Jurek Becker -Jakob, der Lügner

  • Ich war mir nicht sicher, ob ein Werk, dass 1969 erschien, schon bei den Klassikern zuzuordnen ist. Generell gilt ja, dass ein Klassiker etwas ist, dessen Autor bereits seit 70 Jahren tot ist. Aber "Jakob, der Lügner" ist meiner Meinung nach ein moderner Klassiker.


    Inhalt:


    Buch der 1000 Bücher
    Copyright: Aus Das Buch der 1000 Bücher (Harenberg Verlag)


    Jakob der Lügner
    OA 1969 Form Roman Epoche Moderne


    Jurek Beckers Erstlingsroman, in den persönliche Erfahrungen einflossen, gehört zu den gelungenen Versuchen, das Grauen der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs literarisch zu verarbeiten. Becker selbst wuchs im Warschauer Ghetto sowie in den Konzentrationslagern von Ravensbrück und Sachsenhausen auf. Von 1960 bis 1977 lebte Becker, der erst nach 1945 Deutsch lernte, in Ostberlin, wo auch der Roman entstand.
    Der Ich-Erzähler, Überlebender eines polnischen Ghettos, schildert die Geschichte des Ghettobewohners Jakob Heym, der durch Zufall im deutschen Polizeirevier aus dem Radio Satzfetzen einer Meldung vernimmt, die fortan das Leben im Ghetto verändern sollte: »In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff 20 km vor Bezanika zum Stehen zu bringen.« Jakob kennt diesen Ort nur vom Hörensagen, doch weiß er, dass Bezanika nicht sehr weit vom Ghetto entfernt liegt. Gleichzeitig wird ihm bewusst, dass diese Nachricht den Ghettobewohnern einen konkreten Anlass zum Durchhalten und Weiterleben geben würde, denn mit dem sowjetischen Vormarsch näherte sich auch die Befreiung.
    Um die Glaubwürdigkeit seiner Informationen zu erhöhen, behauptet Jakob, selbst über ein Radio zu verfügen, dessen Besitz streng verboten ist. Durch die Notlüge gerät er unversehens in die Zwangslage, ständig neue Nachrichten erfinden zu müssen; sein Lügengewebe führt zu tragikomischen Situationen und das technische Medium wird zum Symbol von Verheißung und Gefahr. Einerseits schöpfen die Ghettobewohner wieder Hoffnung; sie schmieden Pläne, die Selbstmordrate ist rückläufig. Andererseits befürchten einige seiner Leidensgenossen, dass die Entdeckung des Radios durch die deutschen Besatzer letztlich alle gefährden könne.


    Wirkung: Die außergewöhnliche Leistung des Romans liegt in seiner unpathetischen Darstellungsweise. Becker erzählt mit distanzierter Ironie vom Alltag der Ghettobewohner und verdeutlicht umso mehr Schrecken und Irrwitz der Situation im von Deutschen besetzten Polen. Der Roman wurde 1974 in der DDR verfilmt (Regie: Frank Beyer; Titelrolle: Vlastimil Brodsky); 1999 folgte eine weitere Verfilmung mit Robin Williams in der Hauptrolle (USA, Regie: Peter Kassovitz). J. R.


    Meine Meinung:


    Erstmal war ich sprachlos! Was für ein intensiver Roman!
    Jede Menge Galgenhumor vor den tristesten Umständen. Naturgemäß ist die Rahmenhandlung (Warschauer Ghetto) bedrückend und niederschmetternd, doch die Bemühungen Jakobs, seinen Leidensgenossen Mut zu geben, bilden auch für den Leser Höhepunkte. Was mag er sich jetzt überlegt haben? Gibt es eine Chance, dass seine Lügen der Wahrheit entsprechen könnten? Wie wird es nur ausgehen...
    Fragen, die sich immer wieder stellen.
    Einerseits liest sich der Text leicht (die Spannung zieht den Leser in seinen Bann), andererseits ist er seelisch sehr belastend - zu recht. Der Roman gehört sicher nicht zu der Kategorie: "Gelesen und beiseite gelegt"!


    Die Sätze sind stellenweise zu verschachtelt, um sie beim ersten Lesen vollständig zu verstehen, weshalb man sehr aufmerksam lesen muss. Aktives Lesen ist gefordert!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +


  • Kann mich Dir nur vorbehaltlos anschließen.
    Ich habe "Jakob,der Lügner" gerade zu Ende gelesen und bin immer noch beeindruckt.
    Ich habe beim Lesen wirklich fürchterlich geheult.
    Ein Buch,welches jede/r gelesen haben sollte!!


    LG
    Schoenchen

  • Kann mich da nur anschliessen. Es ist schon ein paar Jahre her seit ich es gelesen habe.
    Musste es damals für die Schule lesen, aber ich war beeindruckt. Den Film dazu find ich auch nicht so schlecht.


    Man muss es auf jedenfall gelesen haben.


    liebe grüsse

    "Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt."


    :study: Die Vermessung der Welt, Daniel Kehlmann

  • „...ich werde, wenn es gut geht, ein paar Gramm Nachrichten entführen und mache euch eine Tonne Hoffnung draus.“


    Jurek Becker erzählt auf tragisch-komische Weise die Geschichte des Jakob Heym. Anhand des Erzählers – der selbst Ghettobewohner war, überlebte und seine eigene Geschichte miteinfließen lässt - werden mit vermeintlicher Leichtigkeit, fast Irrwitz die Zustände im Ghetto beschrieben, wenn auch dem Leser oftmals das Lachen im Halse steckenbleibt. Der Erzähler nimmt zwischendurch immer wieder Kontakt mit dem Leser auf und weist somit nochmals eindringlich auf den Wahnsinn und die Schrecken dieser Zeit hin, besonders augenfällig wird dies mit der Beschreibung des „doppelten Endes“.


    Ein Buch, das tiefe Spuren hinterlässt, ein großartiges Buch!


    Inzwischen habe ich auch den Film mit Robin Williams gesehen -ebenfalls großartig!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ich habe sehr viel Literatur über den Holocaust gelesen. An der Uni hatte ich auch ein Literaturseminar dazu. Und ich kann mich ebenfalls nur anschließen. "Jacob der Lügner" ist ein ganz beeindruckendes Buch, das wirklich Spuren hinterlässt. Man legt es nicht einfach auf Seite und denkt nicht mehr darüber nach. Es wirkt vielmehr nach und beschäftigt einen noch eine ganze Weile.

  • Ich habe das Buch vor knappen 20 Jahren (OhGottohGott) in der Schule gelesen und kann mich nur noch soweit erinnern, dass ich es sehr flüssig lesen konnte und mich die Thematik sehr bewegt hat.


    Mir hat das Buch bis zu dem Zeitpunkt gut gefallen, da wir das Buch dann in der Klasse besprochen, oder besser, zerredet haben. Das Schlimme damals war, dass wir einen Deutschlehrer hatten, der jeden Diskussions- und Interpretationsansatz bereits im Keim erstickt hat und nichts ausser seiner Musterlösung aus dem begleitbuch gelten ließ. Kann mich noch erinnern, dass sich damals selbst die Literatur-Freaks aus der Klasse in ihr Schneckenhaus zurückgezogen haben und es über sich ergehen liessen.


    Vielleicht sollte ich mich trotz meinem SuB mich nochmal dran wagen...

    Shalom, kfir


    :study: Joe Hill - Teufelszeug
    :thumleft: Farin Urlaub - Indien & Bhutan - Unterwegs 1 #2533 signiert


    "Scheiss' dir nix, dann feit dir nix!"

  • Zitat

    Original von Fezzig
    Ich war mir nicht sicher, ob ein Werk, dass 1969 erschien, schon bei den Klassikern zuzuordnen ist. Generell gilt ja, dass ein Klassiker etwas ist, dessen Autor bereits seit 70 Jahren tot ist. Aber "Jakob, der Lügner" ist meiner Meinung nach ein moderner Klassiker.


    Also bei uns war das auch Schullektüre im Deutsch - LK, genauso wie Buddenbrooks und Nathan der Weise auch. Und damals fand ich es ist wirklich toll geschrieben. Insofern ist es bestimmt ein Klassiker..ich meine was schon in den Lesekanon der Oberstufe Aufnahme gefunden hat...wäre lustig zu sehen was in den Klassen passiert, wenn mal wirklich Zeitgenössisches gelesen würde.. ;- )

    Ich lese gerade "Fabian - Die Geschichte eines Moralisten" von Erich Kästner

    Einmal editiert, zuletzt von modern_millie ()

  • Ich habe heute damit begonnen, das Buch zu lesen, und muss sagen, dass es mich von der ersten Seite an beeindruckt hat. Die Sprache des Erzählers ist sehr dicht und trotz des Schreckens, der vermittelt wird, liest sich das Buch sehr schön, stellenweise fast poetisch. Was mir besonders gut gefällt ist, dass die Erzählung stellenweise auch humorvoll ist und dass man dadurch diese "Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit" wirklich gut vermittelt bekommt.
    Ein ganz besonderer Roman, zurecht schon jetzt ein Klassiker! :thumleft:

  • Jurek Becker hat seine Kindheit im Ghetto und in verschiedenen KZs verbracht. Seine Mutter, obwohl nach dem Krieg schon in Freiheit, starb noch an Unterernährung. Sein Vater überlebte Auschwitz und fand seinen Sohn. Ungefähr 20 Familienmitglieder waren umgebracht worden.


    Da sollte man wirklich meinen, dass Jurek Becker in seinem Buch weiß, worüber er schrieb. Er lässt einen Ich-Erzähler über Jakob berichten. Dieser Ich-Erzähler lebte gemeinsam mit Jakob und vielen anderen in einem polnischen Ghetto in einer unbekannten Stadt. Als Jakob Mischa, einem jungen Burschen, bei der Arbeit beim Bahnhof das Leben retten will, weil der eine ungeheure Dummheit begehen wollte (er wollte nämlich Kartoffeln aus einem Waggon stehlen), schafft er es nur ihn davon abzuhalten, indem er ihm erzählt, dass die Russen schon 20 Kilometer vor Bezanika sind. Auf die Frage, woher er das wisse, sagt er, er habe ein Radio.


    Was natürlich nicht stimmt. Aber Jakob kommt nicht mehr dazu, schnell ein klärendes Wort mit Mischa zu reden, nachdem er ihn von den Kartoffeln abgelenkt hatte, und so macht diese Nachricht wie ein
    Lauffeuer die Runde durchs Ghetto. Und Jakob ist nun gezwungen, jeden Tag eine neue gute Nachricht aus dem Hut zu zaubern.


    Jurek Becker hat einen wunderbaren Schreibstil. Er erzählt, wie die Menschen in dem Ghetto gelebt haben. Wie sie jeden Tag versuchten, etwas Normalität in ihr Leben zu bringen, und doch täglich Angst haben mussten, zum Transport abgeholt zu werden.


    1974 wurde das Buch von Frank Beyer verfilmt und als einziger DDR-Film für den Oscar in der Kategorie bester ausländischer Film nominiert (siehe Jakob der Lügner (1974)).


    1999 erfolgte mit Robin Williams als Jakob und Armin Mueller-Stahl eine Neuverfilmung. Letzterer wirkte bereits bei der ersten Verfilmung als Roman Schtamm mit. In der Hollywood-Verfilmung werden die Nazis als von Natur aus böse dargestellt, wie es im Buch nicht der Fall ist. Auch wurde der Schluss verändert. In der Neuverfilmung stirbt Jakob Heym als Märtyrer, indem er durch die Nazis erschossen wird. Er widerruft seine Nachricht von den Russen nicht. (siehe Jakob der Lügner (1999))


    Iris Berben hat ein paar Sätze zu dem Film geäußert: https://youtu.be/bgnNlExdJdA

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 84 von 80 - geschafft :)

  • Dieses Buch hat mich nun durch seine tiefe Menschlichkeit sehr beeindruckt. Natürlich gibt es das Hauptthema um die vermeintlichen Nachrichten herum, die aufbauen sollen. Berührend finde ich dann auch besonders das Verhältnis von Jakob und Lina... Ich war beschämt, bis vor Kurzem etwas ganz anderes mir unter diesem Roman vorgestellt zu haben (mir irgendwas ins falsche Ohr gekommen). Nein, es ist kein Galgenhumor, aber tiefes Mitfühlen schlechthin, ein "lachendes", tröstendes Auge - trotz alledem.


    Erinnerte Euch dieses Buch nicht von Ferne an Roberto Benigni...?


    Lesen!

  • bis vor Kurzem etwas ganz anderes mir unter diesem Roman vorgestellt zu haben

    Das ging mir genau so. Ich habe das Buch dann aus Neugierde gelesen, als einer unserer Buben es als Klassenlektüre lesen "musste" und sehr angetan war.

    Ein wirklich zutiefst menschliches Buch über die Hoffnung.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).