Erich Hackl - Auroras Anlaß

  • "Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlaßt, ihre Tochter zu töten." So beginnt die außergewöhnliche Geschichte der Aurora Rodríguez, die auf der Suche nach Selbstverwirklichung an die Schranken gesellschaftlicher Konventionen stößt und ihre Träume von einer besseren Welt von einer anderen, fähigeren Person realisiert sehen möchte: einer Frau, ihrer Tochter Hildegart.


    Vorneweg: Die Erzählung beruht auf dem Leben der Aurora Rodríguez und ihrer Tochter Hildegart.
    Den Beginn der Erzählung (s.o.) halte ich für überaus gelungen, schließlich führt er gleich weg von der allzuüblichen Frage nach dem "was passierte" zu dem weit psychologischeren "Warum?". Dementsprechend ist die Erzählung auch psychologisch - anhand des Lebens der Aurora Rodríguez ist nachzuvollziehen, warum sie ihre Tochter erschossen hat. Ob man dann schlußendlich ihrer Version glaubt ("meine Tochter bat mich sie zu töten") oder ob es doch, worauf zahlreiche Schlüsselerlebnisse - schon in der Kindheit - abzielen, darauf zurückzuführen ist, dass sie ihre Tochter als ihr Eigentum betrachtete bzw. nicht gelernt hat Leben richtig anzuerkennen.
    Eine weitere Ebene ist die historisch/soziale. Der Roman ist wunderbar eingebunden in die Vor-Franquistische und Vor-Republikanische Lebenswirklichkeit; er zeigt Ideen und Utopien zur Überwindung der Armut, er zeigt die Ungleichbehandlung von Mann und Frau und vor allem - schließlich geht es um eine Feministin - auch die Schwierigkeiten die Emanzipation zu propagieren und umzusetzen. Aus dieser Schwierigkeit, aus diesem Frust über die frauenfeindliche Lebenswirklichkeit, ist ja auch Auroras Tochter so erzogen, wie sie eben erzogen worden ist.


    Ich finde mit meinem Interpretationsvermögen noch eine weitere Ebene: die der Frage nach der Umsetzung von utopischen Idealen, die m.E. analog zu gewissen Entwicklungen in Sowjetrussland stattfindet. Die ideologische Fixierung, die Kompromisslosigkeit und Ungeduld, das etwas mangelnde Anpassungsvermögen an die tatsächlichen Gegebenheiten, das Mißtrauen und daraus resultierend Kontroll- und Überwachungsdrang; das sind die Dinge, die sich auch bei Aurora finden lässt und die, die ansich gute Idee und den guten Willen, bisweilen vergessen lassen. Und als dann (fast) am Ende der Entwicklung die Tochter getötet wird, da kam mir unweigerlich der Gedanke an "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder". Und bei einem 1987 geschriebenen Buch, ist das nicht allzu abwegig anzunehmen. Daneben sind aber auch tagesaktuellere Fragen zu finden: die nach der richtigen Erziehung der Kinder und nach Dogmatismus generell und insbesonders in der Erziehung, die Frage nach der glücklichen Kindheit und Jugend (s.o. Wikipedia Artikel), Abhängigkeit von anderen Menschen...
    Kurzum: ein überaus facettenreiches und überzeugendes Buch. Von einem mir, bis dato, kaum bekannten Autor. Was sich sicher ändern wird; der steht bei mir jetzt auf nem Spitzenplatz der zu lesenden Gegenwartsautoren.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • Über den Autor:
    Erich Hackl, 1954 in Steyr geboren, hat Germanistik und Hispanistik studiert und ein paar Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Madrid und Wien. In seinem literarischen wie publizistischen Schaffen geht es Hackl darum, Fäden zu knüpfen zwischen denen, die sich mit heutigem Unrecht nicht abfinden, und jenen, die sich schon früher empört haben und damit nicht allein bleiben wollten. Seinen Erzählungen liegen authentische Fälle zugrunde.

    (Homepage Diogenes Verlag)


    Buchinhalt:
    Aurora Rodríguez Carballeira erschießt am Morgen des 9. Juni 1933 ihre einzige Tochter Hildegart. Danach stellt sie sich einem Rechtsanwalt und der Justiz.
    In Vor- und Rückblenden erzählt Erich Hackl die Lebensgeschichte der jungen spanischen Frauenrechtlerin Hildegart Rodríguez (08.12.1914-03.07.1933) und ihrer Mutter. Aurora Rodríguez wird 1890 in eine wohlhabende Familie im nordspanischen Galicien hineingeboren. Sie wächst unter den damals üblichen starken Zwängen der spanischen Gesellschaft auf, ihre Schulbildung ist, wie damals üblich, rudimentär. Durch ihren Vater kommt sie das erste Mal in Kontakt mit revolutionären Gedanken über die hierarchische Gesellschaft. Aber es bleibt bei der Theorie. Nach dessen Tod und mit Vollendung der Volljährigkeit mit 23 Jahren sucht sie per Zeitungsannonce einen „physiologischen Mitarbeiter“, läßt sich schwängern und geht nach Madrid. Dort bekommt sie ihre Tochter und zieht sie allein auf. Sie erzieht ihre Tochter sehr analytisch und zielgerichtet einzig auf die Aufgabe hin, ihre eigenen politischen Ziele für eine Verbesserung der Gesellschaft und der Freiheit der Frau zu verwirklichen. Ihre hochbegabte Tochter scheint die Erfüllung ihrer Träume zu werden, sie wird mit 4 Jahren eingeschult, überspringt sofort 2 Klassen, beginnt mit 13 ein Jurastudium, das sie mit 17 beendet, ist politisch hochengagiert, zunächst bei den Sozialisten, später in einer anderen Partei, publiziert und hält Vorträge und entspricht in allem den Idealen der Mutter. Bis sie endgültig dem Traum entspricht und ein komplett selbständiges Leben losgelöst von der Mutter beginnen möchte.


    Meine Meinung:
    In diesen beiden Leben, die von Erich Hackl sehr detailreich beschrieben werden, prallen zu beider Unglück verschiedene Faktoren aufeinander. Die Mutter hat sehr moderne Gedanken, Überzeugungen und Einstellungen, sie ist nur in die falsche Zeit hineingeboren. Sie sieht sehr klar die Fehler der alten Monarchie, die Unterdrückung der Armen und Arbeiter, die dekadente Oberschicht. Genauso fordert sie Freiheit, Wahlrecht, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit für alle Frauen. Während ihrer Schwangerschaft lebt sie sehr gesund und diszipliniert, immer nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet. Eine Frau, die für uns also eigentlich vollkommen selbstverständliche Ansichten vertritt. Aber dann verfällt sie in ein absolutes Extrem, indem sie versucht, ihre Tochter zu einem Idealbild zu erziehen, dass es eben in der Realität nicht gibt. Das Kind lernt mit 2 Jahren Lesen und Maschineschreiben, wird von Hauslehrern in Philosophie, Mathematik und anderem unterrichtet, wird extrem gefördert, aber auch so extrem gefordert, dass manch Lehrer Einwände erhebt. Was dem Kind nicht gegeben wird, sind soziale Kontakte mit Gleichaltrigen, denn „die schlechte Erziehung der anderen könne ja abfärben“. Die Hochbegabung der Tochter zieht sich durch deren komplettes Leben. Die oben genannten Leistungen sind belegt. Aber die ständige Überforderung fordert auch ihren Tribut: ein soziales Leben findet nicht statt. Mutter und Tochter leben symbiotisch miteinander, die eine kann nicht ohne die andere. Bis die Tochter eben doch noch erwachsen wird, schlicht und einfach auch in die Pubertät kommt und damit die Ideale der Mutter „verrät“. Wobei die Mutter die eigentlich Schwächere ist, denn sie kann ohne die Tochter nicht leben! Schon bei der ersten Puppe ihres Lebens kommt das zum Vorschein: „und die Puppe gehört mir“. Die lebende Puppe Hildegart aber löst sich von der Mutter und will sie verlassen. Sie kann und will nicht mehr. Ob der Mord am Ende ein verkappter Selbstmord ist wie von Hackl angedeutet, dass weiß kein Mensch und wird auch niemand mehr erfahren. Da darf jeder für sich einen eigenen Schluß ziehen.


    Hackls Stil ist sehr distanziert und analytisch, passend zur Thematik. Allerdings macht er dadurch das Leseerlebnis nicht immer so einfach. Es ist kein wirklich fesselndes Buch, das man verschlingt, weil man das Ende der Geschichte nicht abwarten kann. Aber dennoch ist man fasziniert von den Protagonistinnen, die so sehr aus dem Rahmen ihrer Zeit fallen.


    Mein Fazit:
    Eine lesenswerte Erzählung über zwei Frauen, die heute (leider) vergessen sind, obwohl sie sehr früh für Dinge einstanden, die uns selbstverständlich scheinen. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Die eigentliche Geschichte ist ja bereits anschaulich dargestellt worden, da spare ich mir das Nacherzählen :)
    Daneben wird zudem die damalige Situation in Spanien geschildert. Ich persönlich fand dies bereichernd, da es einerseits die Lage deutlicher macht, in der sich die Protagonistinnen befinden und andererseits habe ich wieder ein paar Sachen dazugelernt :-)
    'Auroras Anlaß' wird in einer sachlichen und nüchternen Sprache berichtet - manchmal hatte ich das Gefühl, man liest die Unterlagen für das Gericht, vor dem der Prozeß gegen Aurora stattfindet. Doch gerade durch diese Sprache wirkt die Erzählung so eindrücklich. Schuld wird hier niemandem zugewiesen. Nicht nur Hildegart ist als Eigentum, als Objekt ihrer Mutter ein Opfer, auch Aurora ist es auf ihre Art.
    Lesenswert!

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Kann man ein Kind ohne Liebe erziehen? Lange Zeit scheint es, als ob Aurora Rodríguez mit ihrer Art damit erfolgreich ist. Sie erzieht ihre Tochter zu einer eigenständigen, intelligenten jungen Frau die alles, was Aurora verwehrt wurde, erreichen kann. Aber gleichzeitig baut sie sie einen ungeheuren Druck auf, denn Hildegart wird trotz der besten Voraussetzungen nie den hohen Ansprüchen ihrer Mutter gerecht werden und letztendlich daran zerbrechen.


    Wäre die Geschichte anders ausgegangen, wenn Hildegart in ihrer Mutter eine Person gefunden hätte, der sie sich ohne Angst hätte anvertrauen können, der sie von ihrer inneren Zerrissenheit hätte erzählen können? Vielleicht. Aber wahrscheinlich wäre dann auch eine ganz andere Persönlichkeit geworden, der sich diese Frage nie gestellt hätte.


    Erich Hackl hat mit Auroras Geschichte gezeigt, was passieren kann, wenn man seine unerfüllten Träume auf seine Kinder übertragen will. Das kann mit den besten Absichten passieren, aber oft ist der Weg zur Hölle genau damit gepflastert.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: