Eduard von Keyserling - Im stillen Winkel

  • Drei Erzählungen


    In dieser gewohnt elegant editierten Insel-Ausgabe, 2006


    INHALT IM EINZELNEN :


    1. Harmonie (1905) – 64 S.
    Felix kehrt nach langer Weltreise heim. Dabei ist er erst seit zwei Jahren verheiratet, doch wir verstehen, dass er seine junge Frau aus reichem Hause, Annemarie, fluchtartig verlassen hat als diese nach dem Verlust ihres ersten Kindes in eine depressive Phase schlitterte. Ist sie nun geheilt ? Und wie gelingt diese Rückkehr ? Das Gefühl einer « Trennwand » ist da, einer wachsenden Fremdheit, einer Eifersucht gegen den älteren Onkelt Thilo, der sich seiner Frau annähert. Sind die Mauern zu überwinden ? Dabei ist es schon befremdlich, dass Felix sich selbst sehr wohl zugestehen kann, andere Frauen mehr als zu begehren. Seine Freude, hier « Herr » zu spielen und zu sein ist unzureichend, um wirklich liebenswert zu sein...


    2. Seine Liebeserfahrung (1906) – 77 S.
    Ein junger Schriftsteller will wohl was Erhebendes erleben und schreiben. Eine erste Liebeserfahrung ? Wächst die von ihm als zauberhaft empfundene Begegnung mit der jungen Frau des welterfahrenen Reisenden, Claudia, zu solchen Dimensionen ? Oder ist jene nicht, trotz getrübter Wahrnehmung des Ich-Erzählers von Brühlen, doch mehr ihrem Cousin zugeneigt ? Wie weit geht Einbildung(skraft) und Narzißmus?


    3. Im stillen Winkel (1918) – 81 S.
    Eine Bankersfamilie bricht in die Sommerfrische auf, Vater und Mutter, Sohn und Tochter. Ab und zu schaut ein junger Gehilfe des Mannes rein! Was bahnt sich da an ? Es ist Sommer 1914… : der Krieg bricht aus, und Patriotismus überzieht so manche Gemüter. Aber der elfjährige Sohn Paul, aus dessen Perspektive erzählt wird, erlebt diesen « Krieg » schon seit Langem : ausgestossen, angerümpelt, verhöhnt. Will auch er sich beweisen und « in den Krieg ziehen » ?



    Man kann Unterschiede dieser Erzählungen herausarbeiten oder/und auch gelmeinsame Grundmotive unterstreichen. Man findet relativ wenig Hauptpersonen, drei, vier. Die « Ehe » funktioniert quasi nirgendwo, und endet auf die ein oder andere Weise durch Brüche. Frauen ersticken in untergeordneten offiziellen Bindungen. Oft werden (berechtigte?) Beziehungen nicht respektiert : leicht überschreiten einige hier Treueversprechen. Keyserling beschreibt Trennwände und Etikette, die Menschen daran hindern, sie selbst zu sein. Eine Welt geht zu Ende, und so mancher Protagonist verspürt die « Unsicherheit des Daseins ». Der Autor « führt uns das Mürbe und Brüchige einer untergehenden Welt vor ».


    Gut bis sehr gut geschrieben, manchmal auch ironisch-lustig, bauen diese Geschichten dennoch nicht unbedingt auf, geben aber ein Bild einer Epoche ab. Sehr hilfreich ist in der Manesse-Ausgabe das sehr informative, beeindruckende Nachwort von Tilman Krause : es enthüllte mir verborgene Aspekte sowohl der Novellen als auch aus dem Leben des Autors.


    Eine Empfehlung an die Vorgewarnten !


    AUTOR :
    Eduard Graf von Keyserling (* 2. Maijul./ 14. Mai 1855greg. in Tels-Paddern (Schloss Paddern bei Hasenpoth, Kurland), heute: Tāšu-Padures, Bezirk Liepāja, Lettland; † 28. September 1918 in München), war ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus.


    Er entstammt dem baltischen Zweig der ländlich-adligen Familie Keyserlingk auf Schloss Paddern im heutigen Lettland. Er wurde als zehntes von zwölf Kindern geboren. Er besuchte das deutsche Gymnasium in Kuldīga (deutsch: Goldingen) und studierte von 1875 bis 1877, mit Unterbrechungen und ohne Abschluss, Rechtswissenschaft in Dorpat (heute: Tartu in Estland). Aus ungeklärten Gründen (sein ihm gewogener Großneffe Otto von Taube sprach später von „einer Lappalie – einer Unkorrektheit“) wurde er aus der studentischen Verbindung Curonia ausgeschlossen und von seiner Familie und den Standesgenossen gemieden. In seiner Heimat ein gesellschaftlicher Außenseiter, ging er als Dreiundzwanzigjähriger nach Wien und studierte Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien und für ein Jahr in Graz.


    Nach dem Studium verwaltete Keyserling die mütterlichen Güter Paddern und Telsen (ca. 1890–1895) und übersiedelte dann (nach dem Tod der Mutter Ende 1894) mit drei Schwestern nach München. Der damals schon an Syphilis Erkrankte zog sich 1897 ein schweres Rückenmarksleiden zu und erblindete später. Von 1899 auf 1900 ging er mit zwei seiner Schwestern auf eine letzte Italienreise. Danach führte Keyserling ein zurückgezogenes, von seinen körperlichen Leiden gezeichnetes Leben. In diesen Jahren, seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges durch das Ausbleiben der Einkünfte von seinen Gütern in Kurland auch finanziell eingeschränkt, entstanden seine bekanntesten und besten Werke. Seit 1908 verließ er kaum noch das Haus Nr. 19 in der Ainmillerstraße in Schwabing, wo er vom Jahre 1900 bis zu seinem Tod wohnte, und wo er seine Werke den in seinem Haushalt lebenden Schwestern diktierte. Seit 2011 ist sein Grab auf dem Münchner Nordfriedhof an der Ungererstraße wieder bezeichnet (Grabnummer 25-4-1). Eine Gedenktafel erinnert seit Ende 2013 an Keyserlings letzte Wohnung.


    Keyserling blieb zeitlebens unverheiratet.


    Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
    Verlag: Manesse Verlag (11. September 2006)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3717520989
    ISBN-13: 978-3717520986

  • Nachdem ich diese drei Erzählungen kürzlich in einem anderen Sammelband las, möchte ich diesen Thread nochmals hervorholen. Wie so häufig gibt es der Rezi von tom leo nicht viel zu ergänzen. Der bereits erwähnte ironisch-lustige Stil ist übrigens auch anhand der Titel erkennbar:


    Harmonisch ist in der ersten Geschichte praktisch gar nichts, seine Liebeserfahrung ist nicht beneidenswert und einen stillen Winkel findet die Familie bei Kriegsausbruch ebenfalls nicht. Man sollte sich also nicht von diesen drögen, etwas langweilig erscheinenden Titeln abschrecken lassen. Der Humor ist hier eher lakonisch, dem gesellschaftlichen Verfall zusehend entsprechend tragisch.


    Persönlich gefiel mir übrigens von den drei Erzählungen die mittlere am besten. Die anbandelnde Liebelei, das Verliebtsein des Erzählers, der sich bemüht Zeichen zu lesen, die Mimik der verehrten Dame, das Verhältnis zu ihrem Gatten und dem Cousin... Etwas Vorhersehbar vielleicht, aber doch ein schönes, lesenswertes Spiel aus der Perspektive eines voreingenommenen Erzählers.