Sie kam aus Mariupol

Buch von Natascha Wodin

Zusammenfassung

Inhaltsangabe zu Sie kam aus Mariupol

«Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe» - Natascha Wodins Mutter sagte diesen Satz immer wieder und nahm doch, was sie meinte, mit ins Grab. Da war die Tochter zehn und wusste nicht viel mehr, als dass sie zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war. Wieso lebten sie in einem der Lager für «Displaced Persons», woher kam die Mutter, und was hatte sie erlebt? Erst Jahrzehnte später öffnet sich die Blackbox ihrer Herkunft, erst ein bisschen, dann immer mehr. «Sie kam aus Mariupol» ist das außergewöhnliche Buch einer Spurensuche. Natascha Wodin geht dem Leben ihrer ukrainischen Mutter nach, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als «Ostarbeiterin» nach Deutschland verschleppt wurde. Sie erzählt beklemmend, ja bestürzend intensiv vom Anhängsel des Holocaust, einer Fußnote der Geschichte: der Zwangsarbeit im Dritten Reich. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror miterlebte, bevor sie mit ungewissem Ziel ein deutsches Schiff bestieg, tritt wie durch ein spätes Wunder aus der Anonymität heraus, bekommt ein Gesicht, das unvergesslich ist. «Meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter», kann Natascha Wodin nun zärtlich sagen, und auch für uns Leser wird begreifbar, was verlorenging. Dass es dieses bewegende, dunkel-leuchtende Zeugnis eines Schicksals gibt, das für Millionen anderer steht, ist ein literarisches Ereignis. «Das erinnert nicht von ungefähr an die Verfahrensweise, mit der W. G. Sebald, der große deutsche Gedächtniskünstler, verlorene Lebensläufe der Vergessenheit entriss.» (Sigrid Löffler in ihrer Laudatio auf Natascha Wodin bei der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises 2015)
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Bewertungen

Sie kam aus Mariupol wurde insgesamt 15 mal bewertet. Die durchschnittliche Bewertung liegt bei 3,8 Sternen.

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Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Sie kam aus Mariupol

    Nach den Gräueln des 2. Weltkriegs gefragt, kommen uns im Allgemeinen Judenvernichtung, Holocaust und KZ in den Sinn; die ausländischen Zwangsarbeiter vor allem aus Osteuropa sind weniger im Bewusstsein, auch wenn man Schindlers Liste kennt.
    Die Mutter der Autorin gehörte zu denen, die zwar überlebt hatten, ihr Leben aber nicht retten konnten, denn die seelischen Wunden waren zu groß, um an eine Zukunft zu glauben oder mit anderen Menschen in sozialen Gefügen zu leben.
    Im ersten Teil erzählt Wodin über ihre Recherche, denn lange Zeit glaubte sie, der Zugang zur Vergangenheit ihrer Familie sei für immer zugeschüttet durch die Dauer, die politischen Umstände und Wandlungen und die chaotischen Zustände nach Stalinismus und Kaltem Krieg. Es erscheint tatsächlich wie eine lange Kette von Zufällen und glücklichen Fügungen, dass es ihr gelingt, auf die Spur nicht nur ihrer Mutter, sondern auch der noch in Russland lebenden Verwandten zu kommen. Plötzlich kennt sie ihre Wurzeln, und das erlebt sie beinahe wie ein Wunder.
    Im Nachhinein ist es klar, warum das Buch sich in weiten Teilen mit der Recherche beschäftigt und diejenigen ihrer Familie zu Wort kommen lässt, die entweder noch leben und sich erinnern oder die etwas Schriftliches hinterlassen haben. Denn das, was die Autorin an gesicherten Informationen über ihre Mutter findet, ist immer noch denkbar gering. Doch jetzt ist die Mutter eingebettet in eine Familie, deren Mitglieder Namen und ein Leben hatten, und sie bekommt ihre Vergangenheit teilweise zurück.
    Ich muss zugeben, dass ich mich mit den Teilen des Buches, die sich nur mit der Spurensuche beschäftigen, schwerer getan habe als mit den konkreten Passagen über das Leben der Mutter und Wodins eigenen Erinnerungen.
    Sprachlich gesehen hat man es mit diesem Buch mit einer einfachen Lektüre zu tun. Die Autorin pflegt einen etwas gehobenen Aufsatzstil, flüssig zu lesen, aber ohne spezielle oder individuelle Züge.
    Trotzdem halte ich „Sie kam aus Mariupol“ für ein wichtiges autobiographisches Zeitdokument.
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  • Rezension zu Sie kam aus Mariupol

    Über die Autorin:
    Natascha Wodin, 1945 als Kind verschleppter sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Nachdem sie eine Sprachenschule absolvierte, übersetzte sie aus dem Russischen und lebte zeitweise in Moskau. Auf ihr Romandebüt "Die gläserne Stadt", das 1983 erschien, folgten etliche Veröffentlichungen, darunter die Romane "Einmal lebt ich", "Die Ehe" und "Nachtgeschwister". Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, für "Sie kam aus Mariupol" wurde ihr der Alfred-Döblin-Preis und der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen. Natascha Wodin lebt in Berlin und Mecklenburg.
    (Quelle: Amazon)
    Buchinhalt:
    "Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe" - Natascha Wodins Mutter sagte diesen Satz immer wieder und nahm doch, was sie meinte, mit ins Grab. Da war die Tochter zehn und wusste nicht viel mehr, als dass sie zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war. Wieso lebten sie in einem der Lager für "Displaced Persons", woher kam die Mutter, und was hatte sie erlebt? Erst Jahrzehnte später öffnet sich die Blackbox ihrer Herkunft, erst ein bisschen, dann immer mehr.
    (Quelle: Amazon, gekürzt)
    Das Buch umfasst 358 Seiten gegliedert in 4 Teile. Angehängt sind eine kurze Danksagung, ein Quellenverzeichnis sowie ein Fotonachweis.
    Meine Meinung:
    Die spannende Geschichte einer Spurensuche und der Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte. Die Autorin, aufgewachsen ohne klare Wurzeln, ohne Wissen um die eigene Familie, mit nichts als ein paar punktuellen Erinnerungen und drei Fotografien ausgestattet, beginnt spontan mit der Suche nach ihrer Mutter im Internet. Was als verrückte Idee beginnt – die Suche nach Spuren einer Frau mit einem Allerweltsnamen, die lange vor Erfindung des WWW verstarb – bekommt eine unglaubliche Eigendynamik und endet bei der Erfüllung einer tiefen Sehnsucht: die Spuren sind verfolgbar, eine Familie wird gefunden, die eigene Geschichte entdeckt. Doch wie so oft sind Wunscherfüllungen eine Wundertüte: nicht alles, was man erfüllt bekommt, möchte man in dieser Form auch haben, und so hält die Familiengeschichte einige Überraschungen bereit.
    Die eigentliche Spurensuche bis hin zum letzten Fund, der schlussendlich den Zugang zur Geschichte der Mutter ermöglicht, umfasst mit dem ersten Kapitel beinah die Hälfte des Buches. Aber die Autorin hat mich in diesem Kapitel mitfiebern lassen, wenn sie wieder eine neue Spur entdeckt und verfolgt, wenn ihr Helfer im russischen Internet ihr unter die Arme greift, wenn sie zweifelt, fast verzweifelt, jubelt und hofft, dann aber auch fassungslos vor so mancher Entdeckung steht.
    Die anderen drei Kapitel sind der Geschichte ihrer Tante, ihrer Mutter bis nach Ende des 2. Weltkriegs und dann ihrer Familie bis zum Tod der Mutter gewidmet. Am Ende hat die Autorin ihre Familie gefunden und sich auch versöhnen können mit der Mutter, die ihr stets irgendwo fremd war in ihrer Art, ihre „arme, kleine, verrückt gewordene Mutter“. Sie findet in der Familiengeschichte die Erklärung dafür, warum ihre Mutter so war wie sie sie erinnert, und warum sie nach den fürchterlichen Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend während Stalins Terror sowie den fürchterlichen Erlebnissen als Ost-Zwangsarbeiterin in Deutschland nicht mehr mit dem Leben fertig wurde.
    In ihrer Erzählung wahrt die Autorin für mein Gefühl immer eine gewisse Distanz, sei es bei ihren eigenen Gefühlen während der Suche nach ihrer Mutter, sei es bei der Schilderung der unfassbaren Zustände während der Terrorzeit in der Ukraine oder gegen Ende die genauso unfassbaren Zustände als Zwangsarbeiter in einem der gefürchtetsten Arbeitslager überhaupt. Ob sie diese Distanz für sich als Schutz wahrt oder um es dem Leser leichter zu machen, kann ich nicht beurteilen. Aus dem Bauch heraus tendiere ich zu ersterem. Aber auch diese Distanz hat nicht verhindern können, dass ich manches Mal schlucken musste bei den Schilderungen, obwohl ich bereits sehr viel über diese Thematiken gelesen habe.
    Die Erzählsprache ist leicht, man kommt sofort in die Geschichte hinein und ist gefesselt, aber stilistisch finde ich sie nicht irgendwie besonders oder herausragend. Deswegen kann ich die Aussage „Dass es dieses bewegende, dunkel-leuchtende Zeugnis eines Schicksals gibt, das für Millionen anderer steht, ist ein literarisches Ereignis“ wie sie auf Amazon zu lesen ist, so nicht unterschreiben. Das Buch ist ganz sicher ein wichtiges Zeugnis für Millionen gleich gelagerter Schicksale in Ost und West, aber rein literarisch betrachtet ist es für mich kein Ereignis. Trotzdem kann ich es jedem empfehlen, der sich ebenso wie ich für Themen wie diese interessiert.
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Ausgaben von Sie kam aus Mariupol

Hardcover

Seitenzahl: 368

Taschenbuch

Seitenzahl: 368

E-Book

Seitenzahl: 347

Besitzer des Buches 25

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