüre und mehr als einmal musste ich schlucken aufgrund des Pragmatismus, mit dem die Menschen versuchten, in diesen Ausnahmezeiten zu überleben.

    Ein packender und sehr eindringlicher Roman, der noch lange nachhallt.

  • Inhalt

    Der Icherzähler Veit Kolbe ist bisher sein ganzes Leben als Erwachsener Soldat gewesen. Nach einer Verwundung im Russslandfeldzug wird er 1944 in ein Bergdorf unterhalb der Drachenwand zur Genesung geschickt, in dem sein Onkel Johann Gendarmerieposten-Kommandant ist. Veit soll und will dem Onkel nicht auf der Tasche liegen, nimmt dessen Ratschläge jedoch gern an, wie er nun sein Leben als Untermieter organisieren kann. Zunächst ist der junge Mann froh, dass er die tagelange Reise im Lazarettzug überlebt hat. Ein kurzer Besuch bei seinen Eltern in Wien zeigte ihm, dass der Krieg die Ehe seiner Eltern verändert hat und das Verhältnis zu seinem Vater schwierig bleiben wird. Erst allmählich kann Veit die drängendsten Erinnerungen einordnen, die Flüchtlingsströme und die Vernichtung Behinderter, ohne die es das Lazarett nicht gegeben hätte, in dem er behandelt wurde.


    Außer Veit wohnt bei seiner Vermieterin Margot, eine „Reichsdeutsche“ aus Darmstadt mit ihrem Baby, deren Mann an der Front ist. Die beiden Untermieter und „der Brasilianer“, der fernwehgeplagte Besitzer der örtlichen Gärtnerei, bilden die Außenseiter im Dorf, deren Lebenswandel genauestens beobachtet wird. In einem Ferienlager sind Schulkinder aus Wien mit ihren Lehrerinnen evakuiert. Weitere Handlungsstränge entstehen aus Briefen, die zwischen einem Mädchen aus dem Ferienlager und ihrem Liebsten gewechselt werden, zwischen Margot und ihrer Mutter, zwischen Margots Eltern und zwischen Oskar Meyer, einem Wiener Juden, und seiner Cousine in Südafrika. Die Briefe waren damals einzige Kontaktmöglichkeit, sie wurden sehnlichst erwartet, von der Zensur verstümmelt, sind aber auch Zeitdokumente einer für den Einzelnen zermürbenden Mangelwirtschaft. Die Briefe zwischen Margots Eltern deuten einen gewaltigen Wandel im Männer- und Frauenbild jener Zeit an; denn noch macht sich niemand klar, dass die Kriegsheimkehrer in ausgebombte Städte zurückkehren und Tausende von ihnen körperlich und seelisch versehrt sein werden. Die Handlungsfäden, die sich aus den Briefen ergeben, werden am Ende miteinander verknüpft. Für ein Jahrzehnt, in dem viele Menschen lange warten mussten, bis das Schicksal ihrer Angehörigen geklärt werden konnte, eine überzeugende Symbolik.


    Es sind banale Alltagsproblem, die Margot und Veit gemeinsam zu stemmen versuchen. Die Tomaten in der Gärtnerei sollen z. B. angebunden werden, aber weit und breit sind keine Fäden aufzutreiben. Diese kleinen Nebenhandlungen verdeutlichen besonders eindringlich die Absurdität eines jeden Krieges und entlarven den moralischen Niedergang, wenn offen oder durch Denunziation ein anderer an die Front und damit in den sicheren Tod gewünscht wird.


    Fazit

    Anfangs habe ich mich skeptisch gefragt, ob ein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus geschrieben werden muss. Das liegt u. a. daran, dass nach 1960 geborene Autoren Figuren aus der Generation ihrer Großeltern bisher (für meinen Geschmack) selten überzeugend charakterisiert haben. Arno Geiger zeichnet hier für mich überraschend feinfühlig einen kriegsversehrten 24-Jährigen, der jederzeit damit rechnen muss, wieder für kriegstauglich erklärt und an die Front in Russland zurückgeschickt zu werden. Mit wenigen Sätzen schafft Geiger ein Dorf als Mikrokosmos, in dem unter dem Segel einer fanatischen Ideologie die Masken fallen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Wir kommen

    :study: -- Damasio - Gegenwind:study:

    :musik: -- Falconer - Das Rabenmädchen (1.)


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch? Arno Geiger erzählt von Veits Alpträumen, vom "Brasilianer", der von der Rückkehr nach Rio de Janeiro träumt, von der seltsamen Normalität in diesem Dorf in Österreich – und von der Liebe.

    es gibt viele Bücher die den zweiten Weltkrieg zum Thema haben aber ich habe noch keins gelesen das den einzelnen Menschen , seine Gefühle und Gedanken so in den Mittelpunkt stellt wie es dieser Autor gemacht hat.

    Es gibt keine großen Ereignisse wenn man den allgegenwärtigen Krieg außer acht lässt. Trotzdem ist das Buch spannend, die Hoffnung der Menschen irgendwann friedlich wieder miteinander vereint zu sein zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch selbst unterschiedliche politische Ansichten ändern daran nichts. In allen Büchern von Arno Geiger lernt man die einzelnen Menschen persönlich kennen und muss sich mit ihren Gedanken und Gefühlen, die geäußert werden, auseinander setzen. Keine einfache Aufgabe da wir schon lange in Frieden leben und Krieg nur aus Büchern und Nachrichten kennen.

  • Mit 24 Jahren hat Veit Kolbe schon mehr gesehen und erlebt, als ihm lieb ist. Er hat eine schwere Verwundung an der Ostfront überlebt und darf nun auf Genesungsurlaub nach Hause, doch im Elternhaus ist es ihm zu eng und zu spießig geworden, er glaubt schon lange nicht mehr an den Krieg und an den Führer und kann die Sprüche seines Vaters nicht mehr ertragen. Also fährt er zu seinem Onkel ins beschauliche Mondsee, der dort die kleine Polizeidienststelle leitet, nimmt sich ein nicht sehr komfortables Zimmerchen bei einer ewig grantigen Vermieterin und versucht, wieder zu sich zu finden, während seine körperlichen Verletzungen zu heilen beginnen.


    In der gleichen Unterkunft wohnt auch die etwa gleichaltrige Margot, die eigentlich aus Darmstadt kommt und nun mit ihrem Baby in Mondsee lebt. Den Vater der Kleinen hat sie kaum gekannt, als sie ihn heiratete, und nun steht er schon seit einer halben Ewigkeit mit seiner Einheit irgendwo in Ostpreußen und ist für Margot kaum mehr als eine vage Erinnerung.


    Als Schicksalsgenossen kommen sich Veit und Margot freundschaftlich näher, während im nahen Lager für "verschickte" Mädchen die dreizehnjährige Nanni nach ihrem drei Jahre älteren Cousin Kurt schmachtet und eine jüdische Familie sich eingestehen muss, dass es wohl doch besser gewesen wäre, schon viel früher zu fliehen, denn die tödliche Schlinge des Antisemitismus zieht sich unerbittlich zu.


    Es fällt mir gar nicht so leicht, in Worte zu fassen, warum mich dieses Buch so berührt und beeindruckt hat. Vielleicht ist es hauptsächlich Geigers Art, sich in die Protagonisten hineinzuversetzen, die Umstände gleichzeitig lakonisch und detailreich zu beschreiben und dabei kein Blatt vor den Mund zu nehmen, ohne aber zum Voyeur zu werden. Veits Ich-Perspektive ist durchsetzt mit Gedanken, die sehr erwachsen für sein Alter wirken, was kein Wunder ist bei dem, was er in so jungen Jahren wie so viele in jener Zeit schon erleben und erleiden musste.


    Man begleitet seinen Weg etwa ein Jahr lang und hofft inständig mit, dass er nicht wieder in den Einsatz geschickt wird. Geiger versteht es sehr gut, auch ohne viele Szenen von der Front deutlich zu machen, wie sinnlos junge Menschen im Krieg verheizt wurden, für eine unsägliche Ideologie und einen größenwahnsinnigen Demagogen, und dass es nicht feige, sondern höchst menschlich ist, nicht wieder in den Kampf ziehen zu wollen, um einen Krieg fortzusetzen, unter dem jeder leidet.


    Das Leid der Zivilbevölkerung wird ebenso deutlich - im Alltag, weil die Lebensmittel nicht reichen und auch alles andere knapp ist, aber auch durch verheerende Luftangriffe wie den auf Darmstadt im September 1944 -, und nicht zuletzt das Grauen des Holocaust.


    Nie hatte ich das Gefühl, dass Geiger die Geschichte hier sensationslüstern ausschlachtet, er konzentriert sich immer auf das Menschliche, die Psychologie und die Frage, was solch schreckliche Zeiten mit den Menschen machen und wie es gelingen kann, im Angesicht des Schlimmsten zu überleben, ohne durchzudrehen.


    Ein leises, aber sehr eindrucksvolles Buch, das ich gerne zu meinen Jahreshighlights zähle.

  • Bei einigen guten Rezis – danke auch an @Yurmala ! - in diesem Fred füge ich keine andere hinzu, nur ein paar Bemerkungen :


    Insgesamt gesehen gefiel mir dieser Roman ziemlich gut, wenn es auch für mich kein Fünf-Sterne-Buch wurde. Was mich besonders beeindruckt ist der authentische Ton, die gut und glaubwürdig hinübergebrachte Atmosphäre der verschiedenen Rahmenbedingungen jedes einzelnen Erzählstranges, ob es nun die Erfahrungen unter Bombenangriffen, die Verfolgung von Juden, ein Verliebtsein von zwei Heranwachsenden etc sein mögen. Ich meine, dass Geiger sich sehr gut hineinversetzen kann in das Erlebte seiner Helden, und auch für jede und jeden einen eigenen Ton findet. Dabei ist natürlich der weitaus größte Anteil dem Veit geschuldet.


    Ich bemängele ein wenig die Entscheidung, verschiedene Briefe (also verschiedenen Datums) einfach übergangs- und absatzloslos zusammenzuschmeißen. Nur ein eigenwilliger Entscheid ? Warum ? Es verwirrt beim Lesen mE unnötig. Die teils vorhandenen Dopplungen (die ja auch im wirklichen Leben unvermeidbar sind) werden dadurch noch seltsamer.


    Die Schrägstriche finde ich in einer schriftlichen Fassung ebenfalls gekünstelt, während sie in einer « atemlosen » Schilderung, stockend, springend, angebrachter wären ???


    Doch alles in allem ein prima Roman !

  • Die Schrägstriche fand ich auch doof. Ich merke gerade, dass ich sie in meiner Rezi vergessen habe zu erwähnen.