Nikolai Gogol - Tote Seelen / Die toten Seelen / Мёртвые души / Mjortwyje duschi

  • Autor: Nikolai Gogol
    Titel: Tote Seelen, aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky
    Originaltitel: Мёртвые души, Mjortwyje duschi, der erste Teil erschien 1841
    Seiten: 640 Seiten
    Verlag: dtv Taschenbuch
    ISBN: 9783423142632


    Der Autor (von der dtv-Verlagsseite):
    Nikolai W. Gogol wurde am 1. April 1809 in Welyki Sorotschynzi als Sohn eines ukrainischen Gutsbesitzers geboren. Nach dem Studium versuchte er sich kurze Zeit im Staatsdienst, danach als Geschichtslehrer an einer höheren Mädchenschule. Ab 1828 lebte er in St. Petersburg, wo er 1831 den großen Dichter Alexander Puschkin kennenlernte, der sein Freund und Förderer wurde und ihm auch eine Professorenstelle an der Universität verschaffte. Zwischen 1836 und 1848 folgten zahlreiche Reisen, die bis nach Rom und nach Palästina führten, überschattet von zunehmenden psychotischen Anfällen. Gogol starb am 4. März 1852 in Moskau. Bis heute gilt er als Meister der Groteske und Satire, als Sprachvirtuose, der die russische Literatur zwischen Romantik und Realismus im 19. Jahrhundert prägte. Zur Weltliteratur zählen seine Werke: Die ‚Petersburger Novellen‘, die Komödie ‚Der Revisior‘ und sein Roman ‚Tote Seelen‘.


    Inhalt: (Klappentext)
    Ein wegen Korruption entlassener Zolleinnehmer reist durch die russische Provinz. Geschickt führt er sich in die gehobene Gesellschaft ein und macht einigen Gutsbesitzern ein unkonventionelles Angebot: Er kauft ihnen verstorbene Leibeigene – tote Seelen – ab, die in der Steuerbürokratie noch als Lebende gelten und »zu Geld gemacht« werden können. Nikolai Gogols Roman ist von erstaunlicher Aktualität – es geht um Geschäftemacherei, Willkür, Betrug und die Bestechlichkeit des Menschen. Geändert haben sich nur die Methoden.


    Meinung:
    Im ersten Teil der Erzählung reist Pawel Iwanowitsch Tschitschikow in Begleitung seines Kutschers Selifan in eine Gouvernementsstadt und macht dort dank seines vorbildlichen Auftretens und Schmeicheleien rasch Bekanntschaft mit allen Honoratioren der Stadt. Zudem reist er in der Provinz von Gutshof zu Gutshof und kauft dort „tote Seelen“ auf. Das sind Leibeigene, für die der Gutsherr bis zur nächsten Revision (die wohl alle zehn Jahre mal stattfindet) Steuern zahlen muss, obwohl diese Knechte bereits verstorben sind und keine Arbeit mehr verrichten können. Kurz gesagt, für die Gutsleute sind tote Seelen wertloser Besitz für den sie auch noch Kopfsteuern errichten müssen. Was Tschitschikow mit diesen toten Seelen eigentlich möchte, ist weder dem Leser zunächst klar, noch den Gutsbesitzern. Das führt im Verlauf der Geschichte zu allerlei Verwicklungen und Gerüchten. Allerdings macht gar nicht mal so sehr der Fortgang der Geschichte seinen Reiz aus; Gogol investiert viel mehr Zeit in die Charakterbeschreibungen der Figuren. Gleich fünfmal verhandelt Tschitschikow mit Gutsbesitzern, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine ist freigiebig, der andere gerissen, die nächste misstrauisch, usw. Und das Unterhaltsame an diesem Roman sind die detaillierten Beschreibungen zu deren Aussehen, ihrem Verhalten, dem Gutshof und daraus ableitend dann auch deren Verhandlungsgeschick und Gastfreundlichkeit. Hier beschreibt Gogol menschliche Züge, so übertrieben, aber amüsant, wie ich es selten lesen konnte. Mir war es nahezu egal, was Tschitschikow mit diesen Seelen anfangen möchte, und wie die Geschichte weitergeht, er soll mal besser noch einen Hof besuchen und lustige Gespräche und Verhandlungen führen.
    Im zweiten Teil erfahren wir dann mehr über Tschitschikows Vergangenheit und Pläne. Auch hier besucht er diverse Gutsbesitzer; er möchte nun selber einer werden, sucht Land, welches er günstig kaufen könnte und Tipps, wie man es am wirtschaftlichsten führt.
    Das macht den Roman zwar ziemlich episodenhaft, und wer eine rasch erzählte Handlung bevorzugt, der wird von den zahlreichen Besuchen auf den Höfen gelangweilt sein. Der Text lebt einfach von den absurd gezeichneten Protagonisten, die so überdeutlich in ihren jeweiligen Eigenschaften beschrieben werden (und mit ihnen die Landschaft, den Hof, usw), dass man es nur als herrlich formulierte Satire lesen kann. Der Rest ist Rahmenhandlung und könnte auch auf einem Drittel der Seiten Platz haben.


    Hinweise:
    Ich füge hier eine aktuelle Ausgabe in der neuesten Übersetzung von Vera Bischitzky an. Ich las eine deutlich ältere Ausgabe aus dem Magnus-Verlag, leider ohne Hinweis auf den Übersetzer, mit dem Titel "Die toten Seelen". Gemäss Wikipedia gibt es mittlerweile gut ein Dutzend Übersetzungen ins Deutsche…
    Ursprünglich war die Erzählung wohl als Trilogie konzipiert, allerdings wurden nur die beiden ersten Teile fertig gestellt, und das Originalmanuskript des zweiten Teils vernichtete Gogol kurz vor seinem Tod. Daher ist der zweite Teil nur bruchstückhaft überliefert.

  • Danke für die schöne Rezension!
    Ich habe die Toten Seelen vor vielen Jahren gelesen und erinnere mich noch an die Beschreibungen
    der festlichen, unmäßigen Tafelrunden! Was da alles aufgetischt wurde!
    Da hat der arme Gogol vielleicht gegen seinen Hunger angeschrieben...

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Der Text lebt einfach von den absurd gezeichneten Protagonisten, die so überdeutlich in ihren jeweiligen Eigenschaften beschrieben werden (und mit ihnen die Landschaft, den Hof, usw), dass man es nur als herrlich formulierte Satire lesen kann.

    das klingt nach einem Buch für mich und von Gogol hab ich bis heute noch nichts gelesen. Ich sag danke für die interessante Rezension und das Buch landet auf der Wunschliste, damit ich es auch nicht vergesse. :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Ja, der Text könnte Dir gefallen. Du magst ja ebenfalls die deutlichen Charaktergestalten bei Dickens. Auch bei Gogol gibt es eine Menge unvergesslicher Figuren. Und diese demaskierende Ironie, die Kritik am damaligen System, der Spott auf die Gutsherren und eingebildeten, korrupten Beamten,... zu Recht ein Klassiker, auch wenn das Werk letztlich unvollständig bleibt...

  • Was für ein lustiges, unterhaltsames Buch.

    Das hatte ich gar nicht erwartet, und es hat mir viel Spaß gemacht, es zu lesen.


    Zum Inhalt

    Wir befinden uns im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts.

    Eines Tages taucht in der nicht näher definierten (weil es wahrscheinlich unzählige davon gab, die sich ähnelten) Provinzstadt ein Unbekannter auf.

    Dieser schleimt sich erst einmal bei allen wichtigen Würdenträgern der Stadt ein, so daß sie ihn begeistert in ihre gesellschaftlichen Kreise aufnehmen.

    Dann besucht er einige der edlen Herren auf ihren Landgütern und stellt ihnen eine ungewöhnliche Frage: sind Ihnen in letzter Zeit viele Ihrer Bauern verstorben?

    Bauern waren zu der Zeit noch Leibeigene. Ihre "Besitzer" mußten für sie pro Kopf Steuer bezahlen, die Anzahl der Bauern wurde alle paar Jahre geprüft, für die inzwischen Verstorbenen mußte man also bis zur nächsten Zählung Kopfsteuer abführen.

    Nachdem die Gutsbesitzer die Frage bejahen, macht der Unbekannte ihnen einen außergewöhnlichen Vorschlag: er wolle ihnen diese "toten Seelen" abkaufen. Den Grund dafür behält er für sich.

    Nachdem er auch noch Interesse an einer Dame der Stadt bekundet hat, brodelt die Gerüchteküche und der Klatsch und Tratsch floriert und steigert sich in's Aberwitzige.

    Wer ist der Unbekannte und was sind seine Motive?


    Meine Meinung zum Buch

    Mich hat das Buch sehr gut unterhalten.

    Sehr detailliert beschreibt Gogol die dekadente Gesellschaft im zaristischen Russland: den Müßiggang der hochgestellten Männer, die zwar ein Landgut besitzen, sich damit aber kaum beschäftigen, weil sie sich viel lieber z.B. der Philosophie oder dem Kartenspiel widmen. Die Damen, die auch kaum geeignet sind, um einem Haushalt vor zu stehen, da sie vor allem zu zwei Dingen erzogen worden sind: Französisch sprechen und Musikinstrumente spielen.

    Den Klatsch in einer Stadt, der immer bizarrere Formen annimmt, je länger er reift und der von gegenseitiger Mißgunst befeuert wird.

    Was ich auch toll fand, war daß Gogol sich selbst auch in das Buch eingeflochten hat und oft von "dem Autor" in dritter Person spricht. Vom Protagonisten spricht er oft als von "unserem Held", so daß es den Schein hat, als ob wir Seite an Seite mit Gogol sitzen und das Treiben beobachten. Oft nimmt Gogol auch den "Russen" und seine Eigenarten mit bissigem Sarkasmus auf's Korn.


    Mein Endurteil ist 4.5 :bewertung1von5: .

    Anyone who stops learning is old, whether at twenty or eighty. Anyone who keeps learning stays young. The greatest thing in life is to keep your mind young.

    - Henry Ford-