Jennifer Haigh - Auftauchen / The Condition

  • Klappentext


    Was wird aus einer Familie, wenn durch einen Schicksalsschlag die schöne Fassade vom vollkommenen Glück zusammenbricht?


    Nach außen sind die McKotchs eine geradezu perfekte Familie. Doch als die 13-jährige Gwen schwer erkrankt, zeigt sich plötzlich, wie einsam jeder von ihnen ist. Zu hoch sind die Erwartungen, die alle haben, zu groß die Zweifel an der Liebe zueinander. Allein Gwen gelingt es schließlich als junge Frau, ihrem Schicksal zu trotzen. Als sie sich verliebt, hat sie das Gefühl, endlich aufzutauchen und befreit zu sein. Doch ihr unverhofftes Glück löst in ihrer Familie fatale Emotionen aus.


    Die Autorin


    Jennifer Haigh ist ein Kind des Jahres 1968. Sie studierte Englisch und Französisch und arbeitete später als Journalistin. Auftauchen ist ihr dritter Roman, heute unterrichtet sie kreatives Schreiben an der Universität in Boston.


    Persönlicher Eindruck


    Auf den Roman Jennifer Haighs hatte ich mich sehr lange gefreut, denn sein Inhalt klang wundervoll. Ich weiß selbst noch nicht so ganz genau, ob ich nach dem Lesen nun enttäuscht bin oder nicht ... Der Übergang scheint fließend zu sein.


    An einem Sommertag 1976 lernt man im Haus des Kapitäns, so der Name der Ferienwohnung, die Familie McKotch kennen.
    Den Vater und Workaholic Frank, dessen einzige Liebe und Leidenschaft die Wissenschaft ist (ist sie das wirklich?).
    Seine Ehefrau Paulette, ein für meinen Geschmack viel zu anständiges Mädchen, ständig in Sorge, ständig so adrett und gesellschaftskonform.
    Die dreizehnjährige Gwen, die ihren letzten Sommer in Unkenntnis über ihre Krankheit verbringt.
    Ihr älterer Bruder Billy, gutaussehender Vorzeigesohn, der in diesem Sommer den Grundbaustein für seine späteren Lieben und das Leben, das sie mit sich bringen, legen wird.
    Und Scotty, der Jüngste, so wild und unzähmbar, kaum unter kontrollierter Hand zu halten.


    Dass diese Familie nicht so perfekt ist, wie sie vorgeben möchte zu sein, wird dem Leser gar nicht erst vorgespielt. Man spürt schon anfangs die Spannungen zwischen Paulette und Frank, die ihre Ehe auf unsicheres Fundament gebaut haben, spürt die Sorgen und Ängste Gwens, dass vielleicht doch irgendetwas nicht in seinen gewohnten Bahnen verläuft.
    Diese detaillierten Beschreibungen der Charaktere verlieren sich auch im Laufe des Romans nicht, man hat das Gefühl, irgendwie können sie alle nicht so ganz aus ihrer Haut. Und obwohl sie alle so vielschichtig und im Detail beschrieben sind, lag genau darin mein Problem mit Auftauchen:


    Es kam einfach kaum Empathie mit ihnen auf.


    Es redete zwar einmal jeder von ihnen, die Stimmen und Perspektiven wechselten, man erfuhr von ihren Gedanken und allzu oft unterdrückten Gefühlen, aber ich als Leserin konnte einfach nicht mit ihnen warmwerden. Sie waren nicht sympathisch, aber eben auch nicht auf diese beabsichtigte Weise liebenswert-unsympathisch. Sie waren keine gekonnten Anti-Helden.
    Für mich hat sich der Roman deswegen in all seiner vielfältigen Handlung ziemlich gezogen, viele Beweggründe für kopflose Reaktionen und Worte konnte ich nicht nachvollziehen.


    Für mich hat erst das Ende dieses Buch gerettet, auch wenn ich es dennoch nicht als schlecht eingestuft hätte (angenehmer Schreibstil, hübsch gewählte Worte, aber sehr konstruiert).
    Das Ende war wieder irgendwie schön, behielt aber seinen melancholischen Zug bei. Das hat mir sehr gefallen und zum ersten Mal im Verlauf dieser 528 Seiten hatte man wirklich das Gefühl, dass dort Liebe in dieser Familie ist. Wenn sie schon vorher dort war, dann wurde sie letztlich doch nur immer unter falschem Stolz, jugendlichem Leichtsinn, Schutz vor Enttäuschungen oder dem persönlichen Selbstexil begraben, was die Lektüre seitenweise doch ziemlich anstrengend machte. Da es kein Buch von großen Taten und Aktionen war, musste es von den Gefühlen seiner Protagonisten leben, und diese waren nicht immer so, dass sie ihre Natürlichkeit behielten.


    Ich würde Auftauchen dennoch weiterempfehlen, weil ich glaube, dass es mir fehlen würde, hätte ich es nicht gelesen. Nicht uneingeschränkt und nicht mit voller Punktebewertung, aber die Liebe und Traurigkeit der letzten Seiten, diese Tatsache, dass Familienbande doch irgendwie gegen alle Äußerlichkeiten resistent sind, hat mich tief berührt.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: / :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    merveille.


    It was that kind of a crazy afternoon, terrifically cold, and no sun out or anything,
    and you felt like you were disappearing every time you crossed a road.


    Catcher in the Rye. ♥

    Einmal editiert, zuletzt von K.-G. Beck-Ewe ()

  • Sommerregen, vielen Dank für deine schöne Rezension! :thumleft:


    Da bist du mir und Conor wohl zuvor gekommen, denn ich lese das Buch auch gerade. :wink:


    Ich habe knapp die Hälfte des Buches gelesen und finde es eigentlich ganz gut. Was ich nur nicht ganz verstehe: Die Kapitelaufteilungen. Es finden sich Kapitel, die auch als solche überschrieben sind, aber es finden sich auch Kapitel, die keinerlei Überschriften haben, obwohl sie doch vollwertige Kapitel sind und nicht bloß Absätze. Sommerregen, hast du hier eine besondere Bedeutung entdecken können? Ich sehe dahinter bislang keinen Sinn. :scratch:


    Den Vater und Workaholic Frank, dessen einzige Liebe und Leidenschaft die Wissenschaft ist (ist sie das wirklich?).


    Bislang würde ich deine Frage mit "Ja" beantworten. Frank ist für mich Wissenschaftler schlechthin. Seine einzige andere Charaktereigenschaft ist die, seinen männlichen Bedürfnissen nach Sex Ausdruck zu verleihen, was ihn mir sehr unsympathisch macht. Dass er seine Frau je wirklich geliebt hat, bezweifel ich bislang, und auch die Liebe zu seinen Kindern ist eher nur zu erahnen.


    Diese detaillierten Beschreibungen der Charaktere verlieren sich auch im Laufe des Romans nicht


    Sommerregen, diese ausschweifenden Beschreibungen sind mir auch eher negativ aufgefallen. Überhaupt spielt das Buch dadurch viel zu sehr in der Vergangenheit. Selbst als die Kinder schon erwachsen sind, wird viel zu viel von ihrer Jugend berichtet. Dass dort bereits die Grundsteine für ihr Erwachsenendasein gelegt werden, mag ja sein, aber dennoch sind diese Vergangenheitsbeschreibungen meiner Meinung nach etwas zu lang.


    Sie waren nicht sympathisch, aber eben auch nicht auf diese beabsichtigte Weise liebenswert-unsympathisch.


    Das sehe ich bislang auch so. Wirklich sympathisch ist mir noch keiner der Charaktere. Frank und Paulette sind mir eher schreiend unsympathisch. Scott kann ich noch nicht wirklich einschätzen und Billy auch nicht, obwohl ich bei ihm am ehesten dazu tendieren würde, ihn sympathisch zu finden. Gwen lerne ich gerade erst richtig kennen und kann mir auch über sie noch kein Urteil erlauben.


    Ich bin gespannt, wie sich die Handlung weiter entwickelt. :study:


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Gerne, ich freue mich über einen Austausch zum Buch. :)


    gaensebluemche, wie weit bist du denn bisher? ;)

    Zitat

    Sommerregen, hast du hier eine besondere Bedeutung entdecken können?

    Nein, für mich waren es einfach nur sehr lange Kapitel, die innerhalb noch mal in Absätze unterteilt waren.


    Mein Bild von Frank hat sich zum Ende hin etwas mehr in die positive Richtung gewandelt, aber lass dich überraschen. ;)
    Ich hatte dennoch das Gefühl, dass irgendwie keiner von ihnen so wirklich aus seiner Haut konnte.


    Das mit den ausschweifenden Beschreibungen war auch nicht ganz meins. Zwar fand ich die Gedankensprünge zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht schlimm für das Verständnis, aber auch eher störend, wenn man eigentlich wissen will, wie sich das gegenwärtige Gespräch entwickelt, keine Kleinigkeit vor 20 Jahren.


    Ich freu mich, wenn du weiterhin berichtest. :)

    merveille.


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  • Ich habe bisher knapp 270 Seiten gelesen.


    Was mich ein wenig verwirrt: Im Klappentext wird angesprochen, dass Gwen sich verliebt und die Nachricht darüber verschiedenste Reaktionen in ihrer Familie hervorruft. Bislang deutet sich diese Handlung noch nicht einmal an und ich frage mich, wie lange sich die Autorin wohl noch auf Rückblicke konzentrieren will, bis sie endlich mal auf den Punkt kommt. :wink:


    Aber so schlecht ist das Buch eigentlich gar nicht. 8)


    :flower:

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  • Ich habe das Buch gerade beendet, die letzten 200 Seiten habe ich in einem Rutsch verschlungen, und insgesamt war dieses Buch doch sehr schön.


    Die vielen Rückblicke in die Vergangenheit der Personen kann ich der Autorin verzeihen, denn letztlich sind sie doch erforderlich, um ein umfassendes Bild zu liefern. Einige Charaktere habe ich tatsächlich noch schätzen gelernt (

    .


    Die letzten 50 Seiten fand ich fast ein bisschen zu schön, aber sehr wichtig waren mir die letzten beiden Seiten,


    Ich bin froh, dass Gwen


    Insgesamt hat sich das Buch von mir 4 Sterne verdient. :thumleft:


    :flower:

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  • Nun habe ich das Buch auch gelesen und hier meine Meinung:


    Kurzbeschreibung:
    (Quelle: Buchcover/Verlag)
    Sommer 1976. Wie jedes Jahr verbringen die McKotchs ihre Ferien auf Cape Cod: Paulette, Ehefrau und Mutter; ihr Mann Frank, ein ehrgeiziger Wissenschaftler, der nur selten den Weg aus seinem Labor findet, und ihre Kinder - Billy, der Liebling seiner Mutter; die 13-jährige Gwen, die endlich erwachsen werden will, aber noch wie ein Kind aussieht, und Scott, der Jüngste, hyperaktiv und um die Aufmerksamkeit seiner Eltern bemüht. Eine scheinbar perfekte Familie. In jenem Sommer erfährt Gwen, dass ihr Leben anders verlaufen wird als das anderer Mädchen. Aufgrund der bei ihr festgestellten Krankheit werden Pubertät und Wachstum ausbleiben, und ihr Körper wird immer der eines Kindes sein. Der Schicksalsschlag zeigt plötzlich, wie zweifelhaft die Bindungen zueinander sind. Die Familie zerbricht.


    Auch viele Jahre nach ihrer Scheidung bestimmen verletzte Gefühle die seltenen Begegnungen von Paulette und Frank. Und ihre Kinder fühlen sich nach wie vor von ihnen nicht verstanden. Keiner wagt es, dem anderen wirklich nahe zu kommen, nach seinen Lebensträumen und Ängsten zu fragen. Warum hat Billy, ein erfolgreicher Arzt, nie geheiratet? Warum sieht Scott nicht, dass sein Sohn um ihn ebenso verzweifelt buhlt wie er um seine Eltern? Auch wenn sie sich oft verschließt, ist Gwen die Einzige, die schließlich als junge Frau an ihrem Schicksal wächst. Als sie sich verliebt, löst ihr unverhofftes Glück in ihrer Familie ebenso starke Emotionen aus wie damals ihre Krankheit...


    Meine Meinung:


    Eine eindringliche und bewegende Familiengeschichte, die nicht von der spannenden und spektakulären Momenten geprägt ist, sondern eher von ruhigen Tönen beherrscht wird und mit ihre "Unauffälligkeit" punktet.
    Es wird eine Geschichte erzählt, die überall vorkommen könnte, Eheleute, die sich mit der Zeit auseinander gelebt haben, drei Kinder, alle unterschiedlich, alle haben ihren eigenen Weg. Eine Geschichte, die aus dem Leben gegriffen zu sein scheint.
    Nichts außergewöhnliches, und dennoch interessant.


    Mir hat der Roman gut gefallen. Die einzelne Charaktere sind der Autorin sehr gut gelungen. Auch interessant und spannend fand ich zu beobachten, wie sich die Geschichten der Geschwister, die inzwischen erwachsen sind und ihre eigene Wege gehen, in ein spannendes Gesamtbild einer Familie verweben.


    Jennifers Haigh Sprache ist klar und einfach, wirkt dennoch lebendig und mitreißend. Eine authentische Geschichte, die mich sehr gut unterhalten hat.
    Meinen Geschmack hat das Buch auf jeden Fall getroffen.
    Von mir :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    2024: Bücher: 97/Seiten: 42 622

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Mein Blog: Zauberwelt des Lesens
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    "Das Nicht-Wahrnehmen von Etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz "

    Dalai Lama

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    Lese gerade:

    Töpfner, Astrid - Bis wir unsere Stimme finden

  • 2024: Bücher: 97/Seiten: 42 622

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    Lese gerade:

    Töpfner, Astrid - Bis wir unsere Stimme finden

  • Der Sommer 1976 ist der letzte, den die Familie McKotch gemeinsam mit der restlichen Familie von Mutter Paulette im "Kapitänshaus" auf Cape Cod verbringt.

    Zwischen Paulette und Frank stand es schon länger nicht zum Besten - nach fast zwanzig Jahren und drei Kindern haben sich die Nur-Hausfrau und der ehrgeizige Molekularbiologe sich einfach auseinandergelebt, und dass Frank seine Frau immer noch sehr begehrt, verträgt sich gar nicht mit ihrer eher prüden Einstellung zur Sexualität. Als sich schließlich herausstellt, dass die knapp dreizehnjährige Gwen nicht einfach nur eine Spätentwicklerin ist, sondern das Turner-Syndrom hat, bricht die Diagnose der Ehe endgültig das Genick. Frank macht sich schlau, versucht Lösungen, Behandlungen, Chancen für Gwen aufzutun und sieht das Ganze wissenschaftlich-nüchtern, während für Paulette einfach nur eine Welt zusammenbricht und sie den Kopf in den Sand stecken will. Am liebsten möchte sie gar nicht über das Problem nachdenken. Dass Gwen nicht mehr großartig wachsen und die Hormonumstellungen der Pubertät nur sehr bedingt erleben wird, ist für sie, die sich stark über ihr Äußeres und ihre sehr feminine Art definiert, eine absolute Katastrophe.

    Dass es zur Trennung gekommen ist, erfahren wir aber nur im Rückblick. Nach dem Sommerurlaub, in dem schon gewisse Beziehungsmuster in der Familie deutlich werden, springt die Handlung in die späten 90er Jahre. Da ist Frank in ein vielversprechendes Forschungsprojekt involviert und nach diversen Beziehungen und Affären gerade solo; Paulette kämpft mit dem Altern und der sich verändernden Welt im allgemeinen und kann schlecht damit umgehen, dass eigentlich keines ihrer Kinder mehr ihre Hilfe braucht; und Gwen arbeitet nach einem Anthropologiestudium in einem Museum und hat ansonsten wenig Sozialkontakte. Billy, der Älteste, ist erfolgreich im Beruf, verschweigt seinen Eltern jedoch seine sexuelle Orientierung; und Scott, das Nesthäkchen, ist mit einer nicht standesgemäßen Frau verheiratet, arbeitet eher widerwillig als Lehrer und gönnt sich ab und zu mal eine Tüte zur Entspannung.

    Innerhalb eines Jahres kommt dann bei allen fünfen einiges in Bewegung, im positiven wie im negativen Sinne. Die Geschehnisse in diesem Zeitraum nehmen einen Großteil des Buches ein. Das Schöne ist, dass man alle fünf Perspektiven zu sehen bekommt. Die ganz unterschiedlichen Charaktere und Denkweisen der fünf Familienmitglieder lassen dasselbe Ereignis jeweils in einem völlig anderen Licht erscheinen.

    Anfangs brauchte ich eine Weile, um mit dem Personal warmzuwerden, und abgesehen von Gwens Gendefekt erschien mir auch die Handlung recht unspektakulär. Mit jeder Drehung des Erzählkaleidoskops ist dieser Eindruck allerdings geschwunden, irgendwann hatte mich diese verkorkste Familie dann ziemlich in ihren Bann gezogen mit ihren unerfüllten Wünschen und vertanen Möglichkeiten und den alten Rivalitäten und Sympathien, die sich auch Jahrzehnte später noch Bahn brechen. Alle Figuren haben eine gewisse Ambivalenz, was ihnen Tiefe verleiht und sie über bloße Schablonen hinweghebt.

    Es gibt sicherlich süffigere Familiengeschichten, vor allem, was den Beginn angeht, aber die zweite Hälfte des Buches hat mich ziemlich überzeugt (auch wenn der Schluss vielleicht einen Tick zu rosig ausgefallen ist).

  • Ich habe mir gerade Eure Anmerkungen und Diskussionen zum Buch durchgelesen. Frank und Paulette waren mir am Anfang gleichermaßen unsympathisch, aber besonders, was Frank angeht, hat sich das doch noch gewandelt.


    Die Ausflüge in die Vergangenheit fand ich gar nicht so unspannend, übrigens. Da liegen doch so einige Hunde begraben, die in der Gegenwart ihre Auswirkungen haben.

  • Ein guter, ruhiger, leiser Roman der so manche Schwachstelle in dieser Familie aufdeckt. Der leider aber auch einige Längen hat. Was mich ein wenig enttäuscht hat, das auf die Krankheit der Tochter nicht näher eingegangen wird. Ihre eigenen Gedanken und Gefühle mit der Krankheit umzugehen, sie zu akzeptieren fehlen mir .
    Dem Klapptext nach, habe ich eigentlich gar nicht damit gerechnet so viel über die anderen Familienmitglieder über ihr Leben, ihren Wertegang zu erfahren. Somit war ich wahrscheinlich ein kleinwenig enttäuscht, das Gwen genau so viel Text zugestanden wurde, wie den Anderen. Trotz dem möchte ich hier den Roman und den Schreibstil der Autorin nicht schlecht/klein reden. J. Haigh schafft es Billy, Gwen und Scotty ihre eigenen Identität zu geben, sie in manchen Situationen wieder wie kleine Kinder zu sein, ohne eigene Meinung und trotz allen irgendwie ihr eigenes Leben zu meistern.
    Was die Eltern Frank und Paulette angeht, kann ich nur sagen:
    "Ich wünsche keinen Kind solch Eltern zu haben"
    Die Autorin hat hier 2 Protagonisten für mich geschaffen, deren Gedanken und Handeln nie so richtig nachvollziehen konnte. Die ich am liebsten so manches mal geschüttelt hätte, um sie zum aufwachen gegenüber ihrer Umwelt zu bringen.
    Ich habe mich trotz dem für :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: entschieden.

    Sobald wir lernen, uns selbst zu vertrauen, fangen wir an zu leben. ( Johann Wolfgang Goethe )


    Jede Begegnung , die unsere Seele berührt hinterlässt eine Spur die nie ganz verweht. ( Lore-Lillian Boden )

  • Inhalt

    Paulette McKotch hat auch 1976 wieder die traditionellen Ferien im Sommerhaus ihrer Familie auf Cape Cod organisiert. Sie erwartet ihre unverheiratete Schwester und ihren Bruder mit Familie. Am Wochenende wird sich hofffentlich auch ihr Mann Frank aus seinem Labor loseisen. Paulette ist bemüht, ihre Kindheitserinnerungen an das ehemalige Kapitänshaus mit alten Ritualen zu erhalten. Schon in der Eingangsszene wird das komplizierte Familiengefüge deutlich. Das Verhältnis der Schwestern untereinander und das zu Paulettes Schwägerin ist heikel. Frank als sozialer Aufsteiger hat sich dem Ostküsten-Establishment nie zugehörig gefühlt und würde die Wochenenden am liebsten am Arbeitsplatz verbringen. Die Kinder genießen endlos wirkende Ferien am Strand. In diesem Sommer erkennt Frank, dass seine Tochter Gwen sich nicht so entwickelt wie gleichaltrige Mädchen. Alle späteren Ereignisse werden die McKotchs auf diesen letzten unbeschwerten Sommer beziehen, kurz bevor ihre Kinder erwachsen wurden, als sie alle sich noch der Illusion bürgerlichen Wohlstands hingeben konnten.


    Knapp 20 Jahre später ist Frank Professor am MIT, er lebt schon lange getrennt von Paulette, während die drei Kinder in alle Winde zerstreut sind und kaum Kontakt zu den Eltern haben. Um Gwen hatte sich Frank schon immer mehr Gedanken gemacht als um seine Söhne. Gwens Wachstumsverzögerung, die Frank damals im Urlaub aufgefallen war, hatte sich als Symptom des Turner-Syndroms herausgestellt. Gwen würde nicht größer als 1,50m werden, keinen weiblichen Körper haben und keine Kinder zur Welt bringen. Die Behinderung ihrer Tochter wurde von Paulette schamhaft "Gwens Zustand" genannt (der Orignaltitel des Romans lautet "The Conditon") und möglichst ganz verschwiegen. Über Diagnose und Therapie gab es ständig Streit zwischen Frank und Paulette. Dass Frank seine Tochter mit dem Blick des Wissenschaftlers betrachtet, verzeiht seine Frau ihm nicht. Obwohl Paulette inzwischen fast 60 ist, hat sie noch immer keinen Weg gefunden, sich mit ihrer berufstätigen Tochter unbefangen über deren Leben zu unterhalten. In Paulettes festgefügtem Männer- und Frauenbild machen Frauen sich hübsch und Männer versorgen ihre Frauen. Eine Tochter, die als Anthropologin arbeitet und ihre Kleidung in der Jungenabteilung kauft, enttäuscht Paulines Erwartungen. Bill und Scott geht es kaum besser als Gwen. Mit Bills Erfolg als Mediziner können die Eltern sich zwar schmücken, aber bisher hat er ihnen seine Homosexualität verschwiegen. Scott, der als Kind am stärksten unter der Trennung seiner Eltern gelitten hat, heiratet eine Frau, auf die seine Eltern herabsehen. Mit seinem Job an einer privaten Paukschule für unmotivierte Schüler kann er Franks Ansprüchen kaum genügen. Als Gwen per Zufall in einem Tauchurlaub ihrem großes Glück begegnet, läuft Paulette zu Hochform auf. Da sie Gwen mit 35 Jahren noch immer für unfähig zu eigenen Entscheidungen hält und ihre Tochter als Opfer finsterer Heiratsschwindler wähnt, will Paulette unbedingt Schicksal für ihre Tochter spielen.


    Fazit

    Die Figur der Paulette empfand ich als kräftige Geduldsprobe. Paulette hat sich seit ihrer Eheschließung kaum weiter entwickelt und noch immer nicht wahrgenommen, zu welchen Persönlichkeiten ihre Kinder herangewachsen sind. Paulette erleidet ihr Leben passiv und erwartet, dass ihre Kinder sie glücklich zu machen haben. Gab es Frauen wie Paulette vor gut 10 Jahren tatsächlich noch? Frank steht seiner Frau in seinen starren Ansichten kaum nach. So wie es Paulettes Aufgabe war seine Kinder zur Welt zu bringen, erwartet er auch mit 60 von Frauen generell gutes Aussehen und dass ihm lästige Alltagsprobleme vom Hals gehalten werden.


    Die Ausgangsszene im Familienurlaub kündigt bereits einen üppigen Familienroman mit gewaltigem Konfliktpotential an. Die aus Paulettes und Franks Sicht erzählten Kapitel wirkten auf mich noch sehr nüchtern. Fahrt nimmt die Handlung auf, als Jennifer Haigh auch aus Scotts, Bills und Gwens Perspektive erzählt. Am stärksten habe ich darauf gefiebert, wie es wohl Gwen als erwachsener Fau ergehen würde. Die zweite Hälfe des Familienromans wartet mit einigen Anlässen zum Schmunzeln auf und ließ mich an Ende das Buch mit einem Lächeln zuklappen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

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    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow